Des Mauren letzter Seufzer (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
624 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31283-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Des Mauren letzter Seufzer - Salman Rushdie
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»Ein Feuerwerk der Fantasie« Nadine Gordimer
Moraes Zogoiby, genannt Moor, ist der letzte Spross einer indischen Gewürzhändlerdynastie - und ein erfahrener Geschichtenerzähler. Auf seinem Weg von Indien ins spanische Exil erzählt er die Geschichte seiner Familie. Eine Geschichte, die von erbitterten Fehden, von unheilvollen Verwünschungen und Leidenschaften, vom Glanz und Untergang eines Familienimperiums handelt und gleichzeitig eine Chronik des modernen Indiens ist.

Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)

  • Fabelhaft: Rushdie entführt in eine wunderbar fremde, farbige Welt und schreibt gleichzeitig eine Chronik Indiens
  • »Ein Autor mit atemberaubendem Einfallsreichtum.« (Financial Times)
  • »Ein literarisches Feuerwerk, das die ungebrochene Erzählfreude des Autors unter Beweis stellt.« (Der Tagesspiegel)
  • »Ein Triumph.« (New York Times)


Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

2


Mit dreizehn Jahren begann meine Mutter Aurora da Gama während der Anfälle von Schlaflosigkeit, mit denen sie eine Zeitlang allnächtlich geschlagen war, barfuß in dem weitläufigen, duftenden Haus ihrer Großeltern auf Cabral Island umherzugeistern und bei diesen nächtlichen Odysseen unweigerlich sämtliche Fenster zu öffnen – zuerst die inneren Insektenfenster, deren feinmaschiger Draht das Haus vor Mücken-Moskitos-Fliegen schützte, dann die bleiverglasten Flügelfenster selbst und schließlich die geschlitzten Holzläden dahinter. Woraufhin die sechzigjährige Matriarchin Epifania – deren persönliches Moskitonetz im Laufe der Jahre eine Anzahl kleiner, aber folgenschwerer Löcher bekommen hatte, die zu bemerken sie zu kurzsichtig oder zu geizig war – allmorgendlich durch juckende Bisse auf ihren knochigen, bläulichen Unterarmen erwachte und dann beim Anblick der Fliegen, die ihr von der Zofe Tereza (diese ergriff auf der Stelle die Flucht) ans Bett gebrachtes Tablett mit dem Frühstückstee und den süßen Keksen umschwirrten, einen spitzen Schrei ausstieß. Anschließend verfiel sie in sinnloses, hektisches Kratzen und Klatschen und warf sich wie wild in ihrem üppigen Bett aus Schiffs-Teakholz herum, wobei sie nicht selten Tee sowohl auf die spitzenbesetzte Baumwollbettwäsche als auch auf ihr weißes Musselinnachthemd mit dem hohen, gerüschten Kragen verschüttete, der ihren ehemals schwanengleichen, inzwischen aber faltigen Hals verbarg. Und während die Fliegenklatsche in ihrer Rechten sauste und pfiff, während die langen Nägel ihrer Linken den Rücken auf der Suche nach weiteren, schwerer zu erreichenden Moskitostichen durchpflügten, rutschte die Nachthaube von Epifania da Gamas Kopf und enthüllte einen Wust langer, wirrer weißer Haarzotteln, durch die man stellenweise (o weh!) nur allzu deutlich die gefleckte Kopfhaut schimmern sah. Sobald die junge Aurora, die an der Tür lauschte, erkannte, daß die Lautstärke der Wutgeräusche ihrer verhaßten Großmutter (Flüche, zerbrechendes Porzellan, das ergebnislose Patschen der Fliegenklatsche, das zornige Summen der Insekten) dem Höhepunkt entgegenging, setzte sie ihr süßestes Lächeln auf und stürmte mit einem fröhlichen Morgengruß ins Schlafzimmer der Matriarchin, wohl wissend, daß die ungezügelte Wut der Mutter sämtlicher da Gamas von Cochin durch das Erscheinen dieser jugendfrischen Zeugin ihrer altersbedingten Hilflosigkeit sogleich alle Grenzen sprengen würde. Mit wild zerzausten Haaren kniete Epifania, die wie ein zerbrochener Zauberstab flatternde Fliegenklatsche in der erhobenen Hand, auf ihren beschmutzten Laken und suchte zum geheimen Entzücken des jungen Mädchens ein Ventil für ihre Wut, indem sie wie eine der Hexen aus Macbeth, eine Rakshasa oder Banshee auf die zur Unzeit eindringende Aurora einbrüllte.

»Oho-ho, Mädchen, hast du mich erschreckt! Eines Tages wirst du mir noch das Herz brechifizieren.«

So kam es, daß der jungen Aurora da Gama die Idee, ihre Großmutter zu ermorden, direkt von den Lippen des in Frage kommenden Opfers eingegeben wurde. Sie begann Pläne zu schmieden, doch die immer makabrer werdenden Phantasien von Giften und schroffen Abgründen wurden ständig von pragmatischen Problemen durchkreuzt, so etwa der Unmöglichkeit, in den Besitz einer Kobra zu gelangen, um sie in Epifanias Bett zu legen, oder der glatten Weigerung der alten Vettel, ein Terrain zu betreten, das, wie sie es ausdrückte »rauf- und runterkippt«. Und obwohl Aurora sehr gut wußte, wo sie eines schönen scharfen Küchenmessers habhaft werden konnte, und sogar sicher war, daß sie längst stark genug sein würde, Epifania den Hals umzudrehen, entschied sie sich auch gegen diese Möglichkeiten, weil sie sich nicht schnappen lassen wollte und ein allzu offensichtlicher Mord unbequeme Fragen nach sich gezogen hätte. Da sich Aurora also keine Gelegenheit zu einem perfekten Verbrechen bot, fuhr sie fort, die perfekte Enkelin zu spielen, sann aber insgeheim weiter auf Böses, wobei ihr kein einziges Mal der Gedanke dämmerte, daß in ihren Überlegungen weit mehr als nur ein bißchen von Epifanias Skrupellosigkeit steckte.

»Geduld ist eine Tugend«, ermahnte sie sich. »Ich werde einfach abwarten.«

Vorerst einmal fuhr sie fort, während der schwülen Nächte die Fenster zu öffnen, und warf zuweilen auch wertvollen Zierat hinaus, lauter geschnitzte, rüsselnasige Figurinen, die auf den klatschenden Wellen der Lagune unterhalb der Mauern der Inselvilla davontrieben, oder kunstvoll bearbeitete Elefantenstoßzähne, die natürlich spurlos versanken. Tagelang hatte die Familie keine Ahnung, was sie von diesen Ereignissen halten sollte. Epifania da Gamas Söhne, Auroras Onkel Aires – wie Irish ausgesprochen – sowie ihr Vater Camoens – Camonsh ausgesprochen, aber nasal, wie bei den Franzosen –, mußten beim Erwachen feststellen, daß mutwillige nächtliche Brisen Buschhemden aus ihren Schränken und Geschäftspapiere aus den Ein- und Ausgangskörben geweht, daß sanfte Winde mit geschickten Fingern die Verschnürung der Probenbeutel gelöst hatten, Jutesäckchen mit großen und kleinen Kardamomen, Karriblättern und Cashewnüssen, die wie Wachsoldaten entlang der schattigen Korridore des Büroflügels standen, so daß Samen von Griechisch Heu und Pistazien weit über den abgetretenen, alten Bodenbelag aus Kalkstein, Holzkohle, Eiweiß und anderen, längst vergessenen Ingredienzen verstreut waren und der Duft der Gewürze, der in der Luft lag, die Matriarchin quälte, weil sie im Laufe der Jahre gegen die Quellen des Familienvermögens immer allergischer geworden war.

Und während die Fliegen durch die geöffneten Drahtfenster hereinsummten und die widrigen Windböen durch die geöffneten Bleiglasfenster ins Haus drangen, kam durch die geöffneten Holzläden alles herein, was es sonst noch gab: der Staub und der Lärm der Schiffe im Hafen von Cochin, die Nebelhörner der Frachter und Schleppdampfer, die derben Scherze der Fischer und das pochende Glühen ihrer quallenverbrannten Arme, das Sonnenlicht, so scharf wie ein Messer, die schwüle Hitze, die jeden ersticken konnte wie ein nasses, fest um den Kopf geknotetes Tuch, die Rufe der Händler in ihren Booten, die weithin vernehmbare Traurigkeit der unverheirateten Juden am anderen Ufer in Mattancheri, die Drohungen der Smaragdschmuggler, die Machenschaften rivalisierender Geschäftsleute, die zunehmende Nervosität der britischen Kolonie in Fort Cochin, die Lohnforderungen der Angestellten und der Plantagenarbeiter in den Spice Mountains, die Berichte von Unruhe stiftenden Kommunisten und der Politik der Kongreß-Wallahs, die Namen Gandhi und Nehru, Gerüchte von Hungersnöten im Osten und Hungerstreiks im Norden, die Gesänge und Trommelrhythmen der Geschichtenerzähler und das schwere, rollende Donnern der auflaufenden Gezeitenströmung der Geschichte, die sich an der brüchigen Mole von Cabral Island brach. »Dieses primitive Land, o Jesus!« fluchte Onkel Aires beim Frühstück, zu dem er bereits in Gamaschen und Hut erschien. »Ist die Welt da draußen vielleicht nicht dreckschmutzig genug, eh, eh? Was für ein mieser Idiot, was für ein rücksichtsloser Mistkerl hat denn das alles wieder hereingelassen? Ist dies ein anständiges Haus, beim Zeus, oder ein Scheißhaus – entschuldigt meine Ausdrucksweise – im Basar?«

An jenem Morgen begriff Aurora, daß sie zu weit gegangen war, denn ihr heißgeliebter Vater Camoens, ein kleiner, spitzbärtiger Mann in einem schreiend bunten Buschhemd, der inzwischen schon einen Kopf kleiner war als seine Bohnenstange von Tochter, ging mit ihr zu der kleinen Mole und vertraute ihr – vor Begeisterung und Aufregung so sehr zappelnd, daß seine Silhouette vor der unglaublichen Schönheit und der merkantilen Geschäftigkeit der Lagune wie eine Märchenfigur wirkte, wie ein Rumpelstilzchen, das auf einer Waldlichtung tanzt, oder wie ein guter Dschinn, der aus einer Lampe entwichen ist – in geheimnisvollem Flüsterton seine große, herzbewegende Erkenntnis an. Nach einem Dichter benannt und mit einem verträumten Naturell begabt (leider aber nicht mit dem entsprechenden Talent), wies Camoens sie schüchtern auf die Möglichkeit einer Geistererscheinung hin.

»Ich glaube«, erklärte er seiner sprachlosen Tochter, »ich glaube fest daran, daß deine geliebte Mummy zu uns zurückgekehrt ist. Du weißt doch, wie sehr sie die Meeresbrisen geliebt, wie sehr sie mit deiner Großmutter um frische Luft gerungen hat. Und nun springen wie durch Magie die Fenster auf. Und außerdem, mein liebes Töchterchen, sieh dir doch an, welche Gegenstände verschwinden! Nur solche, die sie immer gehaßt hat. Verstehst du? Aires’Elefantengötter, hat sie immer gesagt. Und prompt ist nun diese kleine Ganesha-Sammlung deines Onkels verschwunden. Die und das Elfenbein.«

Epifanias Elefantenstoßzähne. Zu viele Elefanten, die auf diesem Haus lasten. Die verblichene Belle da Gama hatte mit ihrer Meinung nie hinterm Berg gehalten. »Ich glaube, wenn ich heute nacht aufbleibe, darf ich vielleicht noch einmal ihr liebes Gesicht erblicken«, vertraute Camoens sehnsüchtig seiner Tochter an. »Was meinst du? Die Botschaft ist doch unverkennbar. Warum wartest du nicht mit mir? Du und dein Vater – sind wir nicht in derselben Situation? Er vermißt seine Missis, und du empfindest Gram über deine Mam.«

Aurora errötete vor Unbehagen und rief: »Aber ich glaube wenigstens nicht an diese idiotischen Geister! « Und lief ins Haus zurück, unfähig, die Wahrheit zu bekennen, die da lautete, daß sie selbst das Phantom ihrer verblichenen Mutter war, deren Handlungen ausführte, mit deren verstummter Stimme sprach; daß die...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2023
Übersetzer Gisela Stege
Sprache deutsch
Original-Titel The Moor's Last Sigh
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Die satanischen Verse • eBooks • Erzähler • Exil • Familie • Familienimperium • Fantasy • friedenspreises des deutschen buchhandels • Indien • Leidenschaft • Mitternachtskinder • Neuerscheinung • Reise • Roman • Romane • Spanien • Taschenbuch • Verwünschung • victory city
ISBN-10 3-641-31283-3 / 3641312833
ISBN-13 978-3-641-31283-1 / 9783641312831
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