Island, ein abgelegener Fjord: An einem kalten Winterabend klopft ein Nachbar an das Haus einer Familie, von der es seit einer Woche kein Lebenszeichen mehr gibt. Er bemerkt Spuren, aber niemand öffnet. Als er ins Haus eindringt, sieht er, dass die ganze Familie ermordet wurde. Der Polizist Týr und die Gerichtsmedizinerin Iðunn werden an den Tatort gerufen, um das schreckliche Verbrechen zu untersuchen. Das Ermittlerteam erkennt dabei schnell, dass der Fall Verbindungen zu einer längst vergangenen Zeit aufweist, die alle von ihnen gern für immer vergessen würden. Yrsa Sigurdardóttir schreibt atemberaubend spannend und mit archaischer Wucht. Ihr gelingt es meisterhaft, die schaurige Atmosphäre von Islands gnadenlos eisigen Winternächte heraufzubeschwören.
Yrsa Sigurdardóttir, geboren 1963, ist eine vielfach ausgezeichnete Bestsellerautorin, deren Spannungsromane in über 30 Ländern erscheinen. Sie zählt zu den »besten Thrillerautoren der Welt« (Times). Sigurdardóttir lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Reykjavík. Sie debütierte 2005 mit »Das letzte Ritual«, einer Folge von Kriminalromanen um die Rechtsanwältin Dóra Gudmundsdóttir und begeisterte ebenso mit ihrer Serie um die Psychologin Freyja und Kommissar Huldar von der Kripo Reykjavík. Ihr Thriller »Schnee« verkaufte sich über 60.000 Mal und war monatelang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Zuletzt erschien von ihr der Thriller »Nacht«.
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1. Kapitel — Mittwoch
Eine ungewöhnliche Stille lag über dem Hof Hvarf. Niemand war zu sehen, weder Mensch noch Tier. Auch die Luft bewegte sich nicht, die dunklen Wolken hingen wie erstarrt am Himmel. Sie änderten ihre Gestalt so langsam, dass man es kaum wahrnahm. Karl hatte das Gefühl, dass selbst die Zeit langsamer verging. Noch während des Wetterberichts schaltete er das Radio aus. Der Sprecher kommentierte die Fangaussichten für die verschiedenen Fischgründe in der Umgebung, was Karl nicht interessierte. Als junger Mann war er ein einziges Mal mit einem Fischereiboot hinausgefahren und hatte danach beschlossen, zukünftig an Land zu bleiben.
Karl nahm seine Mütze vom Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen. Er setzte sie noch nicht auf, um besser lauschen zu können. Draußen herrschte Totenstille. Die meisten Vögel waren schon längst gen Süden gezogen, in wärmere Länder, an die Küste oder in dichter besiedelte Gegenden. Flüsse und Bäche waren zu Eis erstarrt, die Urlauber zu Hause und die Tiere im Stall. Selbst das Meer im nahen Fjord war nicht zu hören.
Von der Familie hingegen, die auf dem Hof lebte, hätte man etwas hören müssen. Es waren ja wohl nicht alle vier am helllichten Tag eingeschlafen. Vor knapp einer Woche hatte Karl noch mit dem Ehepaar geredet, mit Ása und Reynir, und sie hatten nichts davon gesagt, dass sie wegwollten. Leute, die Landwirtschaft betrieben, verreisten nicht so einfach, sie hätten es sicher erwähnt. Er konnte selbst ein Lied davon singen. Wenn er mal eine Reise plante, redete er von nichts anderem mehr, erzählte es jedem, der es hören wollte, und auch allen anderen.
Die beiden Autos der Familie standen auf dem Hof, unter einer dicken Schneedecke. Ein höhergelegter Jeep und ein sportlicher Pkw, der nur im Sommer genutzt wurde. Zumindest hatte Karl sie in den gut zwölf Monaten, die sie hier wohnten, noch nicht einmal im Winter damit fahren sehen. Vernünftigerweise. Eine solche Fahrt würde bei den verschneiten Schotterpisten hier mit ziemlicher Sicherheit im Graben enden. Bei dem Jeep sah das anders aus – ein Luxusgefährt, das angeblich so viel wie ein guter Traktor kostete. Damit würde Karl gerne mal eine Probefahrt machen, auch durch Schneewehen oder bei Glatteis. Schon allein, um herauszufinden, was man für so viel Geld geboten bekam. So teure Schlitten sah man bei den Bauern hier auf dem Land schließlich nur selten. Aber Hvarf war ja auch kein normaler Bauernhof, und normale Bauern lebten hier auch nicht.
Man musste sich nur die Gebäude ansehen. So sah kein anderer Hof aus: ein riesiges, modernes Wohnhaus, das über einen gläsernen Gang mit dem alten, zweistöckigen Bauernhaus verbunden war, das allein schon groß genug für eine vierköpfige Familie gewesen wäre. Doch die neuen Besitzer hatten andere Ansprüche. Sie selbst bewohnten den Neubau, sodass sie das alte Haus für Gäste und als Unterkunft für das Personal nutzen konnten. Gäste hatte es bislang allerdings nicht viele gegeben, und abgesehen von den jungen Angestellten, die allesamt nicht lange geblieben waren, hatten sie auch kein Personal gehabt. Er wusste nicht, weshalb diese jungen Leute ihren Aufenthalt jedes Mal so schnell abgebrochen hatten, wahrscheinlich waren sie mit der Einsamkeit nicht zurechtgekommen. Junge Menschen brauchten andere junge Menschen, damit sie sich weiterentwickeln konnten, aber die gab es hier nicht, abgesehen von Íris, der älteren Tochter auf dem Hof, und dem Sohn des Bauern vom Nachbarhof. Aber die beiden waren noch Teenager und für über Zwanzigjährige auf der Suche nach Gesellschaft uninteressant.
Die Umbauten gingen Karl im Grunde nichts an, aber er hatte dennoch eine klare Meinung zu dem Verbindungsgang zwischen dem alten und dem neuen Wohnhaus, das eine ein Zeugnis der Sparsamkeit früherer Zeiten, das andere ein Paradebeispiel für die heutige Maßlosigkeit. Diese beiden Häuser zu verbinden, kam ihm genauso abwegig vor, als würde man Pferde vor einen Sportwagen spannen.
Aber er sah auch das Positive, zum Beispiel, wie viel Wert Reynir und Ása auf eine schöne Umgebung legten. Das jedenfalls verfolgten die beiden mit deutlich mehr Hingabe als gewöhnliche Bauern, die für so etwas weder die Zeit noch das Geld übrig hatten. Nicht nur, dass das gesamte Gelände absolut gepflegt und aufgeräumt war – nichts war zerschrammt oder rostete vor sich hin, nirgends die üblichen Holz- und Gerümpelstapel –, sondern es war alles auch noch so hübsch anzuschauen, dass Karl sich jedes Mal fühlte wie in einer Skyr-Werbung.
Er staunte immer wieder, wie mühelos diese herausgeputzte Landidylle daherkam. Diesen Anschein zumindest musste sie bei Besuchern erwecken. Er hingegen hatte die Arbeiten am alten Wohnhaus, dem Stall und den Nebengebäuden mitverfolgt und wusste es besser. Ein ganzes Heer von Handwerkern hatte sich daran abgearbeitet. Günstiger wäre es sicher gewesen, den gesamten Hof abzureißen und neu zu errichten. Doch die jungen Eigentümer hatten so viel wie möglich im Originalzustand erhalten wollen, zumindest äußerlich, und legten großen Wert auf eine Verbindung zur Geschichte und zum ursprünglichen Zweck des Hofs. Dies war ein Bauernhof, und so sollte er auch nach den Umbauten noch aussehen. Nicht wie ein Ferienhaus. Die Handwerker lachten sich ins Fäustchen, während Karl und die anderen Bauern die Köpfe schüttelten. Sie behielten für sich, dass dieser Hof nie etwas Besonderes gewesen war, weder baulich noch als landwirtschaftlicher Betrieb. Er hatte keine Geschichte, die es wert war, bewahrt zu werden. Ganz im Gegenteil.
Beim neuen Wohnhaus hingegen hatte niemand die Geschichte des Orts oder etwas Landwirtschaftliches im Sinn gehabt. Nicht die Spur. Das Haus war riesig, hatte absurd hohe Decken und war damit alles andere als schlicht und zweckmäßig. Von vorn eine Betonfestung, wartete das wuchtige Gebäude an der Rückseite mit einem gigantischen gläsernen Anbau auf, mit Fenstern vom Boden bis zum Dach. Darin war die riesige Küche untergebracht, die nahtlos in Wohn- und Kaminzimmer überging. Die neuen Eigentümer hatten Karl erklärt, dass sie auf diese Weise so dicht wie möglich an der Natur kochen, essen und entspannen könnten. Er hatte bloß genickt und im Stillen gedacht, dass genau solche Leute auch Übernachtungen in diesen durchsichtigen Plastikkugeln draußen in der Einöde buchten, um sich der Natur näher zu fühlen. So etwas konnte er nicht begreifen. Selbst wenn die Trennwände durchsichtig sein mochten – er spürte die Natur lieber direkt.
Inzwischen lebten die beiden hier seit gut einem Jahr mit ihren zwei Töchtern, und Karls Bild von ihnen hatte sich komplett gewandelt. Er sah sie nicht mehr nur als die reichen Verrückten an. Obwohl er nach wie vor die Hälfte von dem, was sie machten, nicht nachvollziehen konnte, mochte er diese Leute. Es ging gar nicht anders.
Die Frau war richtig nett und konnte über sich selbst lachen und über ihre Bemühungen, sich an das Leben hier draußen anzupassen. Soweit er das einschätzen konnte, war ihr größtes Problem, dass sie einfach zu verzärtelt für das Landleben war und sich zu sehr einmischte. Auch ohne ihr Zutun hatte das Leben hier bisher ganz gut funktioniert.
Ihr Ehemann war nicht ganz so kontaktfreudig und wirkte oft abwesend. Aber auch er machte einen aufrichtigen und unkomplizierten Eindruck. Vor ihrem Umzug aufs Land war er schwer krank gewesen. Wenn er im Wind stand, blitzte manchmal eine große Narbe am Haaransatz hervor, die vom Ohr über die Schläfe bis zur Mitte der Stirn reichte. Wenn man bedachte, was sein Kopf durchgemacht haben musste, war es nicht verwunderlich, dass der Mann nicht immer gut beisammen war.
Am wichtigsten aber war für Karl, dass beide bereit waren, von denen zu lernen, die sich besser auskannten, unter anderem von ihm. Das kam auf dem Land gut an – bei allen, außer beim Bauern von Minna-Hvarf, dem Nachbarhof.
Dem unberührten Schnee nach zu urteilen war niemand über das Gelände gelaufen, seit sich die Wolken am Vortag geleert hatten. Doch als Karl sich dem Haus näherte, musste er seinen ersten Eindruck korrigieren. Da waren doch Spuren, zwischen dem Wohnhaus und dem kleinen Stall, in dem die wenigen Tiere der Familie untergebracht waren, abgesehen von den Hennen im Hühnerstall hinter dem Haus. Anfangs waren auch ein paar Ziegen auf dem Hof gewesen, doch das hatten sie schnell wieder aufgegeben. Seitdem stand der beheizbare, aufwendig in Schuss gebrachte Schafstall leer, und das würde sich vermutlich auch nicht mehr ändern. Diese Leute hielten keine Tiere, um die Erzeugnisse zu nutzen, wie normale Bauern das taten. Sie behandelten ihre Tiere wie Haustiere. Karl hatte Kühe auf der Weide gesehen, die Kränze aus Löwenzahn um den Hals trugen, und Islandpferde mit rosa Schleife an der geflochtenen Mähne. Vermutlich waren die Mädchen für diesen Schmuck verantwortlich, aber ganz sicher war er sich nicht. Denn die Tiere spielten eine wichtige Rolle bei der Hoffotografie, die die Frau betrieb und von der Karl sich fragte, ob sie ein Beruf sein sollte oder nur ein Hobby war.
Dass jemand die Tiere versorgt hatte, war ein sicheres Zeichen dafür, dass die Familie zu Hause war. Wären sie unterwegs, hätten sie jemanden aus der Gegend gebeten, sich um den Hof zu kümmern. Aber dann gäbe es diese Spur vom Haus zum Stall nicht. Wahrscheinlich hätten sie sogar Ella und ihn gefragt. Sie waren die nächsten Nachbarn, wenn man die Bewohner von Minna-Hvarf nicht mitrechnete. Sie waren in solchen Situationen auch früher schon für Ása und Reynir eingesprungen.
Seit knapp einer Woche hatten sie jetzt nichts mehr von der Familie gehört. Deshalb war er hier, und aus demselben Grund hatte er auch gestern...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2023 |
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Übersetzer | Anika Wolff |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | LOK LOK OG LAES |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • Börjlind • Buch für den Urlaub • eBooks • Hulda-Trilogie • island-krimis • Jussi Adler-Olsen • Kinderpsychologin Freyja • Kommissar Huldar • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Neuerscheinung • Ragnar Jónasson • Schnee • Skandinavische Krimis • Spiegel-Bestseller-Autorin • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-30032-0 / 3641300320 |
ISBN-13 | 978-3-641-30032-6 / 9783641300326 |
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