Lehre mich zu leben (eBook)

Die Geschichte einer großen Liebe

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
208 Seiten
btb Verlag
978-3-641-24139-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lehre mich zu leben - Loekie Zvonik
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Die wahre Geschichte eines großen intellektuellen Liebespaares - für alle Leser*innen von Connie Palmen und dem Briefwechsel von Max Frisch und Ingeborg Bachmann
Hoch gelobt und mit dem renommierten VBVB-Debütpreis ausgezeichnet - die literarische Wiederentdeckung aus Flandern. Die flämische Autorin Loeki Zvonik erforscht in diesem literarisch anspielungsreichen autobiografischen Roman ihre enge Beziehung zu dem Autor Dirk De Witte, den sie im Roman Didier nennt. Beide lernen sich während ihres Germanistik-Studiums kennen, fühlen sich zueinander hingezogen, begeistern sich für Kafka, Rilke und Hesses ?Steppenwolf?. Es entwickelt sich eine intensive literarische Verbundenheit und Freundschaft, die bei Didier stark vom Thema Fremdsein und Freitod geprägt ist. Bis zuletzt versucht die Autorin, Didier von seinen Todesgedanken abzubringen. »Lehre mich zu leben« ist eine zarte, tabulose Rekonstruktion eines angekündigten Todes. Ohne jede moralische oder persönliche Anklage umkreist die Autorin die Beweggründe für den frühen Tod des Freundes.

Loekie Zvonik (Gent, 1935-Hasselt, 2000) war das Pseudonym von Hermine Louise Marie Zvonicek. Sie studierte deutsche Literatur an der Universität von Gent und schrieb drei Romane und zahlreiche Erzählungen. An der Universität lernte sie den Studenten Dirk de Witte kennen, der später ebenfalls Schriftsteller wurde und sich sein Leben lang intensiv mit den Themen Tod und Suizid in der Literatur beschäftigte. Im Dezember 1970 nahm er sich mit 36 Jahren das Leben. Zvoniks Roman wurde 1975, fünf Jahre nach dem Freitod De Wittes veröffentlicht. Hoch gelobt und mit dem renommierten VBVB-Debütpreis ausgezeichnet, wurde er 2018 in den Niederlanden neu aufgelegt und als bedeutende literarische Wiederentdeckung gefeiert.

1


Ihr Gesicht glich dem meines Freundes.
Heißt du Hermine?

Frei nach Hermann Hesse, Der Steppenwolf

Schon seit Jahren war ausgemacht, dass ich bei Großtante Louise wohnen würde. Ich zog in ihr Gästezimmer unterm Dach. Das Bett war voll mit bestickten Kissen, davor standen auf einem Strickteppich ein runder Tisch und ein Korbstuhl.

Dein Arbeitsplatz, sagte sie.

In der Mitte des Tisches hatte sie Bücher zurechtgelegt, Lamartine und Stendhal, das Schönste, was sie je kennengelernt habe.

Sie führte mich zur Wand gegenüber dem Fenster.

Dort hing in silbern gerahmten Fotografien ihr Leben. Louise mit tüll-, spitzen- und vogelbesetzten Hüten; in Wien, mit einem Fernglas vor den Augen; in einem Straßencafé in Spa; bei einem Spaziergang durch die Allee eines böhmischen Kurorts; in Salzburg, eine geblümte Teetasse in der Hand.

Ich habe das Ende des neunzehnten Jahrhunderts erlebt, sagte sie, und bin Menschen begegnet, von denen du noch hören wirst. Ich habe dir viel zu erzählen. Aber jetzt helfe ich dir erst mal beim Auspacken, im Kleiderschrank sind schon Lavendelsäckchen.

An der Haustür legte sie mir die Hand auf die Schulter und sagte: Ich habe immer versucht, mich nicht aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Damit ist man gut beraten. So wappnest du dich gegen die anderen, die manchmal sehr anders sind als du selbst. Weißt du denn, wie du zur Universität findest?

Ich musste einfach nur den anderen folgen. Sie waren, wie ich, ihre Koffer losgeworden und nun an den Schreibblöcken oder den fast leeren Aktentaschen zu erkennen, die sie im Rhythmus ihrer Schritte an den Fingerspitzen hin und her baumeln ließen.

Ich hoffte, sie würden in die richtige Richtung gehen. Aber auf die Selbstsicheren unter ihnen durfte man sich nicht verlassen. Auf halbem Weg wurden sie von Gleichgesinnten lautstark in irgendeine Wirtschaft gelotst und waren für immer oder doch für sehr lange verschwunden.

Und wir, die Erstsemester, blieben dann stehen, sahen uns um, mussten an früher denken und überlegten, ob wir jemanden nach dem Weg fragen sollten.

Jaja, sagten die Bauarbeiter bei der Oper, hier um die Ecke, dann links, dann rechts, und dann das lange Gebäude.

Auf der Suche nach unseren Seminarräumen kamen wir durch Eingangsportale mit Abfalleimern, durch Innenhöfe mit Herbstrosen und schließlich durch weiße Gänge mit Ankündigungen hinter Glas und begegneten manchmal jemandem von früher, von letztem Jahr, aus der Oberstufe, und fragten nach dem Weg; aber dieser Jemand von früher studierte etwas anderes und musste zu einer anderen Fakultät in einem anderen Gebäude, und wir drehten uns noch einmal um, winkten, mit dem Versprechen, uns mal zu verabreden, rannten ausgetretene Stufen hinauf, lächelten verlegen, wenn jemand uns auswich oder etwas sagte oder zeigte, und dann waren wir tatsächlich da.

DEUTSCH stand auf dem Schild an der alten, braunen Tür, sie stand halb offen, dahinter ein weißer Seminarraum mit hohen Fenstern, langen Reihen schmaler Tische und vielen Stühlen.

Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, wer den ganzen Weg mit mir mitgerannt war. Er keuchte, als wäre er bereits viel länger auf der Suche als ich.

Hat der Professor schon angefangen? Oder können wir noch rein?, flüsterte er atemlos, und wir wagten einen vorsichtigen Blick ins Innere, willkommen, willkommen, rief jemand, und aus dem Gewimmel unserer zukünftigen Kommilitonen sahen wir das leere Katheder aufragen.

Wir mussten über Beine und Stühle steigen, bis wir endlich einen Sitzplatz gefunden hatten, einander genau gegenüber, wir sahen uns um und an die Decke, sahen die Kugellampen, die Bücherregale an den Wänden, die Ankündigung an der Tafel, dass der Professor eine halbe Stunde später eintreffen werde, und dann gaben wir das Umhersehen schließlich auf, legten Stifte und Schreibblock bereit und hörten uns die Lieder an, die jetzt angestimmt wurden, über wilde deutsche Husaren und ihre feurige Liebe, sogar im strengen Winter, sahen uns an und rätselten, wer der andere wohl war.

Wie heißt du?

Didier. Und du?

Hermine.

Es hämmerte an der Tür. Ein Mann im Arbeitskittel kam herein, sein Auftritt wurde mit tosendem Jubel quittiert; beschwichtigend breitete er die Arme aus.

Der Professor, verkündete er und trat ehrfürchtig einen Schritt zurück.

Und da spazierte eine kleine, zierliche Gestalt in den Raum, bahnte sich einen Weg nach vorn, blieb hier und da stehen und musterte mit ironischem Blick ein verwirrt aussehendes Etwas.

Der Professor stieg die Stufen zum Katheder hoch, legte seine Tasche an den Rand des Lesepults, stützte den Ellenbogen auf, das Kinn in die Handfläche, und guckte, bekam Rauch in die Augen, hustete, dass es ihn von Kopf bis Fuß schüttelte, legte die Zigarette dann doch lieber weg und sprach Worte, die ich nicht verstand.

Wir sollen was vorbereiten, flüsterte Didier mir zu, einen kleinen Vortrag über einen Autor oder einen Text, den wir gelesen haben.

Der, die, das, dachte ich, und Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind. Goethe, über einen Vater, der in der Nacht mit seinem todkranken Kind zum Arzt hetzt. Es ist nebelig. Die alten grauen Kopfweiden sehen aus wie Hexen oder Geister. Das Kind hat Angst. Vater, Vater, da ist der Erlkönig. Nein, nein, mein Kind. Es ist ein Nebelstreif.

Oder Die Weise von Liebe und Tod des jungen Kornetts, Rilke, darüber hatte ich vor drei Monaten meine Abiturprüfung gemacht. Und die Lehrerin, die danach gesagt hatte: Du willst in Gent studieren? Wie schön! Da wird es dir bestimmt gefallen.

Es war einmal ein junger, edler Held. Er trug die Fahne seines Regiments. Eines Abends machte die Kompanie bei einem fremden Schloss Halt. Dort wohnte eine einsame Gräfin. Der Held gewann sie augenblicklich lieb und verbrachte die Nacht mit ihr. Sie werden sich hundert neue Namen geben und einander alle wieder abnehmen, leise, wie man einen Ohrring abnimmt.

Doch dann bricht Feuer aus im Schloss.

Der junge Held rettet die Regimentsfahne aus den Flammen.

Der Morgen dämmert schon.

Da ist der Feind. Seine Säbel sind wie Springbrunnen in einem Rosengarten. Sechzehn Säbel durchbohren den jungen Helden. Für ihn gibt es keine Rettung mehr, denn Liebe und Tod sind eins.

Hoffentlich würde der Professor nicht fragen, was mit der Frau in dem brennenden Schloss passiert war. Hatte der Held sie in den Flammen zurückgelassen? Ich wusste es nicht mehr.

Aber vorläufig brauchte ich es auch nicht zu wissen, denn der Professor ging nach dem Alphabet vor, und selbst bei dieser Methode nahm er längst nicht jeden dran.

Bei W kam Didier an die Reihe.

In einem sehr schönen, langen Hauptsatz sagte er etwas mit Kunscht und schwieg dann abrupt, sah mich an und grinste.

Kunst, flüsterte ich, nicht Kunscht.

Kunst, wiederholte er, dann noch mal den Hauptsatz, und dann etwas über Liebe, worauf alle in schallendes Gelächter ausbrachen, nur an mir ging die Pointe vorbei.

Und dann, als wollte er sich für seinen missglückten Auftritt entschuldigen, stand er auf. Erst mal verhedderte er sich ziemlich in den Stuhlbeinen, hing dann am Ende halb über dem Tisch und war in Wirklichkeit bestimmt noch größer, als er so schon wirkte. Vorhin auf der Treppe hatte ich nicht darauf geachtet, wie er aussah. Seine Haare und die Augen waren sehr dunkel, und in seinem Kinngrübchen hätte meine Daumenkuppe Platz gehabt.

Ich hoffte, er würde endlich wegsehen, damit sein permanent auf mich gerichteter Blick den Professor nicht verfrüht dazu inspirierte, mich meine Geschichte erzählen zu lassen.

Geburtsdatum?, fragte der Professor. Von welcher Schule? Wohnort?

Sint-Amands, an der Schelde, sagte Didier.

Sehr gut, sagte der Professor und neigte den Kopf wie zur Segnung, als wäre jemand, der in Sint-Amands an der Schelde wohnte, prädestiniert für Segnungen, sehr gut, und dann fragte er in die Runde, wer denn im Scheldewasser bei Sint-Amands begraben liege.

Eine scheue Bewegung ging durch den Saal, wir versuchten, in der Anonymität unterzutauchen, uns hinter die unbekümmert weiteratmenden Studenten aus dem zweiten Jahr zu ducken, die mit den Lippen Worte formten. Emiel, Emiel.

Durch die hohen Fenster floss ein wenig Oktobersonne herein, über die zerkratzten Tische, die Kleider, die Gesichter, über die Blätter voller deutscher Wörter, voller Namen, voller Streichungen, über die Schriftsteller in den Regalen an den Wänden.

Also?, fragte der Professor und dachte vielleicht an unsere Kindheit in den Dörfern und Städten, in denen wir aufgewachsen waren, daran, wie wir in dieser für die meisten von uns neuen, fremden Stadt herumliefen, wie wir in ihr unsere Zimmer bezogen und den Weg zu ihren Versuchungen fanden.

Emile Verhaeren, sagte Didier.

Und was steht auf seinem Grabstein?

Ceux qui vivent d’amour, sagte Didier, dann wusste er nicht weiter.

Vivent d’éternité, sagte der Professor, und Didier nickte, jetzt sei es ihm wieder eingefallen und er werde es bestimmt nicht mehr vergessen.

Und das, wo doch Tauben um den Kirchturm in Sint-Amands an der Schelde flattern und die Häuser am Kai durch Hämmern und Motorenlärm hindurch das Wasser rauschen hören. Die Äpfel, die Birnen, die Wrackstücke im Wasser, die Taue, die Leinen, sie schwappen gegen Verhaeren. Und das, wo doch die Ufer von Mariakerke und...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2024
Übersetzer Ruth Löbner
Sprache deutsch
Original-Titel Hoe heette de hoedenmaker?
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2024 • Autobiografischer Roman • Biografie • Biographien • Connie Palmen • eBooks • Flandern • literarische Wiederentdeckung • Neuerscheinung • Österreich • Wien
ISBN-10 3-641-24139-1 / 3641241391
ISBN-13 978-3-641-24139-1 / 9783641241391
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