Krähentochter (eBook)
352 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-30737-0 (ISBN)
Småland, März 1986. Eisnebel hängt über den beiden spiegelglatten Seen, die wie leblose Augen in der kargen Landschaft wirken. Bei ihrem Anblick fröstelt es die frisch zur Polizistin ausgebildete Sanna, denn zwei Jahre zuvor wurden genau hier die blutigen Überreste eines verschwundenen Mädchens in zwei weißen Koffern gefunden. Der grausame Mörder sitzt seitdem hinter Gittern - zumindest glauben das die Einwohner des Dorfes Augu. Als Sanna erfährt, dass erneut ein Mädchen aus dem Ort vermisst wird, stellt sie auf eigene Faust Nachforschungen an und stößt auf Unstimmigkeiten in der damaligen Beweisführung. Auch wenn die Einwohner ihr mit Misstrauen und Ablehnung begegnen, gibt sie nicht auf. Je mehr sie sich im Dickicht aus Lügen und Geheimnissen verfängt, desto entschlossener ist sie, die Wahrheit ans Licht zu zerren und das verschwundene Mädchen zu finden, bevor es erneut zu spät ist ...
»?Fuchsmädchen? ist zweifellos ein Thriller-Highlight des Jahres! Maria Grund liefert eine packende Geschichte ab, in der einfach alles passt und stimmig ist.« Krimi-Couch.de über »Fuchsmädchen«
Die Berling-und-Pedersen-Reihe im Überblick:
1. Fuchsmädchen
2. Rotwild
3. Krähentochter
Maria Grund wurde in einem Vorort von Stockholm geboren. Sie arbeitete viele Jahre als Drehbuchautorin in London und New York und lebt heute auf der schwedischen Insel Gotland. Ihr großes Thriller-Debüt »Fuchsmädchen« wurde für den Crimetime Award nominiert sowie von der Swedish Academy of Crime Fiction als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet. In Deutschland stürmte »Fuchsmädchen« sofort die SPIEGEL-Bestsellerliste.
KAPITEL 1
»Ich sehe, dass alles gut werden wird.«
Die Tarotkarten liegen fächerförmig ausgebreitet zwischen ihnen. Camilla deutet auf die Karte, die Jorun gerade ausgewählt hat. Das Schicksalsrad.
»Reicht das denn?«, fragt Jorun. »Müssen wir nicht noch mehr Karten ziehen?«
Camilla zuckt mit den Schultern und streckt sich nach den Netzhandschuhen auf dem Nachttisch, um sie Jorun in den Schoß zu werfen.
»Die sind für dich.«
»Ganz sicher?«
»Bald kann ich mir so viele neue Sachen kaufen, wie ich will.«
Jorun schiebt die Karten zu einem Stapel zusammen und auf Camilla zu.
»Hör auf, so zu reden.«
Camilla steht auf, zieht das rosa Kleid aus, das eigentlich zu dünn und kindlich ist. Sie streckt die Arme nach oben. Hinter ihr wirkt die vom Badezimmerlicht erleuchtete Türöffnung wie ein breiter Pfeiler.
»Du wirst schon sehen, ich werde berühmt, auf der ganzen Welt.«
Jorun beißt sich auf die Lippe.
»Hör auf, dir Sorgen zu machen, ja?« Camilla lacht. »Wir sind doch die Wonder Girls.«
»Dann erzähl schon … Was hast du gesehen?«
Camilla schüttelt den Kopf, beugt sich vor und gibt Jorun einen Kuss auf die Stirn. Riecht nach Rum und Zucker. Dann lächelt sie und verschwindet im Badezimmer.
Jorun streift die Stiefel ab und legt sich aufs Bett. Sie dreht sich von der Badezimmertür weg. Camilla betätigt die Spülung der rostigen Toilette, ein gurgelndes, erschöpftes Geräusch ertönt, als sich das Wasser durch die Rohre bewegt. Summend dreht sie die Dusche auf.
Das Zimmer ist dunkel, die Wände altrosa und fleckig. Vor den Fenstern hängen dicke Gardinen, nur durch einen Spalt fällt das Licht der blinkenden Neonreklame auf den schmutzigen Teppichboden. Auf Camillas Nachttisch steht eine Flasche Rum neben einer Dose Haarspray und einer Packung Jenka-Kaugummis. Der Motelaschenbecher ist voller Zigarettenstummel und Kaugummi. Über dem Stuhl in der Ecke hängt Camillas Unterwäsche.
Jorun zieht die Knie an den Bauch und schließt die Augen.
Camilla hat sie immer weggeschickt, wenn Jimmy oder andere Typen bei ihr auftauchten. In der Zeit hat Jorun etwas zu essen für sie organisiert, hat es aus Autos auf dem Motelparkplatz gestohlen oder von Paletten bei der Tankstelle in der Nähe, wenn neue Ware angeliefert wurde. Ein paarmal ist es ihr auch gelungen, Schnaps, Erdnüsse oder vergessene Zigarettenpackungen aus den Motelzimmern mitgehen zu lassen, bevor die Putzfrau kam. Neben der Tankstelle ist ein kleines Café, in dem sie sich etwas holen, wenn Camilla ein bisschen Extrageld verdient hat. Camilla liebt Süßes. Gestern haben sie sich Limonade leisten können. Camilla hat natürlich ihre geliebte Pink-Panther-Limo gekauft. Die Frau hinter der Kasse hat ihnen kopfschüttelnd noch eine Packung Milch und ein paar Äpfel aufgenötigt.
Die meisten Typen, die Jimmy zu Camilla mitbringt, sind Stammkunden. Bamse. Slinky. Der Pferdemann. Neulich wollte er auch für Jorun einen mitbringen, aber das hat Camilla verhindert, gesagt, sie sei zu jung. Jimmy sagt allerdings, dass er nicht ewig warten wird und dass Jorun allmählich ihre Schulden abzahlen muss. Immerhin wohnt sie schon seit einer Woche im Motel.
Jorun setzt sich auf die Bettkante. Sie raucht nur, wenn sie mal alleine ist, so wie jetzt, während Camilla duscht. Jedes Mal, wenn sie sich eine Zigarette anzündet, sieht sie ihre Mutter vor sich. Wie sie von Licht umgeben zu sein scheint, wenn sie am Dampfabzug steht und einen Rauchring bläst. Dann macht sie noch einen, den sie in den ersten schweben lässt. Das Licht wird immer heller, bis sie verschwindet. Wobei eigentlich Jorun verschwunden ist, dieses Zimmer hat sie verschluckt. Das Zimmer hinter dem Neonschild mit der Aufforderung Sleep.
Sie weiß, dass sie nicht rauchen sollte.
Das weiß sie sehr wohl.
Aber sie will nicht damit aufhören. Sie ist jetzt sechzehn, erwachsen, lebt ihr eigenes Leben.
Sie saugt den Rauch tief in die Lungen und denkt wieder an ihre Mutter. Mama ist schön, auch wenn sie zu viel raucht. Warum sieht Jorun ihr nicht ähnlicher? Sie ist hässlich und hat einen hässlichen Namen. Warum hat man ihr nicht einen normalen Namen geben können, wie Maria, Sara oder Jenny?
Noch ein Zug an der Zigarette. Ob Mama wohl gerade beim Dunstabzug steht? Bestimmt. Sie raucht und sieht aus dem Fenster, wie so oft am Abend. Der Schnee ist fast vollständig weggetaut. Vielleicht kommen bald die Schneeglöckchen durch. Mama mag Schneeglöckchen. Krokusse und die ersten Tulpen. Bestimmt steht sie am Fenster und schaut nach draußen.
Ihr leerer Magen meldet sich. Die Zimtschnecke, die sie vor ein paar Stunden gegessen hat, war klein. Die Rolle mit Karamellbonbons noch kleiner, außerdem trocken. Die Tarotkarten hat sie aus einem unverschlossenen Auto auf dem Parkplatz geklaut. Warum hatte sie nicht stattdessen etwas zu essen finden können?
Neben Camillas Kissen liegt eine Kekspackung. Als Jorun nach ihr greift, färbt Glitzer auf ihre Hand ab. Camilla mit ihrer ganzen Schminke ist wie eine Eiskunstlaufprinzessin, allerdings ohne Schlittschuhe und hübsche Kleider. Glitzer auf den Augenlidern, Glitzer auf den Wangen, Glitzer auf den Lippen. Jorun hasst Glitzer, aber wegen Camilla ist er überall. Die Kekspackung ist leer.
Stattdessen nimmt sie die Rumflasche vom Nachttisch und trinkt einen großen Schluck. Der Rum ist von Jimmy. Die Marke, die auch Musiker und Dichter trinken, sagt er.
Ein eiskalter Luftzug hüllt sie ein.
Plötzlich steht er in der Tür. Jimmy.
»Wo ist sie?«
Sein Gesicht glänzt verschwitzt, als wäre er gerannt. Das Hemd spannt über der Brust, er wirkt aufgebracht.
Mit einer hitzigen Bewegung stürzt er zum Badezimmer, den Kopf zur Seite gelegt, als lausche er Camilla, die mit weicher, samtiger Stimme unter der Dusche singt.
»Warte!«, ruft Jorun und eilt ihm nach.
Camilla schreit auf, als er den Duschvorhang zur Seite reißt. Er zerrt sie aus der Badewanne, schleift sie aus dem Bad und wirft sie aufs Bett.
»Spinnst du eigentlich total?«, keucht er.
Camilla setzt sich auf, zieht die Beine an die Brust.
»Die Typen an der Tankstelle sagen, dass du die Polizei angerufen hast«, fährt Jimmy fort. »Wegen Palme? Was glaubst du eigentlich, was du da machst? Was soll der Scheiß? Willst du uns die Bullen auf den Hals hetzen?«
Camilla schüttelt den Kopf.
»Du machst mich krank, kapierst du das?«, faucht Jimmy.
Jorun versucht unbeholfen, Camilla ein Handtuch zu geben.
Sofort verpasst Jimmy ihr eine Ohrfeige, und Jorun stolpert nach hinten gegen die Badezimmertür. Tränen brennen in ihren Augen.
Jimmys Gesichtsausdruck verändert sich. Sein Handgelenk zuckt kaum merkbar. Dann lässt er sich neben Camilla auf die Bettkante sinken, beugt sich über sie. Fährt mit zitternden Händen über ihren Körper. Über die Schenkel, die Arme.
»Wie oft habe ich dich schon gebeten«, murmelt er. »Mach nicht ständig Ärger.«
Er streicht mit den Händen über ihre Schultern, den Hals. Dann packt er sie plötzlich hart an der Kehle. Camilla versucht, seine Hände wegzuzerren, tritt wild um sich.
»Schh«, flüstert er, während er sie in die Matratze presst.
Joruns Herz verkrampft sich. Sie spürt, wie sie fällt. Die Wände kommen näher, senken sich über sie. Obwohl sie keinen Ton von sich gibt, dreht Jimmy sich zu ihr um.
»Wag es ja nicht zu schreien«, sagt er leise.
Die Tür ist zwei Meter entfernt, vielleicht drei. Nur ein paar Schritte am Bett vorbei, auf dem Camilla gerade im Laken verschwindet.
»Denk nicht mal daran.« Jimmy gibt Camilla frei.
Die hustet, reibt sich den Hals und tastet mit den Händen um sich. Unzusammenhängende Wortfetzen fallen aus ihrem Mund und ersterben in dem dunklen Teppich. Speichel rinnt über ihre Lippen.
Das Geräusch von fließendem Wasser erfüllt den Raum, die Dusche läuft immer noch. Jorun ist wie gelähmt.
Gegen Jimmy hat sie keine Chance.
Das weiß sie.
Da legt Jimmy wieder die Hände um Camillas Hals, presst die Daumen fest gegen ihren Kehlkopf. Jorun weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, aber es fühlt sich wie eine Ewigkeit an.
Sie atmet schwer.
»Bitte …«
Doch Jimmy macht weiter. Jorun hebt die zitternden, merkwürdig kalten Hände und stürzt sich auf ihn, schlägt die Fingernägel mit aller Kraft in ihn hinein.
Er schreit gellend auf, bekommt ihr Handgelenk zu fassen und schleudert sie hart zu Boden.
Er geht neben ihr in die Hocke und mustert sie. Der Raum dreht sich um sie, sie schmeckt Blut. Sie streckt sich nach einem Stuhl, aber Jimmy tritt ihn Richtung Tür.
»Verdammte Huren …«
Jimmys Stimme ist gedämpft, bedrohlich, wie von einem wilden Tier. Jorun schließt die Augen, will ihn ausblenden. Sie denkt an ihre Mutter im Licht des Dunstabzugs. Schneeglöckchen und Wonder Girls.
Ein gedämpftes Geräusch ertönt. Und noch eins. Und noch eins. Klopft da jemand an die Tür?
Doch Jimmy reagiert nicht.
Er legt sich auf sie, presst sie schwer in den Teppich, bis sie keine Luft mehr bekommt. Er legt die Hände um ihren Hals und drückt zu, bis alles ganz still wird und sie sich nicht mehr bewegen kann.
Die Luft wird zu Eis in ihren Lungen. Alles um sie herum wird still. Sie hört nur noch das Klopfen, wie ein Herzschlag.
Bilder zucken vor ihrem inneren Auge vorbei. Koffer, die aufgeklappt und geschlossen...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2024 |
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Reihe/Serie | Die Berling-und-Pedersen-Reihe | Die Berling-und-Pedersen-Reihe |
Übersetzer | Sabine Thiele |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Nattflygaren |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Schlagworte | 2024 • Anne Mette Hancock • Bestsellerautorin • Der Kastanienmann • eBooks • Fuchsmädchen • Hjorth Rosenfeldt • janni pedersen • Jens Henrik Jensen • Johanna Mo • kim faber • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Kristina Ohlsson • Neuerscheinung • Nordic Noir • oxen • Ragnar Jónasson • Samuel Björk • Schweden • schwedische Krimis • Skandinavische Krimis • Småland • Suspense • Thriller • thriller bestseller 2024 • Thriller neuerscheinung 2024 |
ISBN-10 | 3-641-30737-6 / 3641307376 |
ISBN-13 | 978-3-641-30737-0 / 9783641307370 |
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