Der Rabbi und der Kommissar: Fremde Götter (eBook)

Kriminalroman

(Autor)

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2023
272 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-30898-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Rabbi und der Kommissar: Fremde Götter - Michel Bergmann
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Glaub nicht alles, was du zu glauben glaubst
Man sieht den Leuten ihre Vergangenheit nicht an der Nasenspitze an. Als Rabbi Henry Silber¬baum erfährt, dass ein Mitglied seiner Gemeinde einst Anhänger einer Sekte im Jura war, reist er selbst dorthin, um mehr über die Hintergründe zu erfahren. In den luftigen Höhen der Schweizer Alpen trifft er auf den selbst ernannten Guru. Die beiden Männer liefern sich einen heftigen Schlagabtausch über Gott. Ausschließlich ver¬bal natürlich, doch kurz darauf wird der Guru tot aufgefunden - und plötzlich ist Henry Hauptver¬dächtiger in einem Mordfall ...

Michel Bergmann, geboren in Basel, Kinderjahre in Paris, Jugendjahre in Frankfurt am Main, lebt heute in Berlin. Nach Studium und Job bei der »Frankfurter Rundschau« landete er beim Film: zuerst als Producer, dann als Regisseur, zuletzt als Drehbuchautor u.a. »Otto -Der Katastrofenfilm«, »Es war einmal in Deutschland«. Seit 2010 ist er auch Romanautor: u.a. »Die Teilacher«, »Herr Klee und Herr Feld«, »Weinhebers Koffer«. Mit der Reihe um den ermittelnden Rabbi Henry Silberbaum tritt er erstmals als Krimiautor in Erscheinung.

1


Die Westend-Synagoge in Frankfurt am Main leuchtet in der Morgensonne. Im Jahr 1910 eingeweiht, entspricht sie dem damaligen Zeitgeschmack des assimilierten jüdischen deutschen Bürgertums. In den prosperierenden Gemeinden der aufstrebenden Metropolen der Kaiserzeit wurden zahlreiche prächtige Synagogen, oft auch in den Zentren der Städte, errichtet. Mit der Emanzipation der Juden wuchs ein gesundes Selbstbewusstsein. Viele Architekten der wilhelminischen Epoche orientierten sich an den Kriterien des aufkommenden Jugendstils, der maurischen Kultur oder, wie bei der hiesigen Synagoge zu besichtigen, an der assyrisch-ägyptischen Bauweise. Die Pläne der Westend-Synagoge stammen von einem deutschen Architekten, der ironischerweise später NSDAP-Mitglied wurde. In der Reichspogromnacht wurde das mächtige Gebäude lediglich gering beschädigt, denn für ein Niederbrennen war die Nähe zu den umliegenden Wohnhäusern hinderlich. Es ist allerdings exemplarisch, dass bis heute vor den Synagogen, wie vor den meisten jüdischen Einrichtungen in Deutschland, Polizisten mit Maschinenpistolen patrouillieren müssen, um Menschen und Gebäude zu schützen.

An der Straßenecke vor der Westend-Synagoge steht zusätzlich eine Schildwache. Die Straße ist durch Betonpoller eingeengt. Am Straßenrand steht ein Polizeifahrzeug.

Aus dem Gebäude ist Gesang zu hören.

Es ist der Vormittag des Schabbat, und die Synagoge ist gut besucht. Mit den letzten Zeilen eines gesungenen Tora-Verses stellt der junge Rabbiner Henry Silberbaum die Tora zurück in den Schrein, schließt danach die Tür und zieht den reich bestickten Samtvorhang davor. Anschließend begibt er sich hinter das Rednerpult, um mit seiner Predigt zu beginnen. Die Gemeinde ist wie immer in freudiger Erwartung, denn die Vorträge des Rabbis sind nicht nur klug, sondern auch unterhaltsam. Außerdem ist er ein gut aussehender Mann, der vor allem beim weiblichen Publikum gern gesehen und gehört ist. Er ist so wohltuend anders als sein Mitstreiter Rabbiner Gad Aronsohn, der sich der älteren Generation zugehörig und somit mehr der orthodoxen, konservativen Tradition verpflichtet fühlt. Die beiden festangestellten Rabbiner lösen sich turnusmäßig ab, und man kann bereits anhand der Besucherzahl in der Synagoge erkennen, wer die meisten Fans hat.

Das gilt gleichermaßen für die Schulklassen, die beide betreuen. Der Unterricht des Rabbis Silberbaum artet nicht selten in regelrechte Shows aus, was nicht nur zu Eifersüchteleien seines Kollegen führt, sondern auch zu Konsequenzen vonseiten des Gemeindedirektors Dr. Avram Friedländer.

Der ist im Übrigen kein Freund des jungen Rabbiners und sucht schon seit Langem nach einer Gelegenheit, ihn loszuwerden. Deshalb nutzt er die Leidenschaft des Rabbis, Kriminalfälle zu lösen und Verbrechen innerhalb der Gemeinde aufzuklären, um ihn abzumahnen.

Der Rabbi ist gewarnt: Noch ein Kriminalfall, und er ist seinen Job los.

Doch dieser ist ohnehin heute gefährdet, denn zu Beginn des Gottesdienstes kommt es zu einer Art religiöser Revolution, ja, fast zu Häresie, als der Rabbi vorab auf die bima tritt und verkündet: »Liebe Freundinnen und Freunde! Heute ist der Weltfrauentag, und zu diesem Anlass habe ich Ihnen etwas mitzuteilen: Wir werden ab jetzt mit der jahrhundertealten Tradition der Geschlechtertrennung in der Synagoge aufhören, jedenfalls in meinem Gottesdienst. Es ist meiner Meinung nach nicht nur nicht mehr zeitgemäß, sondern auch eine Form von Diskriminierung der weiblichen Gemeindemitgliederinnen, wenn wir weiter die strikte Geschlechtertrennung beibehalten. Also, ich biete Ihnen allen, Frauen, Männern und Kindern, an, sich in der kommenden Viertelstunde hinzusetzen, wo immer Sie es wollen. Auf geht’s!«

Zuerst liegt eine Art von Schockstarre über dem großen Betsaal, aber dann kommt Bewegung in die Menge. Frauen erheben sich auf der Galerie und streben ins Erdgeschoss. Ebenso gibt es Herren, die einmal die Welt aus der Perspektive der Frauen, also von der Galerie aus erleben möchten. Nach einer guten Viertelstunde hat sich eine erkleckliche Anzahl von Frauen unter die Männer gemischt, und der Rabbi geht sichtlich aufgekratzt zu seinem Rednerpult.

Auf dem Weg dorthin muss er an seinem Chef vorbei, der sich empört erhoben hat, ihn grob am Ärmel packt, zu sich zieht und ihm aggressiv zuflüstert: »Das wird Konsequenzen haben, das verspreche ich Ihnen!«

Der Rabbi schaut seinen Chef unschuldig an und flüstert ihm zu: »Zeigen Sie mir die Stelle in der Tora in der die Trennung von Frauen und Männern im Gottesdienst vorgeschrieben wird.«

Friedländer ist sprachlos. Als er sich setzen will, hat inzwischen Adele Mandel, die Vorsitzende des Gemeinderats, seinen Platz eingenommen und lächelt ihm frech zu. Ausgerechnet die Mandel, die jede Zurechtweisung oder Abmahnung des Rabbis torpediert und von ihm besessen zu sein scheint. Friedländer lächelt süßsauer zurück und sucht sich einen anderen Platz.

Henry Silberbaum ist inzwischen am Pult angekommen und klopft gegen das Mikrofon.

Der Rabbi blickt zu seinen Zuhörern im Saal. Dazwischen seine Mutter, die sich ebenfalls nach unten gesetzt hat. Die wie immer overdressed, mit ihrem türkisen Glitzerturban gut sichtbar, in der Mitte einer Reihe thront.

Daneben seine Sekretärin, die schlaue, vorlaute, kleine Frau Kimmel mit ihrer silberfarbenen Kurzhaarfrisur.

Zwischen zwei Herren sitzt Esther Simon, die hochgewachsene, attraktive Leiterin des Seniorenstiftes, deren Charme sich der Rabbi nur schwer entziehen kann. Ziemlich weit vorn, nah an der bima, sitzt Jossi Singer, sein Freund der Buchhändler, sein Schachpartner und Renaissance Man. Der Mann, der ein universelles Wissen besitzt und es trefflich versteht, auch immer darauf hinzuweisen. Einer seiner vielen Lieblingssprüche lautet: »Wir sollten mal wieder ausführlich über meine Bescheidenheit sprechen.« Henry sieht Herrn Axelrath, dessen Frau seinerzeit auf mysteriöse Weise starb. Es war der Rabbi, der den Mord aufklärte. Ebenso war er es, der sich ein Jahr später nicht mit dem Verschwinden der Olympiaschwimmerin Galina Bubka abfinden wollte und deren Ehemann Semjon Gurewitz als Verbrecher entlarvte. Galinas Mutter kann er ebenfalls im Publikum entdecken.

»Liebe Freundinnen und Freunde«, beginnt der Rabbi mit seiner Predigt …

Etwa dreißig Minuten später, nachdem der Rabbi seine Ansprache und das Schlussgebet beendet hat, läuft er aus dem Aufenthaltsraum abseits des großen Betsaals und rennt förmlich in Abi Sternlieb hinein, der ihn offensichtlich abfangen will. Der lange, asketische, etwa fünfzig Jahre alte Mann steht verlegen auf dem Flur herum.

Henry begrüßt den Friedhofsgärtner. »Herr Sternlieb, Schabbat Schalom!«

»Gut Schabbes, Herr Rabbiner. Haben Sie eine Minute?«

Henry schaut auf seine Uhr und sagt dann freundlich:

»Okay, eine Minute. Muss zum kiddusch. Genau wie Sie!«

Herr Sternlieb wirkt verunsichert.

»Es ist so, Sie hatten mir doch zugesagt, dass Sie …«

»… und ich habe es nicht vergessen. Ich kümmere mich, bestimmt. Ich habe sogar einen Bekannten, Kommissar Berking von der Kripo, gebeten, etwas herauszufinden. Ich werde ihn noch mal erinnern.«

Er geht langsam los.

Herr Sternlieb folgt ihm.

»Ich will Sie nicht drängen«, hört man ihn sagen, »aber es bereitet mir nach wie vor schlaflose Nächte. Und je länger es dauert, umso mehr beginne ich meine Frau zu verabscheuen. Sie ist eine Betrügerin.«

Der Rabbi bleibt stehen und schaut Sternlieb mit einem ernsten Gesichtsausdruck an.

»Das ist sie nicht, und das wissen Sie. Sie war jung und unerfahren und ist offensichtlich auf jemanden reingefallen.«

Wieder will der Rabbi losgehen, aber Sternlieb hält ihn zurück.

»Warum hat sie mir nie die Wahrheit gesagt? Damals nicht und heute nicht. Warum schiebt sie mir einfach das fremde Kind unter wie ein Kuckucksei?«

Henry legt dem Mann die Hand auf die Schulter.

»Weil Sie vermutlich vor zwanzig Jahren nicht die Größe gehabt hätten, ihr zu verzeihen und sie trotzdem zu heiraten. Aber inzwischen haben Sie Camilla großgezogen, und sie ist ein wunderbares Mädchen geworden, das Sie liebt. Sie ist Ihre Tochter. Das alleine zählt.«

Sternlieb scheint betroffen. Der Rabbi sagt leise: »Ich sage Ihnen etwas, was uns allen das Leben leichter machen würde: Sie sollten Ihre Frau einfach fragen, geradeheraus.«

Damit ist das Gespräch für den Rabbi beendet, aber Sternlieb reagiert verschnupft.

»Ich habe Ihnen bereits erklärt, warum das unmöglich ist.«

»Wissen Sie, die Wahrheit zu ertragen ist zwar schwer, aber das einzig Sinnvolle. Denn die Lüge ist noch schwerer zu ertragen. Das spüren Sie doch täglich, oder?«

Sternlieb bleibt stehen.

Er sagt jetzt, fast verzweifelt:

»Bitte Rabbi, lassen Sie mich nicht im Stich. Sie sind meine einzige Hoffnung.«

Der Rabbi nimmt Sternliebs Hand in seine beiden Hände.

Der verzweifelte Mann ist den Tränen nah.

»Ich habe es Ihnen zugesagt, und dabei bleibt es. Aber geben Sie mir noch ein wenig Zeit.«

»Danke. Ich weiß, Sie sind ein guter Mensch.«

»Gutmütigkeit ist ein Stück Dummheit«, bemerkt der Rabbi und lächelt. »Sagt meine Mutter immer. Bis gleich.«

Im Vorraum der Synagoge, dort, wo sich auch die Garderobe befindet, ist ein langer Tapetentisch aufgebaut und mit einer weißen Papierdecke bedeckt. Darauf Wassergläser, in die aber auch...

Erscheint lt. Verlag 13.12.2023
Reihe/Serie Die Rabbi-und-Kommissar-Reihe
Die Rabbi-und-Kommissar-Reihe
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2023 • Cozy Crime • eBooks • Frankfurt • Guru • Heimatkrimi • Judentum • jüdischer krimi • Jüdischer Witz • Krimi • Kriminalromane • Krimi neuerscheinung 2023 • Krimireihe • Krimis • Neuerscheinung • Religion • Schweiz • Sekte
ISBN-10 3-641-30898-4 / 3641308984
ISBN-13 978-3-641-30898-8 / 9783641308988
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