November (eBook)

Roman
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2023 | 1. Auflage
640 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-26865-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

November -  Thomas Olde Heuvelt
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In Lock Haven, einer beschaulichen kleinen Stadt in Washington State, gibt es eine ganz besondere Straße. Die Bird Street. Wer in der Bird Street wohnt, ist erfolgreich, wohlhabend, gesund und glücklich. Die Kinder allesamt ausgeglichen, wohlerzogen und klug. Zumindest für elf Monate im Jahr. Im November jedoch brechen die dunklen Tage an. Pech, Misserfolg und Krankheit halten Einzug. Im November kommt der Fremde in die Bird Street, um bei den Bewohnern die Schulden einzutreiben. Im November ist die Zeit gekommen, den Preis für all das Glück zu zahlen. Denn es kehrt erst zurück, wenn ein Menschenleben geopfert wird ...

Thomas Olde Heuvelt wurde 1983 in Nijmegen, Niederlande, geboren. Er studierte Englisch und Amerikanistik an der Radboud Universität Nijmegen und an der University of Ottawa in Kanada, wo er ein halbes Jahr lang lebte. Seine Kurzgeschichte »The Day the World turned upside down« wurde mit dem Hugo Award ausgezeichnet, andere Kurzgeschichten wurden für den Hugo Award und den World Fantasy Award nominiert. Seit ihm mit »Hex« der internationale Durchbruch gelang, ist Thomas Olde Heuvelt in den Niederlanden ein gefeierter Starautor, der mit seinen Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten erobert.

RALPH


Die kranke Frau. Die Wohltäter aus der Bird Street.
Es ist nirgends schöner als daheim.

3. November


Die Frau sah so aus, als wollte sie sterben. Sie sah auch so aus, als würde sie das in absehbarer Zeit ohnehin tun, wenn sie ihr an diesem Nachmittag nicht halfen. Dennoch war sie hier und ließ sich von den Bewohnern der Bird Street in den Wald tragen.

Sie hieß Ann Olsen Dickinson, doch das Wichtigste war, dachte Ralph Lewis, dass sie so aussah, als hätte sie ihren Frieden damit gemacht. Ralph und seine Nachbarin Elizabeth Aikman hatten in den letzten Wochen mehrere lange Gespräche mit Ann Olsen Dickinson geführt, aber Ralph hatte genug Erfahrung, um zu wissen, dass man die wahren Beweggründe erst in ihren Augen ablesen konnte, wenn die Stunde der Wahrheit schlug. Manchmal empfanden sie sich als Last für die Familie. Vor allem die Älteren und die chronisch Kranken. Wenn Ralph in ihren Augen irgendetwas anderes als selbstbestimmte Entschlossenheit entdeckte, blies er die Operation ab, auch in letzter Minute. Dann war es moralisch nicht zu verantworten. Ralph Lewis war Richter am King County Superior Court in Seattle, aber um das zu wissen, musste man kein Richter sein. Dafür musste man Mensch sein.

Ann Olsen Dickinson war bereit. Das war glasklar. Das wurde nicht nur an den Schäden deutlich, die die Krankheit ihrem Körper zugefügt hatte – die weißen Stoppeln auf dem kahlen Schädel, die spindeldürren Hände, das eingefallene Gesicht, das wie ein bleicher Mond aus ihrem Wollschal schaute. Nein, während sie sie im strömenden Regen auf der Sänfte zwischen den Lärchen hindurch trugen, befand sich Ann Olsen Dickinson in einem Zustand ultimativer Glückseligkeit.

Sie redete ununterbrochen. »Jetzt schaut euch das mal an!«, krächzte sie wie eine Krähe. »All die Lichter! Und die Musik! Habt ihr das alles für mich organisiert?«

Elizabeth, die ihr keine Sekunde von der Seite wich, lächelte unter ihrer tropfenden Regenkappe. »Natürlich, Ann. Alles muss perfekt sein. Drunter machen wir es nicht.«

»Es ist wundervoll.« Als sie einatmete, ertönte ein pfeifendes Geräusch, und sie bekam einen Hustenanfall. Elizabeth legte ihr eine Hand auf den Rücken, und als der Anfall vorbei war, schenkte sie dampfenden Tee in die Kappe ihrer Thermosflasche und reichte sie der kranken Frau. Diese nahm sie entgegen und führte sie langsam zum Mund. Das meiste landete in ihrem Schal, aber ihre spröden, eingecremten Lippen vermochten zumindest ein wenig von der warmen Flüssigkeit zu schlürfen.

»Du bist ein Schatz«, sagte sie heiser, als sie ihre Stimme wiederfand. »Ihr seid alle Wohltäter.«

Ralph spürte ein Kribbeln auf seinem Schädel, dort, wo sich die Nervenbahnen bündelten und die ersten unbehaglichen Vibrationen durch seinen Körper schickten. Elizabeth hatte nicht gelogen, alles musste perfekt sein. Sie wollten den Menschen, die sie in den Wald hinter ihrem Haus brachten, ein transzendentales Erlebnis bereiten.

Dieser Teil des Snoqualmie National Forest – das Reservat am Rand von Lock Haven, Washington, das mit einem hohen, überwucherten Drahtzaun abgetrennt und Eigentum des McKinley-Clans war – erstreckte sich meilenweit am Westhang der Cascade Mountains entlang. Es gab nur einen einzigen Weg hinein, der South Sunday Trail genannt wurde. Er begann auf dem Landgut der McKinleys, hinter einem rostfarbenen schmiedeeisernen Tor in einer Steinmauer, das das ganze Jahr hermetisch abgeriegelt war. In der letzten Woche hatten Graham McKinley Junior und sein Bruder Maurice (»diese Ekelpakete«, nannte Luana sie immer, und da war Ralph mit seiner Frau völlig einer Meinung) vom Tor und dem nahe gelegenen Generatorhäuschen aus Stromkabel von riesigen Spulen gerollt und im Gestrüpp verborgen. Starkstromkabel natürlich. Marc Wachowski, ihr Nachbar von gegenüber, hatte mit der Dekoration geholfen. Sie hatten über dreihundert LED-Leuchtkästen links und rechts vom Weg platziert, die sanft im Rhythmus der meditativen Klanglandschaften aus ebenso vielen Lautsprechern aufleuchteten, alle in wasserdichtem Gehäuse. Vom Tor aus hatten sie sich systematisch tiefer in den Wald in Richtung des Ruheplatzes vorgearbeitet. (»Exekutionsplatz«, nannte Maurice McKinley ihn stets. »Einer der Gründe«, so Luana, »aber sicher nicht der einzige, warum er ein Ekel ist.«) Zum Schluss hatten sie über zwölfhundert elektrische Windlichter aus dem Depot gebündelt an den Zweigen aufgehängt. Das Ergebnis war magisch: Zu dem Ort, an dem der South Sunday Trail in einer Lichtung endete, führte ein drei Kilometer langer Pfad durch rosa, blaue und grüne feengleiche Lichter, die im Takt der sich wiederholenden Klänge glühten. Wenn man die Augen zukniff, war es, als würde man einen Tunnel voller Irrlichter durchqueren.

Ralph stellte fest, dass so viele Blinklämpchen auf einem Haufen die Sinne austricksen konnten.

Beinahe hörte man den strömenden Regen nicht mehr.

Beinahe sah man die grimmigen, kahlen Novemberzweige nicht mehr, die wie Skeletthände die Ränder des Blickfelds streiften, oder was gerade außerhalb davon vorbeihuschte.

Beinahe vergaß man den Gestank nach Kellermoder und Klauenfäule.

Sie bildeten eine Prozession von sechs Personen.

Ralph und Harry Aikman trugen die altmodische überdachte Sänfte, auf die sie Ann Olsen Dickinson gehievt hatten. Harry vorne, Ralph hinten. Schwer war ihre Last nicht – die Frau war ausgemergelt. Aber das Terrain verlief bergauf und war nicht ohne Tücken, und durch den Regen waren die Griffe der Sänfte rutschig geworden. Harrys Frau Elizabeth dackelte wie ein treues Hündchen neben der Kranken her, doch immer öfter zwang der schmale Weg sie, dicken Baumstämmen auszuweichen oder durch knietiefes Unterholz zu straucheln. Einmal war sie schon ausgerutscht. Juliette McKinley, die erträgliche Schwester der unerträglichen Gebrüder McKinley, lief mit einer Laterne voran. Ihre Frau Olivia Davis bildete den Schluss des Zugs, und Ralph hörte sie nervös atmen. Olivia wohnte erst seit drei Jahren in der Bird Street und fühlte sich sichtlich unwohl. Das konnte er ihr nicht verübeln.

Ann Olsen Dickinson war eine gesunde Frau in ihren Sechzigern gewesen, als 2019 Gebärmutterhalskrebs bei ihr diagnostiziert wurde. Anfangs schienen die Operation und die darauffolgende Radio- und Chemotherapie anzuschlagen, und Ann waren noch zwei relativ gute Jahre vergönnt gewesen, wenngleich unter den Einschränkungen der Pandemie. Aber vergangenen September hatten die Ärzte Metastasen in ihren Lymphdrüsen und ihrer Lunge entdeckt und ihr mitgeteilt, dass jede Behandlung nur noch die Symptome mildern, ihre verbleibende Zeit etwas ausdehnen konnte.

Woher die Nachbarn aus der Bird Street das wussten? Weil Elizabeth Aikman zum Team des Pflegedienstes zählte, das Ann Olsen Dickinson vom University of Washington Medical Center zugewiesen worden war. Sie hatte der Patientin Morphium verabreicht, das ihr nicht nur den Schmerz genommen hatte, sondern auch die Hemmungen, sich die Sorgen von der Seele zu reden. Und Elizabeth hatte ein offenes Ohr für sie gehabt.

»Stanley ist dahintergekommen, dass ich mich über Sterbehilfe informiert habe. Und stell dir vor: Er hat mich für unzurechnungsfähig erklären lassen! Was sagt man dazu? Da ist man einundvierzig Jahre lang verheiratet und dann das! Und alles nur, weil wir in dieselbe Kirche gehen wie dieses Würstchen von einem Arzt!«

Damit hatte ihr Ehemann, so überwältigt von seiner Trauer, dass er nur noch Rat bei Gott suchte, statt mit seiner Frau zu sprechen, ihr gemäß den Gesetzen im Bundesstaat Washington den Weg zu einem würdevollen, selbstbestimmten Tod versperrt.

»Dabei ist er meistens nicht mal da. Er geht nur noch spazieren, den ganzen Weg bis zum Sound, weil er es nicht erträgt. Der arme Mann, ich habe solches Mitleid mit ihm. Aber ich will nicht warten, bis sich die Metastasen noch weiter ausbreiten. Ich will nicht, dass mein Körper sich vor lauter Schmerz selbst zerfrisst. Das ist doch kein Leben?«

Nein, das war kein Leben, bestätigte ihr Elizabeth. Aber vielleicht konnte sie behilflich sein.

Nun war Ann Olsen Dickinson so mit Morphium vollgepumpt, dass sie keinerlei Schmerzen mehr hatte. Und nebenbei bemerkt auch keine Hemmungen mehr. Begeistert erzählte sie ihre gesamte Lebensgeschichte, während der Nachbarschaftsverbund aus der Bird Street sie immer weiter von der Zivilisation wegbrachte. Es war vor allem Elizabeth, die alles mit »Oooh« und »Aaah« kommentierte. Es war nicht so, dass Ralph sich nicht für Ann interessiert hätte (ihr Schicksal nahm ihn mehr mit, als ihm lieb war), aber durch seine Position hinter der Sänfte merkte er, dass er mehr auf die körperliche Anstrengung fokussiert war und seine Gedanken abdrifteten.

Er dachte an Wale. An die Orcas und Buckelwale, die sich am Puget Sound tummelten und die sie mit den Kindern vor drei Wochen dort beobachtet hatten. Da hatte es auch jede Menge »Oooh« und »Aaah« gegeben. Es war einer der vielen Wochenendtrips gewesen, die Luana und er mit grimmiger Entschlossenheit im Oktober organisierten. Andere Sonntagsausflüge gingen zum High-Trek-Adventure-Kletterwald bei Paine Field, das MoPOP sowie das Chihuly Garden and Glass Museum in Seattle, das Washington Serpentarium in Monroe und das Mini Mountain Indoor Ski Center in Bellevue. Django mit seinen zehn Jahren fand das alles noch super, vor allem den Leguan, den er in Monroe im Arm halten durfte: »Nicht, dass er mich noch ankackt.«

Die fünfzehnjährige Kaila hingegen musste sich Mühe geben, um sich nicht phänomenal zu langweilen. Sie behauptete, dass die...

Erscheint lt. Verlag 1.10.2023
Übersetzer Janine Malz
Sprache deutsch
Original-Titel November
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte 2023 • Dunkle Magie • eBooks • Hex • Mord • Neuerscheinung • Niederländischer Autor • Pakt mit dem Teufel • Übernatürliches
ISBN-10 3-641-26865-6 / 3641268656
ISBN-13 978-3-641-26865-7 / 9783641268657
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