Il Milione (eBook)
432 Seiten
Manesse Verlag
978-3-641-30724-0 (ISBN)
Jubiläumsedition zum Marco-Polo-Jahr 2024, in dem sich der Todestag des Autors zum 700. Mal jährt
«Ein Glücksfall in mehr als zweihundertdreißig meist kurzen Kapiteln, eine Schatzkammer aus dem späten Mittelalter.» Tilman Spengler
Dieses unerhört lebenspralle Buch stammt aus einer Epoche, als die Welt noch voller Wunder war. Und von diesen Wundern, die dem Abenteurer Marco Polo auf seiner Asienreise entlang der Seidenstraße begegnen, berichtet er seinen Zeitgenossen in Europa in enthusiastischer Fülle und Detailverliebtheit. So entsteht Seite um Seite ein Kultur- und Sittenbild der bereisten Städte und Reiche, die so klangvolle Namen tragen wie Catai, Sapurgan, Balc, Sindufu, Quardandan, Mien oder Bangala. Ob sagenhaft mächtige Herrscher, würdevolle Tempeltänzerinnen, stolze Palastanlagen, kostbare Geschmeide und Gerätschaften, üppig geschmückte Bogen, Köcher, Sättel und Zaumzeug, nie gesehene exotische Tiere oder heidnische Gebräuche, Marco Polos legendäres Weltbuch strotzt nur so von fantastischen Reiseeindrücken, Anekdoten und Kuriositäten. Und als Handelsreisender hat er auch ein Auge für das Postwesen, den Geldverkehr, die Organisation des öffentlichen Lebens bei Tataren, Mongolen und Chinesen.
Tilman Spengler nennt Marco Polos Reisebericht in seinem Nachwort einen «Glücksfall in mehr als zweihundertdreißig meist kurzen Kapiteln, von mal abenteuerlichen, mal auch nur den Kaufmann bewegenden Vorfällen und Gegebenheiten, ein literarisches Kabinett, eine Schatzkammer aus dem späten Mittelalter». Die vorliegende deutsche Version, kundig übersetzt aus den ältesten erhaltenen Quellen, aus dem Altfranzösischen und Lateinischen (der genuesische Urtext ist verschollen), versehen mit einem exklusiven Kommentar und vielen zweckdienlichen Erläuterungen, wird als Jubiläumsedition besonders prachtvoll gesetzt und ausgestattet - ein Muss nicht nur für alle Fernreisenden.
Das Einbandmotiv und die Farbtafeln aus dem Innenteil der Manesse-Jubiläumsausgabe stammen aus dem mittelalterlichen Codex Bodley 264. In Jehan de Grises historischen Miniaturen mit grandioser Farbpalette offenbart sich ein detailgenaues und vielfältiges Abbild der «Wunder der Welt».
Marco Polo wurde um 1254 in Venedig geboren. Bereits 1271 reiste er mit seinem Vater, einem Kaufmann, nach China. Dort gewann er das Vertrauen des Herrschers Kublai Khan und unternahm in dessen Auftrag ausgedehnte Reisen. Erst 1295 kehrte er nach Venedig zurück. Als Kommandant einer venezianischen Galeere nahm Marco Polo 1298 an einer Seeschlacht zwischen den Flotten Venedigs und Genuas teil und geriet in Gefangenschaft. Dort diktierte er die Geschichte seiner Reisen einem Mitgefangenen, Rustichello da Pisa, der sie unter dem Titel 'Il Milione' in einer französisch-italienischen Mischsprache niederschrieb. Nach seiner Entlassung kehrte Marco Polo 1299 nach Venedig zurück, wo er 1324 starb.
CXXXV
DIE STADT TANDINFU
Wir verlassen Ciangli und machen uns auf den Weg Richtung Süden. Während sechs Tagen reisen wir durch prächtige Städte und reiche Dörfer. Die heidnische Bevölkerung verbrennt ihre Toten. Überall gilt das Papiergeld. Das Gebiet ist dem Khan zu Abgaben verpflichtet. Das Volk ist im Handel und Gewerbe tätig und hat das, was es zum Leben braucht, im Überfluss. Über die Strecke ist sonst nichts Außergewöhnliches zu vermerken, und deshalb erzähle ich etwas von Tandinfu.
Tandinfu ist eine Riesenstadt und war früher ein Königreich. Der Großkhan hat sie mit Waffengewalt erobert. Sie ist aber immer noch die edelste Stadt in der ganzen Gegend. Vermögende Kaufherren betreiben den Handel im Großen. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus ob dem Reichtum an Seidenstoffen. Die Bürger haben gepflegte, schattige Gärten voll süßer Früchte. Ihr müsst euch merken: Unter der Oberhoheit von Tandinfu stehen elf kaiserliche Städte, das will heißen besonders schöne und wohlhabende Städte. Es sind Handelsplätze, wo große Geschäfte getätigt werden; denn die Seidenindustrie blüht sondergleichen.
Und nun meine Geschichte: Im Jahre 1272 nach Christi Geburt schickte der Großkhan einen seiner Barone namens Liitam Sangon 304 mit achtzigtausend Reitern in diese Provinz mit dem Auftrag, Stadt und Land zu halten und zu schützen. Liitam war schon eine Weile mit seiner Truppe im Land, da dachte er sich eine schändliche Treulosigkeit aus. Hört also zu: Er kommt mit den Mächtigen der Städte zusammen; er erläutert ihnen seinen Plan und überredet sie, sich gegen den Khan zu erheben. Das Volk der gesamten Provinz wird aufgestachelt; es rebelliert gegen den Kaiser, verweigert ihm den Gehorsam. Der Khan erhält Kunde von diesen Machenschaften. Er entsendet hunderttausend Reiter unter der Führung der Barone Aguil 305 und Mongatai 306. Und warum sollte ich daraus eine lange Geschichte spinnen? Ihr müsst einfach wissen, dass die zwei Heerführer mit ihren Mannen gegen den Aufrührer Liitam kämpften, der so viel Leute hatte rekrutieren können, dass er über ungefähr hunderttausend Reiter und zahlloses Fußvolk verfügte. Aber Liitam verlor Schlacht und Leben, und viele andere wurden ebenfalls getötet. Nach der Niederlage und dem Tod des Rebellen befahl der Kaiser zu untersuchen, wer am Verrate mitschuldig sei. Alle, denen eine Schuld nachgewiesen wurde, wurden grausam hingerichtet; die Übrigen traf keine Strafe, und diese waren von da an dem Kaiser treu ergeben.
[Doch jetzt will ich über die Mädchen in Catai reden. Diese sind, wie nirgends sonst, bescheiden und sittsam. Sie hüpfen und hopsen nicht herum, sie tanzen nie, sie tändeln nicht, sie sitzen nicht am Fenster und gucken den Vorbeigehenden nach, und sie stellen sich auch nicht selbst zur Schau. Allem unzüchtigen Reden verschließen sie ihr Ohr. Keinem Vergnügen, keinem Feste jagen sie nach. Wenn es schon geschieht, dass sie sich an irgendeinen anständigen Ort begeben, sei es zum Tempel ihrer Götter, sei es ins Haus ihrer Verwandten, dann gehen sie in der Begleitung ihrer Mütter. Unterwegs werfen sie keine unzüchtigen Blicke auf die Leute. Sie tragen auf ihrem Kopfe ein entzückendes Häubchen, das ihnen die Sicht nach oben verwehrt. Stets senken sie die Augen, sie sehen nichts als den Boden und ihre Füße. In Gegenwart der Familienältesten sind sie voller Ehrfurcht, kein Wort entschlüpft ihnen, sie sprechen nur, falls sie gefragt werden. Sie halten sich in ihren Kammern auf und beschäftigen sich dort. Ihren Vätern, den Brüdern und andern Familienmitgliedern zeigen sie sich selten, und einem Freier schenken sie kein Gehör.
Über die Jünglinge ist dasselbe zu erzählen, auch sie würden nie in Anwesenheit von Älteren sprechen, außer man fordere sie dazu auf. Was soll ich noch Worte verlieren! So groß ist ihre Scheu und Zurückhaltung, ich meine unter Familienmitgliedern und Verwandten, dass nie zwei zusammen ein kaltes oder heißes Bad betreten würden.
Wenn jemand seine Tochter verheiraten will oder wenn er um ihre Hand gebeten wird, bürgt der Vater für die Unberührtheit des Mädchens. Unter dieser Voraussetzung schließt er mit dem Freier einen Vertrag. Sollte sich erweisen, dass die Jungfräulichkeit schon verloren ist, dann gilt die Vereinbarung nicht. Sobald der Kontrakt aufgesetzt und feierlich unterschrieben ist, wird die Braut zur Untersuchung ins Bad geführt. Die Mütter und Frauen beider Parteien und einige von ihnen ausgewählte Matronen erwarten sie dort. Mit einem Taubenei haben die Matronen zu prüfen, ob das Mädchen unangetastet ist. Sind aber die Frauen von der Seite des Bräutigams mit dieser Probe nicht einverstanden, weil sie sagen, das weibliche Geschlecht könne sich wegen eines Medikamentes zusammenziehen, dann wickelt eine der Matronen ein feines weißes Leinentüchlein um ihren Finger und führt ihn sanft in die Scheide ein. Das Tüchlein wird mit jungfräulichem Blut befleckt. Das jungfräuliche Blut hat die Eigenschaft, dass es mit gar keinem Mittel ausgewaschen werden kann. Verschwindet der Fleck, ist das ein Zeichen von Unkeuschheit. Sobald die Untersuchung vorbei und die Unberührtheit der Braut erwiesen ist, ist der Ehevertrag gültig. Im andern Falle gilt er nicht, und der Vater hat die vorher festgesetzte Strafe zu bezahlen. Ihr müsst noch wissen: Zur Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit haben sich die Mädchen einen sehr zierlichen Gang angewöhnt. Sie setzen einen Fuß nie mehr als einen Fingerbreit vor den andern; 307 denn das Jungfernhäutchen kann durch eine mutwillige Bewegung verletzt werden. Merkt euch wohl: Diese strengen Sitten werden in ganz Catai befolgt. Die Tataren kümmern sich nicht um solche Feinheiten; ihre Frauen und Töchter steigen aufs Pferd, und da ist es wohl möglich, dass sie ihre Reinheit verlieren. In Mangi gelten die gleichen Sitten wie in Catai.
In Catai herrscht noch ein weiterer Brauch, worüber ich euch unterrichten möchte. Die Heiden kennen vierundachtzig Götter 308, jeder hat seinen eigenen Namen. Der oberste Gott hat jedem eine besondere Fähigkeit verliehen. Einer hat die Gabe, Verlorenes wiederzufinden; einer ist zuständig für günstiges, fruchtbringendes Saat- und Erntewetter; einer überwacht die Herden; und in diesem Sinne hat jeder eine Beschützer- oder Abwehrkraft. Jeder Gott wird bei seinem Namen gerufen, und von jedem weiß man genau, wie er ist und was er vermag. Diejenige Gottheit, die Verlorenes wiederfindet, wird in zwei fein geschmückten Holzstatuetten von der Gestalt zwölfjähriger Knaben dargestellt. 309 Sie werden in ihrem Tempel von einer alten Frau behütet. Wenn jemandem irgendetwas abhandengekommen ist, sei es, dass es ihm gestohlen wurde, sei es, dass er es verlegt hat, sei es, dass ihm etwas aus welchem Grunde auch immer nicht mehr erreichbar ist, dann geht er selbst, oder er schickt jemanden zu der Tempelhüterin mit der Bitte, sie möge die Gottheit fragen, wo das Vermisste sei. Die Frau fordert als Erstes den Bittsteller auf, Weihrauch zu stiften. Unverzüglich wird er dies tun. Nach dem Weihräuchern erkundigt sich die Alte nach dem Verlust. Der Mann erklärt ihr, wie es sich damit verhält. Danach antwortet die Frau: «Suche an der und der Stelle, und du wirst auf die Sache stoßen.» Oder für den Fall, es ist etwas gestohlen worden, erwidert die Frau: «Der und der hat es sich angeeignet. Sag ihm, er solle es dir zurückgeben. Weigert er sich, komme wieder zu mir, ich werde ihn dazu bringen, es zurückzuerstatten. Andernfalls werde ich dafür sorgen, dass er seine Hände und Füße verletzt, sich bei einem Sturz einen Arm oder ein Bein bricht oder ihm sonst ein Missgeschick zustößt. Nachher wird er überaus willig sein, das Diebesgut zurückzugeben.»
In Wirklichkeit geschieht es wie folgt: Jemand stiehlt etwas; er wird aufgefordert, es zurückzugeben; er weigert sich. Ist der Dieb eine Frau, wird sie sich in der Küche oder bei einem beliebigen Hausgeschäft in den Finger schneiden oder sich am Feuer verbrennen, oder sie wird sonst ein Übel erleiden. Ist der Dieb ein Mann, wird er sich in ähnlicher Art verletzen. Beim Holzhacken schneidet er sich in den Fuß; er bricht Arm und Bein oder ein anderes Körperglied. Das ist das Schicksal der Diebe. Seit das Volk dergleichen Erfahrungen gemacht hat, weigert sich niemand mehr, gestohlenes Gut zurückzuerstatten.
Es mag auch einmal vorkommen, dass die Götter nicht sofort antworten, dann sagt die Alte: «Die Geister sind abwesend. Geh fort und kehre zu der und der Stunde wieder! Inzwischen kommen sie zurück, und ich wiederhole die Frage.» Der Bittsteller erscheint erneut zur festgesetzten Zeit. Unterdessen haben die Geister der Frau ihre Weisung gegeben; sie haben sie geflüstert mit dünner, leiser Stimme, in einem fein zischenden Pfeifton. Die Alte drückt ihren Dank aus, sie hebt die Hände hoch, schlägt dreimal die Zähne aufeinander und spricht ungefähr diese Worte: «O Würde! O Heil! O Tugend!» Zu einem Bittsteller, dem einige Pferde fehlen, sagt sie entweder: «Geh an den und den Ort, und du wirst sie treffen.» Oder sie sagt zu ihm: «An der und der Stelle haben Reiter deine Pferde eingefangen und führen sie jetzt auf jener Strecke weg. Mach dich auf, eile ihnen nach, du wirst sie finden.» Und genau so, wie es die Tempelhüterin voraussagt, wird es sich ereignen.
Jeder, der etwas verloren hat oder dem etwas entwendet worden ist, gelangt wieder zu seinem Besitz. Sobald der Eigentümer sein Gut hat, opfert er in Demut und Ehrfurcht eine rechte Elle kostbaren Stoffes, sei es Linnen oder golddurchwirkte Seide. Und...
Erscheint lt. Verlag | 25.10.2023 |
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Nachwort | Tilman Spengler |
Übersetzer | Elise Guignard |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Il Milione |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Abenteuer • Anekdoten • Asien • bibliophile Ausstattung • Buchgeschenk • China • eBooks • Exotik • Fernost • Geschenk • Geschenkbuch • Geschenke für Frauen • Geschenke für Männer • hochwertige Ausstattung • Klassiker • Neuerscheinung • Neuheiten 2023 • Orient • Reisebericht • Seidenstraße • Venedig • Weihnachtsgeschenk • Weihnachtsgeschenke • weihnachtsgeschenke kleinigkeiten • Weltenbummler • Weltreise |
ISBN-10 | 3-641-30724-4 / 3641307244 |
ISBN-13 | 978-3-641-30724-0 / 9783641307240 |
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