James Lee Burke, 1936 in Louisiana geboren, wurde bereits Ende der Sechzigerjahre von der Literaturkritik als neue Stimme aus dem Süden gefeiert. Nach drei erfolgreichen Romanen wandte er sich Mitte der Achtzigerjahre dem Kriminalroman zu, in dem er die unvergleichliche Atmosphäre von New Orleans mit packenden Storys verband. Burke wurde als einer von wenigen Autoren dreimal mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis für den besten Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet, zuletzt 2024 für »Im Süden«. 2015 erhielt er für »Regengötter« den Deutschen Krimi Preis. Er lebt in Missoula, Montana.
03
Zwei Deputy Sheriffs verfrachteten uns auf den Rücksitz eines Streifenwagens. Einer von ihnen reichte Spud ein Handtuch, das dieser sich auf den blutenden Mund drückte. Ich dachte, sie würden uns ins Krankenhaus fahren, aber dann sah ich die Lichter des Gefängnisses und rüttelte am Trenngitter. »Hey, die Wunde von meinem Freund muss genäht werden!«, rief ich.
»Die Notaufnahme ist voll bis unters Dach«, sagte der Fahrer grinsend mit einem Blick in den Rückspiegel. »Unfall auf dem Highway.«
Man steckte uns in benachbarte Zellen, die nur durch Gitter getrennt waren. Am nächsten Morgen wurden wir einzeln befragt. Im Verhörraum war ein D-Ring im Boden eingelassen, aber die Deputys ketteten mich nicht daran fest. Der für die Befragung zuständige Detective war groß und unpersönlich. Er hatte einen Fu-Manchu-Bart, trug Cowboystiefel und einen tief in die Stirn gezogenen Stetson mit schmaler Krempe.
»Mein Name ist Wade Benbow«, sagte er. »Welcher der drei sind Sie?«
»Aaron Holland Broussard.«
»Kannten Sie die Typen?«, sagte er.
»Nein, Sir.«
»Die kamen einfach so aus der Dunkelheit und haben Sie verdroschen? Ohne Vorwarnung?«
»Ja, Sir, ohne Warnung.«
»Keine Erklärung?«
»Keine.«
»Möglich, dass die Sie verwechselt haben?«
Ich antwortete nicht.
»Schwerhörig?«, sagte er.
»Ich denke, ich habe Ihre Fragen bereits beantwortet, Sir.«
Das Fenster war offen, draußen schüttete es. Ich konnte den Regen riechen, die kalten Backsteine und das in den Rinnen stehende Wasser. Der Himmel sah aus wie mit Rußtusche gemalt. Wie lautet die eine Lektion, die jeder Mensch hinter Gittern verinnerlicht? Richtig: Gehorsam ist eine Religion und man selbst ein Gläubiger. Ich blickte auf und schaute den Detective an. »Sir, ich weiß nicht, wer diese Burschen waren oder warum sie uns angegriffen haben. Das ist die Wahrheit.«
»Burschen?«, sagte er.
»Ja, Sir. Burschen, Männer, Kerle, Zeitgenossen.«
»Der Aufkleber auf Ihrer Stoßstange dürfte Sie recht unbeliebt bei einigen Leuten hier in der Gegend machen.«
»Das ist der Truck von Mr. Lowry. Ich habe mir den Aufkleber nicht angesehen.«
»Sie arbeiten für Jude Lowry?«
»Ja, Sir.«
»Ich hätte es wissen sollen.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte ich.
»Kein anderer Farmer in Colorado käme auf die Idee, einen Aufkleber der Landarbeitergewerkschaft auf seinen Truck zu pappen. Trägt Ihr Freund Cotton Williams eigentlich immer ein Messer bei sich?«
»Ja, Sir. Er braucht es für die Arbeit, um das Schnürband der Strohballen aufzuschneiden und solche Sachen.«
»Ein paar Gäste im Restaurant meinten, er habe das Messer gezogen, bevor die Prügelei losging.«
»Es war keine Prügelei, Sir«, sagte ich.
»Ihr Freund hat eine Akte. Ein Tötungsdelikt in Albuquerque. Noch haben wir aber nicht alle Einzelheiten.«
»Cotton?«, sagte ich.
In den Straßen waberte der Nebel, die Steinhäuser an den Hügeln wirkten wie Schiffe auf hoher See. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Cotton im zivilen Leben einen anderen Menschen getötet haben sollte.
»Sie haben schon mal gesessen, stimmt’s?«, sagte Benbow.
Ich blickte auf den Nebel, der über die Fensterbank quoll.
»Kein Kommentar?«, fragte er.
»Haftzeit ist wie Fliegenpapier«, sagte ich. »Sie bleibt an einem kleben, ganz gleich, wohin man geht.«
»Einer von der temperamentvollen Sorte, was?«
»Nein, Sir.«
»Los, aufstehen.«
»Wozu?«
»Ich muss dir Handschellen anlegen, mein Junge. Ich werde das Gefühl nicht los, dass da irgendwo noch ein Haftbefehl für dich aussteht.«
»Ich würde es begrüßen, wenn Sie mich nicht ›mein Junge‹ nennen.«
Er griff meinen linken Arm, zog ihn hinter meinen Rücken und legte mir Handschellen an. Der Widerstand in meinen Muskeln war nicht beabsichtigt, aber er war da. »Kannst froh sein, an mich geraten zu sein, Broussard«, sagte er.
Nach der Befragung steckte man uns in eine Gemeinschaftszelle am Ende des Gangs. Cotton saß auf einer Holzbank, das Kinn auf die Brust abgesenkt. Spud lag in der unteren Etage eines an der Wand befestigten Doppelstockbetts aus Stahl. Auf seinem Oberkörper hielt er ein Kofferradio, das gerade »Am I That Easy to Forget« von Carl Belew dudelte. Seine Unterlippe war aufgeplatzt, seine Wange auf die Größe eines Baseballs angeschwollen.
»Wo hast du das Radio her?«, fragte ich.
»Hab ich so ’nem Typen für einen Dollar abgekauft«, antwortete Spud.
»Alles in Ordnung, Cotton?«, sagte ich.
»Ich könnte einen Kaffee vertragen.«
Ich setzte mich neben ihn. »Ich muss dich was fragen.«
Der Regen prasselte gegen das Fenster, das hoch über unseren Köpfen in der Mauer saß. Die Wände der Gefängniszelle waren in einem blassen Gelb gestrichen, das Licht der nackten Glühbirnen im Gang warf gitterförmige Schatten auf das Gesicht von Cotton. »Na, dann frag doch.«
Meine Lippen waren wie erstarrt, fast brachte ich die Worte nicht heraus. »Stimmt es, dass du in Albuquerque jemanden getötet hast?«
»Ja, meinen Sohn.«
»Deinen …«, sagte ich.
»Ja, ich habe meinen eigenen Jungen umgebracht.« Er glotzte mich mit seinem gesunden Auge an, dann senkte er wieder den Kopf. »Meinen kleinen Jungen. So sehe ich ihn immer noch. Klein und unschuldig, nicht das, was später aus ihm wurde.«
Spud setzte sich auf und schaltete das Radio aus.
»Eines Abends kam er betrunken und vollgepumpt mit Drogen nach Hause und schoss mir in die Brust. Dann feuerte er auf seine Mutter und seine kleine Schwester«, sagte Cotton. »Er war vorher schon zweimal im Kinderheim gewesen, aber dem Jungen konnte niemand mehr helfen.«
»Tut mir leid, Cotton«, sagte ich.
»Muss dir nicht leidtun. Er war nicht ganz richtig im Kopf. Niemand hat Schuld daran. Man spielt die Karten, die man auf die Hand bekommt.«
Ein Vertrauenshäftling schob den Essenswagen an unsere Zellentür und reichte Styroporbecher mit schwarzem Kaffee und Pappteller mit Hash-Browns und Rührei durch den waagerechten Schlitz in den Gitterstäben. Spud trug das Essen zur Bank und drückte Cotton einen Kaffee in die Hand. »Der Kerl meint, wenn wir aufgegessen haben, können wir noch Nachschlag kriegen.«
Cotton legte die Stirn auf dem Handrücken ab und starrte zu Boden, wo aus seiner Tasse ein dünner Dampffaden emporstieg.
Später an diesem Vormittag kam Mr. Lowry ins Gefängnis und sorgte dafür, dass wir freikamen. Soweit ich wusste, kümmerte sich niemand darum, unsere Angreifer ausfindig zu machen. Spud musste sein Radio wieder hergeben. Der Deputy, von dessen Schreibtisch es verschwunden war, wollte es zurückhaben. Bevor ich meine persönliche Habe wiederbekam und das Gebäude verlassen konnte, ließ mich Wade Benbow in sein Büro bringen. Er saß an seinem Schreibtisch und tippte.
»Die Kellnerin aus dem Restaurant hat eine Nachricht für dich hinterlassen, Broussard«, sagte er und reichte mir ein gefaltetes Stück Papier.
»Worum geht’s?«
»Keine Ahnung. Hab’s nicht gelesen.«
Der Zettel war aus einem Spiralhefter herausgerissen worden, die Nachricht mit Bleistift geschrieben: »Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie es zu tun haben. Rufen Sie mich an.« Unterschrieben war die Botschaft mit Jo Anne McDuffy. Unter dem Namen stand eine Telefonnummer.
»Bereit für einen guten Rat, mein Junge?«, sagte Benbow.
»Ja, Sir.«
»Vergiss die Sache besser. Lass nicht zu, dass ein Schlagloch dich von deinem Weg abbringt und nach Cañon City führt.«
Cañon City war ein Nest mit einem Dutzend Gefängnissen. Gerade erst hatte man zwei Busladungen mit korrupten Cops aus Denver dorthin geschickt. Benbow tippte weiter, als wäre ich gar nicht mehr da.
Es war Samstag, und es regnete immer noch. Aus den Gullys in der Stadt stieg weißer Dunst auf. Cotton und Spud setzten sich in den Truck und folgten dem Wagen von Mr. Lowry zurück zur Farm. Ich blieb in Trinidad. Als Erstes suchte ich mir eine Telefonzelle und rief die Nummer an, die Jo Anne McDuffy mir gegeben hatte.
»Hier ist Aaron Broussard«, sagte ich. »Können wir uns treffen?«
»Treffen?«, fragte sie.
»Ja, um über die Burschen zu sprechen, die mich und meine Freunde verprügelt haben. Sie haben mir doch geschrieben, ich solle Sie anrufen.«
»Aber ich habe nichts von einem Treffen gesagt.«
»Gut, ich würde Sie aber trotzdem gern treffen.«
»Im Moment passt es nicht.«
»Wie wär’s mit heute Abend?«
»Da muss ich arbeiten.«
»Miss Jo Anne, ich werde Ihnen keinen Ärger machen.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
»Wer ist das?«, fragte ein Mann im Hintergrund.
»Niemand«, sagte sie.
»Ich kann die Burschen, die uns angegriffen haben, nicht ungeschoren davonkommen lassen.«
»Warum nennen Sie diese Typen eigentlich ›Burschen‹?«
»Mein Vater hielt nicht viel von dem Wort ›Typ‹.«
Sie gab mir eine Adresse. Sie wohnte einige Meilen außerhalb der Stadt. »Wann kommen Sie vorbei?«, fragte sie.
»Sobald ich kann. Ich habe kein Auto.«
»Und Sie machen wirklich keinen Ärger?«
»Nein, meiner Ansicht nach nicht«, antwortete ich.
Ich hängte den Hörer auf die Gabel und schob die Tür...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2024 |
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Übersetzer | Daniel Müller |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Another Kind of Eden |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Clint Eastwood • Drogen • eBooks • holland saga • Houston • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mordermittlung • Neuerscheinung • Sheriff • Sheriff Hackberry Holland • Thriller • Tommy Lee Jones |
ISBN-10 | 3-641-28960-2 / 3641289602 |
ISBN-13 | 978-3-641-28960-7 / 9783641289607 |
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