Das Gästezimmer (eBook)
448 Seiten
Blanvalet Verlag
978-3-641-29937-8 (ISBN)
Er gilt als der perfekte Vater und Nachbar: der Witwer Aidan. Charmant, hilfsbereit und fürsorglich. Nur Rachel - diesen Namen hat er ihr gegeben - kennt seine düstere Seite. Denn seit fünf Jahren wird sie von Aidan in dessen Schuppen gefangen gehalten. Als er gezwungen ist umzuziehen, überredet Rachel ihn, sie ins neue Haus mitzunehmen. Sie wird im Gästezimmer einquartiert, wo sie die meiste Zeit angekettet ans Bett oder die Heizung verbringt. Auf den Moment wartend, in dem sie fliehen kann. Doch dann lernt Aidan Emily kennen, eine junge Barkeeperin. Plötzlich muss Rachel fürchten, dass Aidan sie tötet, um sie loszuwerden ...
Clémence Michallon wuchs in der Nähe von Paris auf. An der City University of London studierte sie Journalismus und schloss einen Master an der Columbia University in New York an. Seit 2018 schreibt sie für die renommierte britische Tageszeitung »The Independent«, wobei ihre Artikel die Themen True Crime, Literatur und Starkultur umfassen. Kürzlich wurde Michallon amerikanische Staatsbürgerin. Ihre Zeit teilt sie zwischen zwei Wohnorten auf: New York City und Rhinebeck, N. Y. »Das Gästezimmer«, dessen Rechte in 30 Länder verkauft wurden, ist ihr Debütroman.
Kapitel 4
Emily
Er ist wieder da. Dienstags und donnerstags. Verlässlich und verheißungsvoll wie ein besonders guter Whisky.
Aidan Thomas nimmt seine graue Pelzmütze ab. Die Haare, die darunter zum Vorschein kommen, erinnern an zerzauste Federn. Heute trägt er einen Seesack aus grünem Nylon. Vermutlich aus einem Army Shop. Er sieht schwer aus. Der Tragegurt schneidet ihm in die Schulter.
Die Tür knallt hinter ihm zu. Ich zucke zusammen. Normalerweise schließt er sie sehr behutsam, eine Hand an der Klinke, die andere am Rahmen.
Beim Eintreten hält er den Kopf gesenkt. Seine Schritte wirken mühevoll, was nicht nur am Seesack liegt.
Etwas bedrückt ihn.
Er steckt die Mütze in eine Tasche, streicht sich die Haare glatt und lässt den Sack von der Schulter gleiten.
»Hast du meine Manhattans?«
Ich sehe Cora kaum an, während ich die zwei Gläser zu ihr hinschiebe. Sie eilt davon. Als sie weg ist, blickt Aidan zu mir auf.
»Was kann ich dir bringen?«
Er schenkt mir ein müdes Lächeln.
Ich greife nach der Soda-Pistole. »Das Übliche also.« Ich habe eine Idee. »Ich könnte dir auch etwas anderes machen, wenn du eine kleine Aufmunterung brauchst.«
Er lacht. »So offensichtlich, wie?«
Ich zucke betont lässig die Achseln. »So etwas zu bemerken gehört zu meinem Job.«
Sein Blick geht in die Ferne.
Im Hintergrund gestikuliert Eric. Er beschreibt einem Vierertisch die Tagesangebote. Die Gäste hängen ihm an den Lippen. Eric ist ein Showtalent. Er weiß, wie man einen Tisch für sich gewinnt und mit wenigen Sätzen zwei bis fünf Prozent mehr Trinkgeld rausschlägt.
Der liebe Eric. Obwohl ich mittlerweile seine Chefin bin, ist er mein Freund geblieben. Er hält mir den Rücken frei und glaubt aus irgendeinem Grund, ich wäre in der Lage, diesen Laden zu führen.
»Lass uns etwas versuchen.«
Ich nehme ein Whiskyglas und poliere es kurz. Aidan Thomas beobachtet mich mit einem vagen Stirnrunzeln. Etwas geschieht, etwas Neues, das anders ist als sonst. Er ist nicht sicher, ob es ihm gefällt. Fast tut er mir leid. Eigentlich wollte er doch nur seine übliche Cherry Coke haben.
»Ich bin gleich wieder da.«
Ich versuche, möglichst unaufgeregt zu gehen. Hinter der Schwingtür beugt Nick sich gerade über vier Teller des heutigen Tagesgerichts – paniertes Schweinekotelett mit Käsekartoffelpüree und Speck-Schalotten-Soße. Einfach, aber schmackhaft, hat er zu mir gesagt. Die Leute wollen die Gerichte kennen, die wir ihnen servieren, aber sie kommen nicht her, um Sachen zu essen, die sie sich auch selbst zu Hause machen könnten. Als ob das seine Idee gewesen wäre und nicht der Anspruch, den mein Vater mir von klein auf immer wieder eingetrichtert hat. Echtes Essen, und zwar zu fairen Preisen, hat mein Dad stets gesagt. Wir wollen uns nicht ausschließlich nach den Städtern richten. Die kommen vom Freitag bis zum Sonntag, aber die Einheimischen retten uns über die Woche. Sie sind unsere Hauptkunden.
Eric geht mit drei Tellern auf dem Arm an mir vorbei. Durch die Schwingtür sieht er Aidan an der Bar sitzen. Er dreht sich zu mir um und grinst mich schief an. Ich tue, als würde ich es nicht bemerken, und betrete die Vorratskammer.
»Haben wir noch was von dem Holunderblütentee, den wir zum Mittagessen gemacht haben?«
Stille. Alle sind entweder beschäftigt oder ignorieren mich. Yuwanda, neben Eric und mir die dritte Musketierin, weiß es bestimmt, aber sie ist im Gastraum und erklärt vermutlich gerade irgendwem, was einen Gewürztraminer von einem Riesling unterscheidet. Ich sehe mich weiter um und entdecke den Krug schließlich hinter einem Bottich Ranch-Dressing. Es ist ungefähr noch eine Tasse übrig.
Perfekt.
Ich kehre rasch wieder zurück. Aidan wartet. Seine Hände liegen auf der Theke. Im Gegensatz zu den meisten von uns holt er nicht sofort das Handy heraus, wenn er allein ist. Er weiß einen ungestörten Moment zu schätzen.
»Entschuldige, dass du warten musstest.«
Er sieht zu, wie ich einen Zuckerwürfel und eine Orangenscheibe in das Glas fallen lasse und einen Spritzer Angosturabitter darübergieße. Ich gebe einen Eiswürfel dazu, dann den Tee und rühre um. Mit einem weiteren Löffel – nichts wirkt jämmerlicher an einer Barfrau als Plastikhandschuhe – fische ich eine Maraschino-Kirsche aus einem Einmachglas.
»Voilà.«
Er lächelt über meinen aufgesetzten französischen Akzent. Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus. Ich schiebe das Glas zu ihm hin. Er hält es sich vor das Gesicht und schnuppert daran. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich keine Ahnung habe, was dieser Mann abgesehen von Cherry Coke sonst noch gerne trinkt.
»Was ist das?«, fragt er.
»Ein Virgin Old Fashioned.«
Er grinst. »Altmodisch und eine Jungfrau? Das passt ja gut zusammen.«
Mir wird heiß. Ich schäme mich für meinen Körper: Bei der geringsten Andeutung von Sex laufe ich rot an, und meine Hände hinterlassen feuchte Abdrücke auf dem Tresen.
Während ich noch über eine geistreiche Erwiderung nachgrüble, trinkt er einen Schluck, schmatzt mit den Lippen und stellt das Glas wieder ab. »Gut.«
Mir werden die Knie weich. Ich hoffe, er bekommt nicht mit, wie meine Schultern, mein Gesicht, meine Finger, alle Muskeln in meinem Körper vor Erleichterung regelrecht erschlaffen. »Freut mich, dass er dir schmeckt.«
Links von mir trommeln Fingernägel auf den Tresen. Cora. Sie braucht einen Wodka Martini und einen Bellini. Ich fülle ein Martiniglas mit Eis und wende mich ab, um nach einer offenen Champagnerflasche zu suchen.
Aidan Thomas lässt den Eiswürfel in seinem Glas kreisen. Er trinkt einen Schluck und schwenkt das Glas erneut. Dieser schöne Mann, dem unsere Stadt so viel verdankt. Der vor einem Monat seine Frau verloren hat. Obwohl er keinen Alkohol trinkt, sitzt er allein an meiner Theke. Ich möchte gern glauben, dass ihm diese Angewohnheit hilft, die Lücke zu füllen, die in seinem Leben klafft. Dass dies alles – unser gemeinsames Schweigen, unsere wortlosen Routinen – ihm auch etwas bedeutet.
Jeder in der Stadt kann eine Geschichte über Aidan Thomas erzählen. Wenn du ein Kind bist, ist er vielleicht kurz vor der Weihnachtsparade mit seinem Werkzeuggürtel bei dir aufgetaucht, um die Schrauben an deinem wackligen Schlitten festzuziehen, und hat anschließend dein Rentiergeweih gerade gerückt.
Als bei dem fürchterlichen Sturm vor zwei Jahren ein Baum auf das Haus des alten Mr. McMillan fiel, ist Aidan sofort hingefahren. Er hat einen Notstromgenerator aufgestellt und die Leitung geflickt. Danach ist er einen Monat lang jedes Wochenende angerückt, um das Dach zu reparieren. Mr. McMillan hat versucht, ihn für seine Mühe zu bezahlen, aber Aidan wollte partout kein Geld annehmen.
Die Aidan-Thomas-Geschichte meiner Familie ereignete sich, als ich dreizehn war. Damals gab mitten im abendlichen Hochbetrieb plötzlich der Kühlraum unseres Restaurants den Geist auf. Ich habe vergessen, was genau passiert ist, aber es war ohnehin immer das Gleiche – ein kaputter Motor oder ein fehlerhafter Stromkreislauf. Mein Vater überlegte fieberhaft, wie er den Schaden beheben und gleichzeitig die Küche weiterbetreiben sollte. Ein freundlicher Mann namens Aidan Thomas, der mit seiner Frau zum Abendessen da war, bekam es zufällig mit und bot seine Hilfe an. Nach kurzem Zögern zuckte mein Vater in einer für ihn ungewöhnlichen Aufwallung von Schicksalsergebenheit die Achseln und führte ihn in die Küche. Aidan Thomas verbrachte den Großteil des Abends auf Knien, fragte höflich nach Werkzeugen und beruhigte das nervöse Personal.
Am Ende der Schicht hatte sich nicht nur der Lagerraum, sondern auch das Temperament meines Vaters wieder einigermaßen abgekühlt. Er bot Aidan Thomas und dessen Frau in der Küche Birnenbrandy an. Sie lehnten beide ab: Er trank nicht, und sie war seit ein paar Wochen schwanger.
Ich half an diesem Abend im Restaurant aus, ganz wie es sich für das Kind des Eigentümers gehört. Als ich zum Pult der Empfangsdame ging, um die Schale mit den Pfefferminzbonbons aufzufüllen, sah ich Aidan Thomas im Gastraum stehen. Er durchwühlte seine Manteltaschen, wie Gäste es vor dem Aufbruch häufig tun, um sicherzugehen, dass ihre Geldbeutel, Handys und Autoschlüssel noch da sind. Aus der Küche drang ein Lachen. Mein Vater, ein begnadeter Küchenchef mit einem Hang zum Perfektionismus, der sich in zahlreichen Wutausbrüchen entlud, wirkte in dem Restaurant, das er selbst eröffnet hatte, ausnahmsweise mal entspannt. So glücklich hatte ich ihn selten erlebt.
»Vielen Dank.«
Aidan Thomas blickte auf, als hätte er mich gerade erst bemerkt. Am liebsten hätte ich die Worte, die noch immer zwischen uns in der Luft hingen, sofort wieder zurückgenommen. Als Mädchen lernt man schon früh, den Klang seiner eigenen Stimme zu hassen.
Aidan Thomas lächelte. Er zwinkerte und antwortete mit einer leisen, rauen Stimme, die mich ganz tief in meinem Inneren berührte, in einem Teil meines Körpers, von dessen Existenz ich zuvor noch gar nichts gewusst hatte: »Sehr gern geschehen.«
Seine Reaktion hatte nichts und alles zu bedeuten. Sie war ganz einfach nur höflich und unendlich freundlich. Ein Glorienschein, der auf ein im Verborgenen existierendes Mädchen fiel und ihm das Gefühl gab, gesehen zu werden.
Das war es, was ich am meisten brauchte. Auch wenn mir bis dahin gar nicht...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2023 |
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Übersetzer | Urban Hofstetter |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Quiet Tenant |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • Alice Sebold • Amerikanischer Thriller • Debüt • eBooks • Emma Donoghue • Entführung • Flucht • Gefangenschaft • Isolation • Krimi • Kriminalromane • Krimis • looked room thriller • Mord • Neuerscheinung • New York • paperback neuerscheinung 2023 • Psychothriller • Romy Hausmann • Serienkiller • Spannung • Thriller • USA |
ISBN-10 | 3-641-29937-3 / 3641299373 |
ISBN-13 | 978-3-641-29937-8 / 9783641299378 |
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