Blinde Tunnel (eBook)
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01763-4 (ISBN)
Tove Alsterdal, 1960 in Malmö geboren, zählt zu den renommiertesten schwedischen Spannungsautor:innen, ihre Romane erscheinen in 25 Ländern und wurden vielfach ausgezeichnet. Mit der Trilogie um Ermittlerin Eira Sjödin gelang ihr in Schweden ein Sensationserfolg, für «Sturmrot» erhielt sie den Schwedischen Krimipreis 2020 und den Skandinavischen Krimipreis 2021, ebenso wie «Erdschwarz» stand der Roman wochenlang auf Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste. Auch in Deutschland stiegen die Romane sofort in die Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste ein. Die Filmrechte sicherte sich eine Hollywood-Produktionsfirma.
Tove Alsterdal, 1960 in Malmö geboren, zählt zu den renommiertesten schwedischen Spannungsautor:innen, ihre Romane erscheinen in 25 Ländern und wurden vielfach ausgezeichnet. Mit der Trilogie um Ermittlerin Eira Sjödin gelang ihr in Schweden ein Sensationserfolg, für «Sturmrot» erhielt sie den Schwedischen Krimipreis 2020 und den Skandinavischen Krimipreis 2021, ebenso wie «Erdschwarz» stand der Roman wochenlang auf Platz 1 der schwedischen Bestsellerliste. Auch in Deutschland stiegen die Romane sofort in die Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste ein. Die Filmrechte sicherte sich eine Hollywood-Produktionsfirma. Hanna Granz, geboren 1977, hat in Bonn Skandinavistik und Literaturwissenschaften studiert. Seit 2012 arbeitet sie als freie Übersetzerin und hat u.a. Romane von Sofie Sarenbrant, Patrik Svensson und Alex Schulman ins Deutsche übertragen.
Hätte ich in diesen ersten Tagen morgens nicht allein am Tisch gesessen, hätte ich die Frau ganz hinten in der Ecke des Wirtshauses gar nicht bemerkt. Im Nachhinein verfälscht man die Eindrücke ja gern, sagt Dinge wie «man sah ihr an, dass sie hier fremd war» oder «sie schien ein Geheimnis mit sich herumzutragen», obwohl man zu dem Zeitpunkt viel zu sehr mit dem Menschen beschäftigt war, der einem beim Frühstück gegenübersaß, um die Einsamen zu bemerken.
Die Pension befand sich in einem Haus, dessen Putz längst bröckelte. Früher hatte «Gasthaus» an der Fassade gestanden, inzwischen waren die Buchstaben nur noch zu erahnen. Ein Geruch nach kaltem Rauch hing in den Gardinen und den abgewetzten Polstern. Die anderen Gäste waren vor allem einheimische Männer in verwaschener Kleidung, die hier morgens ihren Kaffee tranken und sich alle zu kennen schienen.
Die Frau in der Ecke passte einfach nicht hierher. Ihre Kostümjacke wirkte viel zu teuer an so einem Ort, und ihre blankgeputzten Schuhe gehörten eher in eine Bankfiliale als in diese kleine Stadt, deren einzige Touristenattraktion die Wanderwege in der Umgebung waren. An der Wand hinter ihr hing der Kopf eines toten Rehbocks.
Immobilien, dachte ich. Bestimmt war sie unterwegs, um ein paar der baufälligen Häuser aufzukaufen, die es hier im Ort überall gab, verlassen, mit zerbrochenen Fensterscheiben, Bäumen, die durch die Balkone wuchsen und sich in die einstmals so schönen Salons drängten.
Am dritten Tag begegneten wir uns an der Tür, und ich grüßte sie auf Englisch. Nahm einen britischen Akzent wahr, als sie mir antwortete, und fragte, ob sie in dem Wirtshaus wohne. Anschließend herrschte Schweigen, sodass ich viel zu viel redete, als wären die Pausen nur dazu da, um von mir gefüllt zu werden.
Dass ich ein Haus gekauft hätte oder eher gesagt ein Weingut, dass wir aber gerade erst eingezogen seien und noch kein Internet hätten. Und dass am Stadtrand, auf der anderen Seite des Flusses und im Schatten der Berge, der Empfang nicht so gut sei.
Deshalb würde ich jeden Morgen in die Stadt kommen, um zu frühstücken und bei der Gelegenheit Kontakt zur Umwelt aufzunehmen.
Sie hörte zu, ohne mich direkt anzusehen. Ich ergänzte, dass ich auch immer noch an der Bäckerei vorbeigehen und frisch gebackenes Brot kaufen würde, um es meinem Mann mitzubringen, damit sie nicht dachte, ich wäre einsam und verzweifelt auf der Suche nach jemandem, mit dem ich reden könnte.
«Er ist sehr beschäftigt mit den Renovierungsarbeiten, es ist viel zu tun, ja, Sie haben bestimmt gesehen, wie die Häuser hier in der Stadt teilweise aussehen …»
Die Frau schaute auf die Straße mit ihren heruntergekommenen Fassaden und Ziegeldächern hinaus, auf die kleine Kirche, die eingeklemmt hinter einem Kuhstall stand.
«Stadt?», sagte sie. «Würden Sie das wirklich als Stadt bezeichnen?»
Das anhaltende Unbehagen darüber, zu viel geredet zu haben, und der verachtungsvolle Ton in ihrer Stimme verflogen erst, als ich am bröckelnden Straßenrand entlang zurückging.
Selbst wenn ich bis an mein Lebensende hierbliebe, würde mir dieser Weg, der kurz vorm Fluss in die Landstraße überging, niemals langweilig werden. Er führte an einem schlossähnlichen Haus mit rissigen Säulen vorbei, das bis zum Dach von wildem Wein bewachsen war und auf dessen Mauer ein paar streunende Katzen lungerten. An der Brücke über den stetig dahinströmenden Fluss stand eine ehemalige Brauerei mit kaputten Fenstern, aus der es nach wie vor nach Hopfen und Malz roch, und dann die Klatschmohnfelder. In wallendem Rot breiteten sie sich am Ufer entlang bis zu den Bergen aus, hemmungslos, sinnlich, das sind die Worte, die mir dabei einfallen. Ich hatte solche Klatschmohnfelder seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen, als wir ein paar Sommer in einem Häuschen in Österlen verbrachten. Als ich später im Erwachsenenalter dorthin zurückkehrte, waren sie verschwunden. Jemand meinte, sie würden inzwischen als Unkraut betrachtet.
Daniel war wach, als ich zurückkam, ich roch den Duft frisch gebrühten Kaffees. Dann hatte er also zumindest den Herd in Gang bekommen oder den Wasserkocher, irgendetwas in dem Chaos aus alten Stromleitungen musste funktioniert haben. Ich hörte Lärmen und Hämmern aus dem Keller, packte die Einkäufe aus, rief, dass es frisches Brot gebe. Ließ Wasser für noch mehr Kaffee einlaufen, das inzwischen nicht mehr ganz so verfärbt vom Rost in den Leitungen war, und stellte die Mohnblumen, die ich gepflückt hatte, zu den Butterblumen und dem Wald-Storchschnabel in die Vase. Es kam mir seltsam vor, dass hier die gleichen Wiesenblumen standen wie zu Hause.
«Mann, ist das heiß hier oben», sagte Daniel, als er mit nacktem Oberkörper und einer feinen grauen Staubschicht im Haar und auf den Armen aus dem Keller kam.
Er stellte etwas ab, das wie ein Vorschlaghammer aussah, schwer und überdimensioniert. Solche Dinge lagen hier überall auf dem Hof verstreut, uraltes Werkzeug, von dem sich kaum noch sagen ließ, wozu es einmal gedient hatte. In einer Abstellkammer hatten wir die verschiedensten Mistgabeln und Hacken gefunden, wie wir sie noch nie zuvor gesehen hatten.
Daniel füllte sich ein Glas Wasser aus dem Hahn und trank es samt Rost, wischte sich mit einem der neuen Küchenhandtücher den Schweiß aus dem Nacken. Die Luft war heiß und stand still, schon im Mai waren es beinahe dreißig Grad. Eine Klimaanlage stand ganz oben auf unserer Liste.
«Bald bin ich durch», sagte er und ließ sich am gedeckten Tisch nieder. Drei Küchenstühle hatten wir gefunden, die einigermaßen stabil waren, keiner glich dem anderen. Ich konnte mich nicht entsinnen, dass irgendetwas im Keller absolute Priorität gehabt hätte, um das Haus bewohnbar zu machen. Vorsichtig strich ich ein wenig Staub aus seinem Haar.
«Was machst du eigentlich da unten? Willst du das Haus abreißen?»
Daniel lachte.
«So in der Art. Guck mal, hier.» Er streckte die Hand nach seinem Handy aus. Ich spürte den warmen Dampf, der von seiner Haut aufstieg, als ich mich neben ihn setzte, den schweren Geruch nach Schweiß, der seltsam fremd an dem Mann war, mit dem ich seit über zwanzig Jahren zusammenwohnte. In dem Leben, das wir bisher gemeinsam geführt hatten, schwitzte er im Grunde nur nach dem Laufen, und dann ging er direkt duschen. Oder manchmal wenn wir Liebe machten. Das hier jedoch war ein anderer Geruch, er trug die Feuchtigkeit des noch nicht eingerichteten Kellers in sich, Staub und Ungewaschenheit, Schweiß von gestern, darüber hinaus aber noch etwas anderes, das ich zuvor nicht an ihm gekannt hatte, eine Besessenheit, die ihm nicht erlaubte auszuruhen, bis er spätnachts ins Bett fiel. Morgens, wenn ich meinen Spaziergang zum Wirtshaus unternahm, schlief er noch wie ein Stein. Ich wusste nicht, ob er immer noch Schlaftabletten nahm, obwohl er gesagt hatte, er hätte damit aufgehört. Vermutlich war er direkt runtergegangen, nachdem ich mich auf den Weg gemacht hatte, um im Stehen eine Tasse Kaffee zu trinken und dann gleich nach dem Vorschlaghammer zu greifen. Der Appetit, mit dem er seine Brote verschlang, legte das jedenfalls nahe.
«Ich musste gestern vor dem Einschlafen darüber nachdenken», sagte er zwischen zwei Bissen. «Irgendetwas stimmt mit den Zeichnungen nicht.»
Er suchte ein Foto heraus, den Grundriss, den uns die Stadtverwaltung, bei der wir die Dokumente unterschrieben hatten, digital zugeschickt hatte. Es gab anscheinend keine Kopien, nur die Originale in einem großen, sperrigen Ordner.
«Wenn das hier ein Weingut war», sagte Daniel, «und es einen Keller gibt – warum gibt es dann keinen Weinkeller?»
Er vergrößerte das Foto. Ich kniff die Augen zusammen, um die verschwommenen Linien besser erkennen zu können, die Zeichnung schien vom Anfang des 19. Jahrhunderts zu sein, als das Haus vermutlich gebaut worden war. Er glaube, dass es eine Öffnung gebe, meinte Daniel, eine Tür weiter links, von der Treppe aus gesehen.
«Du weißt schon, wo der alte Schrank stand, wo das Mauerwerk freilag …» Daniel war ganz außer Atem vor Aufregung, oder war es die Hitze in der stickigen Küche? «Nirgendwo sonst im Keller gibt es solche einfachen Ziegelwände und im ganzen Haus gibt es kein sichtbares Mauerwerk.»
«Wäre toll, wenn es einen Weinkeller gibt.» Ich räumte das Frühstück ab oder eher das Mittagessen, Butter und Käse, bevor sie schmolzen. «Das wird schön, wenn wir erst mal so weit sind.»
«Anschließend kümmere ich mich sofort um die Klimaanlage, versprochen. Und um den Strom.»
«Alles gut.» Ich nahm meine Handtasche, um nach einem Zettel zu suchen, den ich tags zuvor im Eisenwarenladen bekommen hatte. Der alte Händler konnte weder Englisch noch Deutsch, aber mit Hilfe einer Übersetzungs-App und ein bisschen Zeichensprache hatte ich mich mit ihm verständigen können. «Es gibt anscheinend einen Elektriker in der Stadt, ich habe seine Nummer …»
«Das machen wir lieber selbst.» Daniel stand auf und griff wieder nach seinem Hammer. «Dann weiß ich wenigstens, was los ist, wenn etwas kaputtgeht.»
Ich nahm mir das Zimmer im Obergeschoss vor, das unser Schlafzimmer werden sollte, schrubbte das Fenster mit der Aussicht frei. Auch das stand nicht ganz oben auf unserer Liste, aber die schmalen Betten, die wir in der Kammer neben der Küche zusammengeschoben hatten, machten niemanden glücklich. Sobald ein paar Zimmer bewohnbar waren, wollten wir nach Prag fahren, neue Betten und andere Dinge kaufen. Es war, als passten unsere alten Möbel aus dem Reihenhaus in Älvsjö nicht hierher. Was wir geerbt...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2023 |
---|---|
Übersetzer | Hanna Granz |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2. Weltkrieg • Asa Larsson • Böhmen • DDR • Ehekrise • Eira Sjödin • Hakan Nesser • Henning Mankell • Kriegsverbrechen • Krimi • Kriminalroman • Krimi neuerscheinung 2023 • Krimis und Thriller • Mähren • Scandicrime • Scandi-Crime • Scandinoir • Schweden • Schwedenkrimi • schwedische Autorin • schwedische Krimis und Thriller • Schwedischer Krimipreis • skandinavische Krimis und Thriller • Skandinavischer Krimipreis • Spannung aus Schweden • Spannung aus Skandinavien • Sudetendeutsche • Tschechien • Tunnel • Vergangenheitsbewältigung • Vertreibung • Vertriebene • Weinfässer • Weingut |
ISBN-10 | 3-644-01763-8 / 3644017638 |
ISBN-13 | 978-3-644-01763-4 / 9783644017634 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 6,8 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich