Rilke. Der ferne Magier (eBook)
608 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-21627-6 (ISBN)
Rainer Maria Rilke ist auch nach über einhundert Jahren ein Welteröffner. Er verführt seine Leser zur existenziellen Selbstbefragung und fordert Entschlüsse: »Du musst dein Leben ändern.« Seine Dichtung, das stellt Gunnar Decker auf faszinierende Weise heraus, war immer auch eine Reaktion auf die Krisen der Gegenwart, der Versuch, sich eine Gegenwelt zu erschreiben, die für ihn lebenswerter war als jene, die er in Prag, München, Worpswede, Moskau, Berlin, Rom, Duino, Venedig oder Paris vorfand. So scheinen Rilkes ruheloses Leben und sein metaphysische Fragen umkreisendes Werk auf einzigartige Weise verwoben. In seiner wunderbar erzählten Biographie widmet sich Decker auch erstmals Rilkes schwierigem Verhältnis zu seiner Mutter Phia, dem Nicht-Verhältnis zu seiner lebenslangen Ehefrau Clara und zur Tochter Ruth. Er beschreibt seinen Kampf gegen den körperlichen Verfall, der einen Schlüssel zum Verständnis des Werkes bietet, und deutet seinen Entschluss nach dem Ersten Weltkrieg, kein deutscher Dichter mehr sein zu wollen. Ein neuer, überraschender Blick auf eine der schillerndsten Dichterfiguren unserer frühen Moderne.
Gunnar Decker wurde 1965 in Kühlungsborn geboren, studierte an der Berliner Humboldt-Universität Philosophie und promovierte 1994 über Ketzergeschichte. Er lebt als Autor und Journalist in Berlin, veröffentlichte vielfach gelobte Biographien wie »Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns« (2009), »Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten« (2012), »Franz von Assisi. Der Traum vom einfachen Leben« (2016), »Ernst Barlach. Der Schwebende« (2019) und »Rilke. Der ferne Magier« (2023). Ferner erschienen die Geschichtsbücher »1965. Der kurze Sommer der DDR« (2015) und »Zwischen den Zeiten. Die späten Jahre der DDR« (2020). 2016 wurde er mit dem von der Berliner Akademie der Künste verliehenen Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet.
Prolog
Hälfte des Lebens
Er weiß nicht, dass nun bereits die zweite Hälfte seines Lebens beginnt. Rainer Maria Rilke ist 1901 gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alt. Aber dass sich eine folgenreiche Veränderung mit ihm vollzieht, weiß er wohl.
Er blickt ab jetzt anders auf sich selbst, schaut anders zurück auf seine Prager Kindheit, sein Leben als Sohn, seine ihn überwältigende Liebe zu Lou Andreas-Salomé, die die wichtigste Frau seines Lebens bleiben wird. Aber auch das ahnt er noch nicht.
Rilke bedenkt seine Mission als Dichter wieder einmal neu – nun vor dem Hintergrund zweier Russland-Reisen mit Lou. Bringt Worpswede die Rettung oder aber Rodin in Paris, zu dem er im Jahr darauf reist?
Da drängt einer in allem, was er unternimmt, erwartungsvoll nach vorn, doch die Zukunft verbirgt sich ihm. Dem Ungewissen trotzt er mit einer männlichen Entschlossenheit, die ihn selbst erstaunt.
Am Ende des Jahres 1901 scheint Rainer Maria Rilke ein anderer zu sein als noch zu dessen Beginn. Unerwartet ernst ist die Lage, in der er sich befindet. Am 28. April hatte er Clara Westhoff geheiratet. Die ist zweiundzwanzig Jahre alt und dabei, Bildhauerin zu werden, aber nun erst einmal schwanger. Die Westhoffs in Bremen sind evangelisch, die Rilkes in Prag katholisch. Rilke löst diesen konfessionellen Konflikt dadurch, dass er – ohne zu zögern, erst recht, ohne es jemals zu bedauern – aus der katholischen Kirche austritt. (In seiner Heiratsurkunde, so wird sich später zeigen, ist diese kurz zuvor ausgestellte Austrittsbescheinigung jedoch nicht berücksichtigt worden – und er wird darin als katholisch aufgeführt.[2])
Die Kaufmannsfamilie Westhoff ist nicht arm, zum Glück für das junge Ehepaar. Denn das hat fast keine Einnahmen. Rilke lebte bislang von einem Stipendium, das sein bereits 1892 verstorbener Onkel Jaroslav ihm für die Zeit seines Studiums gestiftet hatte. Seine Töchter zahlten es nach dessen Tod widerwillig weiter, wohl wissend, dass ihr Cousin nur ein Alibi-Studium in Prag, München und Berlin absolvierte. Aber damit ist zum Jahresende 1901 Schluss. Soeben sechsundzwanzig Jahre alt geworden, wird Rilke am 12. Dezember Vater einer Tochter, die die Eltern Ruth nennen. Die Vaterrolle liegt ihm nicht, ebenso wenig wie die eines Ehemannes.
Rilke heiratet Clara Westhoff auch, weil seine bereits vier Jahre andauernde Beziehung mit Lou Andreas-Salomé abrupt zu Ende gegangen war. Lou Andreas-Salomé, die vierzehn Jahre ältere, überaus selbstbezogene Intellektuelle, fühlte sich von Rilke zunehmend okkupiert, entschloss sich, ihn loszuwerden, wohl wissend, wie sie am 10. Januar 1901 in ihr Tagebuch notierte: »Ich bin ein Scheusal. (Schlecht war ich auch gegen Rainer, aber dies tut mir nie weh.)«[3]
Will er Lou mit seiner Eheschließung beweisen, dass er sehr wohl zu einer entschlossenen Tat fähig ist, der Gründung einer eigenen Familie? Doch wie soll der junge Dichter diese ernähren? Rilke hofft immer noch auf einen Durchbruch als Dramatiker, am 20. Dezember hat sein Stück »Das tägliche Leben« am Berliner Residenztheater Premiere. Ein heftiger Misserfolg. Das Berliner Publikum lacht an den besonders pathetischen Stellen. Rilke, ein ausgelachter Dramatiker!
Doch gibt er sich in einem Brief vom 28. Dezember 1901 betont optimistisch, interpretiert den Reinfall zum Erfolg um: Der große Mißerfolg meines Stückes in Berlin hat sich reichlich belohnt, durch Briefe vom Direktor und vom Oberregisseur des Theaters, darin beide unter Worten des Vertrauens und der Anerkennung, entgegen der Meinung des Publikums, sagen, daß sie an mein Stück und seine Vorzüge glauben nach wie vor.[4]
Dass man mit Gedichtbänden wie »Mir zur Feier«, der 1899 erschienen war, kein Geld verdient, war ihm bereits bekannt. Also versucht er sich – intensiver noch als bisher – als Journalist und verfasst in hoher Frequenz Buchbesprechungen für verschiedene Zeitungen und Magazine. Bislang fiel es ihm nie schwer, viel zu schreiben. Doch immer mehr wird Rilke, inmitten der Fülle seiner Produktion, auch des Gewichts der Worte gewahr, das oft schwer zu tragen ist.
Plötzlich ist da ein neuer, geradezu sachlicher Ton in seinen Texten, der aufmerken lässt. Diesen Ton hatte Lou immer wieder angemahnt, aber auf ihrer zweiten gemeinsamen Russland-Reise sah sie Rilke erneut im Sumpf bodenloser Schwärmerei versinken, den sie bei ihm schon überwunden glaubte.
Nun, da Rilke, der sich beim Schreiben beeilen muss, keine Zeit hat, sich in einen stilisierten Ton hineinzusteigern, trifft er in seinen Rezensionen, darunter für den »Berliner Börsen-Courier«, für Maximilian Hardens »Die Zukunft«, auch für das »Bremer Tageblatt«, den Nerv von Neuerscheinungen junger Autoren wie Thomas Mann, dessen »Buddenbrooks« er bespricht. Auch über Ellen Keys »Das Jahrhundert des Kindes« wird er schreiben – und sich mit der Autorin anfreunden. Schnell ist klar: Hier versteht jemand etwas von Literatur.
Aber was nutzt ihm das, da er als Familienvater doch Geld verdienen muss und die Honorare für seine so bemerkenswerten Rezensionen nur tröpfeln? Er versucht, eine Stelle als Redakteur bei einer Zeitung, egal welcher, zu bekommen, ein festes Einkommen wäre ihm das höchste Ziel – aber vergeblich. So muss er im Juli dieses Jahres, das zur Mitte seines Lebens wird, konstatieren, dass sie arme, sehr arme Leute sind.[5] Dabei hat er genau ausgerechnet, was sie beide monatlich verdienen müssten, um in Westerwede im eigenen Haus als kleine Familie leben zu können: 250 Mark!
Er wird also zum Auftragsschreiber, bietet überall seine Dienste an. Aber beliebig will er trotz der finanziellen Notlage nicht werden. Als ihm der S. Fischer Verlag vorschlägt, ein Buch über Walther von der Vogelweide herauszugeben, sagt er am 31. Mai 1901 dankend ab. Dieser Dichter sei ihm zu fremd, heißt es in seiner Antwort an den Verlag: In einer Zeit, da ich noch viel Mitteldeutsch las, hielt sein »politisch Lied« mich oftmals ab, Walther blindlings lieb zu haben. Und ich bin seither nicht geneigter geworden, politische Lyrik zu ertragen.[6]
Aber so jung der Dichter auch immer noch ist, er gibt sich betont gebrechlich – das verbindet ihn mit seiner Mutter Phia – und befindet sich als Dauerrekonvaleszent immer nach und schon wieder vor einer Krankheit. Das ist bereits jetzt eine Konstante in seinem Leben und wird es auch in der nun beginnenden zweiten Lebenshälfte bleiben.
Erst im Dezember 1923 – da hat er noch drei Jahre zu leben – überwindet ihn die Krankheit, mit der er bislang ein spielerisches Verhältnis zu unterhalten versuchte. An ihre ständige Gegenwart hatte er sich längst gewöhnt, mal war sie mehr, mal weniger belastend.
Vermutlich sind es nun die nicht weichen wollenden – und sich dann plötzlich massiv verstärkenden – Folgen einer Virusinfektion, die ihn dauerhaft schwächen, ihm jede Reise- und Arbeitslust rauben. Kaum vermag er es nun mehr, kurze Spaziergänge zu unternehmen, in die nächste Stadt zu fahren. Nachts liegt er wach, am Tage ist er zu müde, um sich zu konzentrieren.
An Max Picard wird er darüber am 12. November 1926 schreiben: Niemand wird je erklären können, w a s dieses reine Ineinandergreifen meines Daseins hat verstören dürfen: soviel steht fest, daß ich Tag und Stunde nennen kann, da, von einem Augenblick zum anderen, als ob ein Pakt abgelaufen sei, meine reinste Sicherheit mir gekündigt schien: plötzlich, im Ablauf einer einzigen Minute, war ich mit allem, was ich bin, auf eine schiefe Ebene gestellt. Das werden nun im Dezember drei Jahre sein.[7]
Diese mysteriöse Gefangensetzung in einem hellwach-müden Zustand dauert bis zu seinem Tod. Oft steht er nun erst am späten Nachmittag auf, verdämmert die Tage – und schreibt dennoch gegen die wachsende innere Lähmung an, nicht nur Briefe, auch Übersetzungen von Paul Valéry oder André Gide. Wie ein Seismograph registriert er den in ihm wachsenden Tod, sucht nach einem Ausdruck für das Unbekannte, das von ihm Besitz ergreift.
Auch im Herbst 1901 ist die Lage ernst, fast schon verzweifelt. Immerhin unterstützt nun Rilkes Vater Josef seinen Sohn finanziell. Und der arbeitet hart, wenn auch nicht kontinuierlich. Aber – gelegentlich – hart arbeiten und als Autor Geld verdienen sind zweierlei Dinge. Rilke greift nach jedem Strohhalm. So bewirbt er sich beim Landgrafen Alexander Friedrich von Hessen als Vorleser, wahlweise als Gesellschafter – auch das vergeblich. Zum Glück für Rilke, denn solche Haushofmeisterstellen, wie Hölderlin eine durchlitt, gehören doch eher ins 18. Jahrhundert – und waren für die Betreffenden immer demütigend. Das weiß auch Rilke und arbeitet nun an einem anderen, würdigeren Weg hin zu Adel und Schlössern: als gern gesehener und respektierter Gast. Dazu jedoch muss er als Dichter unbedingt erfolgreich werden.
Dieses Buch fragt nach Wendepunkten und Widersprüchen in Rilkes Leben, nach seiner Auffassung von Religiosität im Verhältnis zur Kunst. Ebenso nach verwandelnden Begegnungen mit Menschen und Orten, die in seinem Werk einen Resonanzraum finden. Paris mit all seiner Anziehungs- und Abstoßungskraft, so wird sich zeigen, ist der Mittelpunkt seines Lebens, und neben dem großen Bogenschlag zwischen Liebe und Tod bleiben immer auch die...
Erscheint lt. Verlag | 1.11.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 2023 • Auguste Rodin • Biografie • Biographien • Clara Westhoff • Der Panther • Der Schwebende • Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge • Die Sonette an Orpheus • Dinglyrik • Duineser Elegien • eBooks • Fin de siècle • Frankreich • Franz von Assisi • Friedrich Nietzsche • Herbsttag • Hugo von Hofmannsthal • Literarische Moderne • Lou Andreas-Salomé • Lyrik • Marcel Proust • Neuerscheinung • Österreich • Paula Modersohn-Becker • Prag • Stefan George • Worpswede |
ISBN-10 | 3-641-21627-3 / 3641216273 |
ISBN-13 | 978-3-641-21627-6 / 9783641216276 |
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