In den Stunden einer Nacht (eBook)
432 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-25461-2 (ISBN)
Mit siebenundzwanzig Jahren ist John Brenner bereits ein trockener Alkoholiker, von seiner Frau geschieden und hat eine vierjährige Tochter, die er seltener sieht, als ihm lieb ist. Eines Nachts wacht er auf dem Fußboden seines Wohnzimmers auf, ohne Erinnerung an die letzten Stunden. Neben ihm liegen eine leere Wodkaflasche, eine Pistole und die Leiche einer Frau, die er noch nie zuvor gesehen hat.
Ist er der Mörder, oder hat man ihm die perfekte Falle gestellt? Aber warum sollte ihm jemand einen Mord anhängen? John weiß, dass die Antwort in den Stunden liegt, die er vergessen hat.
Als er beginnt nachzuforschen, trifft er im Internet auf einen Mann, der ebenfalls einen Erinnerungsverlust erlitten hat. Und der nachts von jener Frau träumt, die tot in Johns Wohnzimmer lag ...
Federico Axat wurde 1975 in Buenos Aires geboren. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst als Ingenieur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Bücher erscheinen in über 30 Ländern und stoßen bei Leser*innen und Kritiker*innen auf große Anerkennung. Die New York Times feierte ihn als »einen der besten Thrillerautoren der Welt«. Federico Axat verbrachte einige Jahre in den USA, heute lebt und arbeitet er in Buenos Aires.
Matthias Strobel, geboren 1967, übersetzt aus dem Spanischen und Englischen, u.a. Alfredo Bryce Echenique, José María Arguedas und Guillermo Arriaga. 2014 wurde er mit dem Europäischen Übersetzerpreis Offenburg ausgezeichnet (Förderpreis), 2017 gehörte er zu den Finalisten des Internationalen Literaturpreises. Er lebt in Berlin.
»Hypnotisch, einer der besten Thrillerautoren der Welt.« The New York Times
»Federico Axat ist einer der besten Thrillerautoren der Welt.« El Cultura
3
Auf dem Hügel war eine Art steinerne Palisade, auf die man sich gut setzen konnte. Kaum war ich dort angekommen, erregte etwas, das dort in einer Mulde lag, meine Aufmerksamkeit. Als ich näher heranging, stellte ich fest, dass es sich um einen Zigarettenstummel handelte. Ich nahm ihn näher in Augenschein, schrieb ihm vielleicht mehr Bedeutung zu, als er in Wahrheit besaß, und kramte in meiner Hosentasche nach meinem Handy, um mit etwas Licht nach noch mehr Hinweisen zu suchen, dass sich kürzlich jemand hier aufgehalten hatte. Ich fluchte, als mir bewusst wurde, dass ich das Handy zu Hause gelassen hatte. Mit dem Mondschein als einzigem Verbündeten suchte ich nach weiteren Kippen, fand aber keine; es blieb also bei diesem einzigen Indiz.
Ganz in der Nähe, nach Nordwesten hin, gab es einen alten, seit Jahren nicht genutzten Weg. Wenn jemand im Auto hierhergekommen war, dann am wahrscheinlichsten von dort. Im Eiltempo stieg ich den Hügel hinunter. Die Vegetation an dieser Stelle war so dicht, dass ich kaum sehen konnte, in welche Richtung ich mich bewegte, aber das war nicht besorgniserregend. Diesen Wald hatte ich schon so oft erkundet, dass ich mich praktisch aus dem Gedächtnis heraus orientieren konnte.
Bevor ich den Weg erreichte, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Tatsächlich erspähte ich durch das Laub hindurch etwas Großes, das sich nicht bewegte: einen Lieferwagen oder ein kleines Wohnmobil. Instinktiv war ich auf der Hut und ging langsamer, achtete darauf, nicht auf Zweige oder Blätter zu treten.
Am Wegrand angekommen versteckte ich mich hinter einem Baum. Das Fahrzeug, das ich gesehen hatte, war tatsächlich ein Van: ein älteres VW-Modell, vermutlich aus den Neunzigern. Es war in einem erbärmlichen Zustand, grau, die Karosserie heruntergekommen, die Scheiben verdreckt. Zuerst dachte ich, dass irgendjemand ihn hier hatte entsorgen wollen, doch dann fiel mir das gültige Nummernschild auf. Ich wiederholte die sieben Ziffern mehrmals, um sie mir zu merken.
Ich wollte hinten um das Fahrzeug herumgehen, blieb aber auf halbem Weg stehen, mitten im hohen Gras, einige Meter vom Van entfernt. Wieder verspürte ich diesen Druck in der Brust, wie vorhin, vor etwa einer halben Stunde, als ich die Leiche neben mir entdeckt hatte. Was machte ich hier eigentlich? Plötzlich stand mir die tote Frau so plastisch vor Augen wie in einem Horrorfilm. Sicher, der Van konnte etwas mit der Leiche zu tun haben, und war das nicht ein weiterer guter Grund, endlich die Polizei zu rufen? Und warum war ich ohne Handy aus dem Haus gegangen?
Eigentlich willst du die Polizei gar nicht rufen.
Von dort, wo ich stand, konnte ich die Vorderseite des Vans nicht sehen, und im hinteren Teil waren nur zwei kleine Fensterchen, die so schwarz waren wie die Augen eines Tintenfischs. Vorsichtig schlich ich mich um das Fahrzeug herum. Das Fahrerhäuschen war leer. Ich trat an die Beifahrertür heran und entdeckte auf der Mittelkonsole zwei Thermobecher. Auf dem einen schienen am Rand Spuren von Lippenstift zu sein, aber durch die verdreckte Scheibe hindurch war dies nicht mit Gewissheit auszumachen.
Ich ging wieder nach hinten. Das Fahrzeug an sich war schon verdächtig genug. Aber der Zigarettenstummel, der Kaffee, überhaupt alles deutete darauf hin, dass die beiden Personen eine ganze Weile in der Umgebung meines Hauses bleiben wollten. Und wenn eine davon leblos bei mir im Wohnzimmer lag, wo war dann die andere? Ich wischte ein Stück der Rückscheibe sauber und spähte ins Innere, konnte aber nichts erkennen. Dann ging ich zur Schiebetür an der Seite. Was ich jetzt vorhatte, konnte sich als die größte Dummheit meines Lebens entpuppen, sollte sich tatsächlich jemand im Inneren aufhalten.
Mit aller Macht zog ich am Griff, darauf gefasst, dass die Tür nicht aufgehen würde, aber sie ließ sich ganz einfach bedienen. Ein Schmerz fuhr mir bis in die Schulter, aber ich zwang mich, die Zähne zusammenzubeißen. Die Tür knallte gegen das Ende der Schiene. Im Inneren des Vans war es stockdunkel; niemand stürzte sich auf mich, was an sich eine gute Nachricht war, doch als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich Lichter, die mich beunruhigten. Das Fahrzeug war ein Lieferwagen, sprich: Es hatte keine Sitze. Stattdessen stand in der Mitte ein kleiner Klapptisch von der Art, wie man ihn an den Strand mitnimmt, und auf diesem Tisch stand ein Computer.
Ich kletterte hinein. Der Bildschirm war dunkel. Auf dem Tisch lagen außerdem eine eckige Brille und eine schnurlose Maus. Ich tippte die Maus mit der Fingerspitze an, der Computer erwachte zum Leben.
Auf dem Bildschirm war mein Wohnzimmer zu sehen.
Ich wich zurück, als hätte mir jemand einen Schlag auf die Brust versetzt, trat mit einem Bein ins Leere und wäre beinahe gestürzt, konnte mich aber gerade noch an den Türrändern festhalten.
Die Webcam war auf die Sofaecke ausgerichtet. Bei einem größeren Bildausschnitt wäre auch der leblose Körper zu sehen gewesen.
Ich starrte auf das Bild, konnte es nicht fassen.
Wie lange ich dort stand, unfähig, mir einen Reim auf die Geschehnisse dieses wahnwitzigen Abends zu machen, weiß ich nicht, aber plötzlich erlosch das Bild. An dessen Stelle erschien der Schriftzug »kein Signal«.
Ich wirbelte herum und sprang aus dem Fahrzeug, machte mir nicht einmal die Mühe, die Tür zu schließen. So schnell ich konnte, rannte ich zurück zu meinem Haus; in diesen fünf Minuten schlug mir das Herz bis zum Hals. Die Haustür hatte ich offen stehen lassen, und auch das Licht brannte noch. Ohne irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, trat ich ein. Die Angst und die Bestürzung wichen allmählich der Wut. Ich wusste genau, wo ich die Webcam finden würde.
Wie vom Donner gerührt hielt ich inne. Die Leiche war verschwunden.
Die Waffe ebenfalls.
Reglos stand ich da, hörte meinen eigenen Atem. Nur die Reste der Lampe lagen noch auf dem Boden. Langsam wandte ich meinen Blick zu dem Schrank neben der Tür, auf dem die Kamera versteckt sein musste. Ich eilte darauf zu und wischte hektisch über den oberen Teil des Schranks, was aber nur dazu führte, dass meine Hand ganz staubig wurde. Die Kamera war ebenfalls verschwunden, was mich inzwischen nicht mehr überraschte.
Anschließend tastete ich das oberste Regalbrett über dem Kaminsims ab, griff hinter die Zierleiste, wo ich normalerweise die Ruger versteckte, damit meine Tochter nicht an sie herankam. Und tatsächlich: Ich stieß auf die unverwechselbare Form der Pistole.
Gerade hat sie noch auf dem Boden gelegen.
Ich nahm die Patrone aus der Schusskammer und überprüfte das Magazin. Es war voll. Ich legte die Waffe zurück an ihren Platz.
Mit dem resignierten Gang eines zum Tode Verurteilten schlurfte ich zu der Stelle, an der die Leiche der Frau gelegen hatte. Nichts mehr zu sehen: kein Blut, kein blutverschmiertes Laken. Ich kniete mich auf den Boden, strich mit der Hand über die Mosaikoberfläche, begriff gar nichts mehr. Ich spürte noch, wie ich meine Lippen auf ihre gepresst hatte, wie ich meine Hand auf ihren Brustkorb gedrückt hatte.
Plötzlich klingelte das Telefon.
Es war bereits nach neun. Außerdem rief mich nie jemand auf dem Festnetz an.
Ich nahm den Hörer ab, überzeugt, dass dieser Anruf für nur noch mehr Verwirrung sorgen würde.
»Johnny, alles okay bei dir?«
Es war mein älterer Bruder. Mark besaß seit jeher einen sechsten Sinn, was mich anging, einen Radar, mit dem er aus der Entfernung jede Gefahr aufspüren konnte.
Ich gab einen Laut von mir, der ein Ja bedeuten sollte.
»Hast du dein Handy bei dir?«
»Mein Handy …, weiß nicht, habe ich wohl verloren.«
Selbst am anderen Ende der Leitung konnte Mark spüren, wie nervös ich war.
»Was ist los? Ich habe dir in den vergangenen Stunden mehrere Nachrichten geschickt, aber die hast du offenbar gar nicht gelesen.«
In den vergangenen Stunden, dachte ich. Das Letzte, woran ich mich erinnere, war …
»Du rufst in einem ungünstigen Moment an, Mark. Ich muss die Polizei verständigen.«
Eine Pause, die endlos erschien. Ich kannte meinen Bruder gut genug, um zu wissen, was er in diesem Moment dachte: Johnny hat mal wieder einen Rückfall erlitten. Ich konnte ihm diesen Gedanken nicht einmal verübeln.
»Es ist nicht so, wie du denkst, Mark.«
Es fiel mir schwer stillzuhalten. Ständig verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere, verdrehte nervös das Telefonkabel.
»Was ist los?«, fragte Mark noch einmal, der nun nicht mehr verhehlen konnte, dass er sich Sorgen machte.
Ich schluckte. Wie sollte ich erklären, was in der letzten Stunde passiert war?
»Ich habe eine tote Frau entdeckt«, sagte ich schließlich unwirsch. Es laut auszusprechen, ließ mich erschaudern. Meine freie Hand zitterte.
»Im Wald?«
»Im Wohnzimmer.«
Noch eine endlose Pause.
»Kanntest du die Frau?«, fragte Mark vorsichtig.
Jeder andere hätte die Fassung verloren oder mich mit Fragen bombardiert, aber so war Mark nicht. Er besaß die Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das war nur einer der vielen Unterschieden zwischen uns.
»Ich weiß nicht, wer sie ist. Ich habe ein Nickerchen gemacht, und plötzlich lag sie da.«
Ein Nickerchen um neun Uhr abends? Mach nur weiter mit deiner Liste von Ungereimtheiten.
»Bist du sicher, dass sie tot ist?«
»Ja, verdammt, ich habe ihren Puls überprüft und...
Erscheint lt. Verlag | 11.1.2024 |
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Übersetzer | Matthias Strobel |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Amnesia |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Albträume • Amnesia • Amnesie • eBooks • Erinnerung • Erinnerungsverlust • Gillian Flynn • Joel Dicker • Neuerscheinung • New Hampshire • Pageturner • Paula Hawkins • PlotTwist • Psychothriller • Spannung • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-25461-2 / 3641254612 |
ISBN-13 | 978-3-641-25461-2 / 9783641254612 |
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