Shalimar der Narr - Salman Rushdie

Shalimar der Narr (eBook)

Roman

(Autor)

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2023
544 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31284-8 (ISBN)
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Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
Vor dem Haus seiner unehelichen Tochter wird Maximilian Ophuls, dem ehemaligen US-Botschafter in Indien, von seinem muslimischen Chauffeur die Kehle durchgeschnitten. Was aussieht wie ein politisch motiviertes Attentat, ist ein zutiefst persönliches Drama. Dies ist die Geschichte von Max, von seinem Mörder und seiner Tochter - und von einer Frau, die am Anfang von allem steht. Die Geschichte einer tiefen Liebe, die verheerend endet. Eine Geschichte, die bis nach Kaschmir führt. Ein verlorenes Paradies auf Erden mit Pfirsichhainen und Honigbienen, Bergen und Seen, grünäugigen Frauen und mörderischen Männern, wo Menschen entwurzelt werden und Namen sich auf einmal ändern - nichts bleibt, wie es ist, und doch ist alles miteinander verbunden.
  • »Rushdies ergreifendstes Buch seit ??Mitternachtskinder??. Es ist eine Wehklage, eine Geschichte von Liebe und Vergeltung. Es ist eine Warnung.« (The Observer)
  • Über die Unversöhnlichkeit der Menschen und das Ende des Paradieses
  • »Ein Psychogramm des globalisierten Bewusstseins. Suggestiv und opulent erzählt.« (Der Tagesspiegel)
  • Dieses Buch trifft mitten hinein in das kulturelle Gedächtnis, das globalisierte Bewusstsein und vor allem in das Herz der Leser


Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

***

MIT VIERUNDZWANZIG JAHREN schlief die Tochter des Botschafters in den warmen, ereignislosen Nächten schlecht. Sie wachte oft auf, und selbst wenn der Schlaf sie schließlich überkam, gab ihr Körper nur selten Ruhe, warf sich hin und her und schlug um sich, als versuchte er, sich von grausamen, unsichtbaren Handschellen zu befreien. Manchmal schrie sie ängstlich in einer ihr unbekannten Sprache. Das hatten ihr Männer nervös gestanden. Nicht, dass es vielen Männern erlaubt gewesen wäre, bei ihr zu sein, wenn sie schlief. Die Zahl der Beweise war folglich begrenzt, Übereinstimmungen gab es selten, doch zeichnete sich ein Muster ab. Sie klinge guttural, hieß es in einem Bericht, knacklautig, als spräche sie arabisch. Tausendundeine-Nacht-Arabisch, die Traumzunge Scheherazades, dachte sie. Ein anderer nannte ihre Worte science-fiction-haft, klingonisch, als räusperte sich jemand in einer fernen Galaxie. Wie die von einem Geist besessene Sigourney Weaver in Ghostbusters. Aus einer Forscherlaune heraus beschloss die Tochter des Botschafters eines Abends, ein Tonband neben ihrem Bett laufen zu lassen, doch die vertraute und zugleich fremde Totenkopfhässlichkeit der Stimme auf der Kassette erschreckte sie dermaßen, dass sie die Aufnahme löschte, ohne damit etwas Wichtiges zu zerstören. Die Wahrheit blieb auch weiterhin die Wahrheit.

Diese unruhigen Phasen des Schlafredens waren zum Glück sehr kurz, und sobald sie endeten, versank sie für eine Weile schwitzend und keuchend in traumloser Erschöpfung. Dann schreckte sie wieder hoch und war in ihrer Verwirrung davon überzeugt, dass sich ein Eindringling in ihrem Schlafzimmer befand. Doch es gab keinen Eindringling. Der Eindringling war eine Abwesenheit, ein Negativraum in der Dunkelheit. Sie hatte keine Mutter. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben: So viel hatte ihr die Frau des Botschafters erzählt, und der Botschafter, ihr Vater, hatte es bestätigt. Ihre Mutter war eine Kaschmiri gewesen, und wie das Paradies, wie Kaschmir, war sie in einer Zeit vor aller Erinnerung verloren. (Jeder, der sie kannte, musste sich damit abfinden, dass die Worte «Kaschmir» und «Paradies» für sie identisch waren.) Sie erzitterte vor der Abwesenheit ihrer Mutter, einem leeren Wächterschatten in der Dunkelheit, und wartete auf das zweite Unheil, wartete, ohne zu wissen, worauf sie wartete. Kaum war ihr Vater gestorben – ihr genialer, kosmopolitischer Vater, ein Franko-Amerikaner («wie die Freiheitsstatue», hatte er gesagt), ihr geliebter, unausstehlicher, launischer Vater, dieser oft abwesende, unwiderstehliche Frauenheld –, schlief sie tief und fest, als hätte man sie von ihren Sünden freigesprochen, vielleicht sogar von den seinigen. Die Last der Sünde war weitergegeben worden. Sie glaubte nicht an Sünde.

Bis zum Tode ihres Vaters war sie daher keine Frau, mit der es sich leicht schlafen ließ, doch war sie eine Frau, mit der die Männer schlafen wollten. Sie hingegen fand männliches Begehren ermüdend, und der Drang ihres eigenen Begehrens blieb meist ungestillt. Die wenigen Liebhaber, die sie sich nahm, waren auf die eine oder andere Weise unbefriedigend, weshalb sie sich (als wollte sie das Thema damit beenden) bald für einen durchschnittlich hübschen Kerl entschied und seinen Heiratsantrag sogar ernsthaft in Erwägung zog. Doch dann wurde der Botschafter vor ihrer Haustür wie ein Halal-Hühnchen abgeschlachtet, verblutete an einer tiefen Halswunde, die ihm der Täter mit einem einzigen Hieb seiner Klinge beigebracht hatte. Am helllichten Tag! Was musste die Waffe geglitzert haben in der goldenen Morgensonne, diesem täglichen Segen oder auch täglichen Fluch dieser Stadt. Die Tochter des Ermordeten war eine Frau, die gutes Wetter hasste, doch die meiste Zeit des Jahres bot ihr die Stadt kaum etwas anderes, und sie musste sich mit langen, monotonen Monaten schattenlosen Sonnenscheins und trockener, schrundiger Hitze abfinden. An jenen seltenen Vormittagen jedoch, an denen sie aufwachte und der Himmel sich bedeckt zeigte, an denen eine Ahnung von Feuchtigkeit in der Luft hing, räkelte sie sich verschlafen in ihrem Bett, krümmte den Rücken und war für einen Moment froh, gar voller Hoffnung. Bis zum Mittag aber waren die Wolken unweigerlich fortgebrannt, und dann war es wieder da, dieses unehrliche Kinderzimmerblau des Himmels, das die Welt kindlich und rein aussehen ließ, und das grelle, unhöfliche Gestirn, das sie belästigte wie das zu laute Lachen eines Mannes in einem Restaurant.

In solch einer Stadt, so schien es, konnte es keine Grauzonen geben. Ohne alle Zweideutigkeit waren die Dinge, was sie waren, und nichts sonst, ihnen fehlten die Feinheiten von Nieselregen, Kälte und Schatten. Unter dem prüfenden Blick einer solchen Sonne blieb kein Platz, um sich zu verbergen. Überall waren die Menschen zur Schau gestellt, ihre spärlich bekleideten Körper glänzten im Sonnenlicht und erinnerten an Reklametafeln. Keine Geheimnisse, keine Tiefe, nur Oberfläche und Enthüllungen. Doch lernte man die Stadt erst kennen, entdeckte man, dass diese banale Klarheit einer Illusion gleichkam. Die Stadt war nichts als Verrat und Täuschung, eine sich rasant wandelnde, treibsandige Metropole, die ihre wahre Natur verbarg, die sich bedeckt hielt und trotz aller unübersehbaren Nacktheit verschwiegen gab. An einem solchen Ort brauchten selbst die Kräfte der Zerstörung nicht länger den Schutz der Dunkelheit. Sie brannten aus der morgendlichen Helligkeit heraus, blendeten das Auge und erdolchten die Menschen mit scharfem, tödlichem Licht.

Sie hieß India, Indien also. Und ihr gefiel der Name nicht. Man hieß doch nicht Australien oder Uganda, Inguschetsien oder Peru. Mitte der sechziger Jahre war Max Ophuls, ihr Vater (Maximilian Ophuls, aufgewachsen im französischen Straßburg zu einer früheren Zeit dieser Welt), Amerikas beliebtester und später skandalträchtigster Botschafter in Indien gewesen, doch das war kein Grund; schließlich hießen Kinder nicht Herzegowina, Türkei oder Burundi, nur weil ihre Eltern diese Länder besucht und sich dort womöglich danebenbenommen hatten. Sie war im Osten gezeugt worden – unehelich gezeugt und mitten in jenen Proteststurm hineingeboren, der die Ehe ihres Vaters durcheinander wirbelte und zerstörte und seine diplomatische Karriere beendete –, doch wenn das eine ausreichende Entschuldigung sein sollte, wenn es in Ordnung wäre, einem den Geburtsort um den Hals zu hängen wie einen Albatros, wäre die Welt voll mit Männern und Frauen, die Euphrat, Pisgah, Iztaccihuatl oder Wooloomooloo hießen. Mist, aber in Amerika war diese Art der Namensgebung nicht unbekannt, was ihre Argumente ein wenig verwässerte und sie richtig wütend machte. Nevada Smith, Indiana Jones, Tennessee Williams, Tennessee Ernie Ford: Ihnen allen schleuderte sie mit gestrecktem Mittelfinger lautlose Flüche entgegen.

«India» klang für sie immer noch falsch, exotisch, kolonial, ein Name, der die Aneignung einer Realität andeutete, die ihr nicht gehören konnte; und sie beharrte darauf, dass er sowieso nicht zu ihr passte, dass sie sich nicht wie Indien fühlte, obwohl ihre Haut von satter, tiefdunkler Farbe war, das lange Haar schimmernd und schwarz. Sie wollte nicht riesig sein, nicht subkontinental, exzessiv, vulgär oder explosiv, übervölkert, alt, lärmend, mystisch oder irgendwie Dritte Welt. Ganz im Gegenteil. Sie gab sich diszipliniert, gepflegt, nuanciert, vergeistigt, ungläubig, verhalten und gelassen. Sie sprach mit englischem Akzent, tat nicht heißblütig, sondern kühl. Das war der Charakter, den sie wollte, den sie mit großer Entschlossenheit für sich geschaffen hatte. Und es war die einzige Seite ihrer selbst, die man in Amerika – ihren Vater und jene Liebhaber ausgenommen, die sie mit ihren nächtlichen Neigungen vertrieb – von ihr kannte. Was ihr Innenleben betraf, ihre von Gewalt geprägte englische Geschichte, den unterschlagenen Bericht über gestörtes Verhalten, die Jahre der Kriminalität, die verborgenen Geschehnisse ihrer kurzen, doch ereignisreichen Vergangenheit, so standen diese Dinge nicht zur Debatte und interessierten die breite Öffentlichkeit auch nicht (oder jedenfalls nicht mehr). Heutzutage hatte sie sich fest im Griff. Das Problemkind in ihr wurde durch ihre Freizeitbeschäftigungen sublimiert, durch die wöchentlichen Boxstunden in Jimmy Fishs Boxclub auf dem Santa Monica Boulevard, Ecke Vine Avenue, in dem bekanntermaßen auch Tyson und Laila Ali trainierten und wo die kalte Wut ihrer Schläge dafür sorgte, dass die männlichen Boxer ihr Training unterbrachen, um ihr zuzuschauen; durch die zweiwöchentlichen Stunden mit dem Doppelgänger eines Clouseau attackierenden Burt Kwouk, einem Meister in der Nahkampfkunst Wing Chun; durch die sonnengebleichte, schwarz ummauerte Einsamkeit von Saltzmans Schießstand Moving Target draußen bei Palms 29, mitten in der Wüste, und – das Allerbeste – durch den Unterricht im Bogenschießen in Downtown Los Angeles, unweit vom Elysian Park, dem Geburtsort der Stadt, wo ihre neue Begabung zu rigider Selbstbeherrschung, die sie erlernt hatte, um zu überleben, sich zu verteidigen, zum Angriff eingesetzt werden durfte. Wenn sie ihren goldenen, olympischen Anforderungen genügenden Bogen spannte, den Druck der Sehne an ihren Lippen spürte, gelegentlich den Pfeilschaft mit der Zungenspitze berührte, dann merkte sie, wie eine Erregung sie überkam, und sie fühlte, wie es heiß in ihr aufstieg, während die für diesen Schuss zugestandenen Sekunden der Null entgegentickten, bis sie den Pfeil endlich fliegen ließ, sein lautloses Gift entfesselte und den fernen dumpfen Aufschlag genoss, mit dem das Geschoss ins Ziel traf. Pfeil und Bogen waren ihre Lieblingswaffen.

Ihrer Beherrschung unterwarf sie auch die seltsamen...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2023
Übersetzer Bernhard Robben
Sprache deutsch
Original-Titel Shalimar the Fool
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Die satanischen Verse • eBooks • Fantasy • friedenspreises des deutschen buchhandels • Indien • Kashmir • Liebe • Mitternachtskinder • Mord • Mörder • Neuerscheinung • Roman • Romane • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Taschenbuch • Tochter • Verbrechen • Vergeltung • victory city
ISBN-10 3-641-31284-1 / 3641312841
ISBN-13 978-3-641-31284-8 / 9783641312848
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