Lichtspiel (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman | 'Ein Geniestreich von einem Roman, ein Buch, das bleiben wird.' ARD Druckfrisch
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
480 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01845-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lichtspiel -  Daniel Kehlmann
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Einer der Größten des Kinos, vielleicht der größte Regisseur seiner Epoche: Zur Machtergreifung dreht G. W. Pabst in Frankreich; vor den Gräueln des neuen Deutschlands flieht er nach Hollywood. Aber unter der blendenden Sonne Kaliforniens sieht der weltberühmte Regisseur mit einem Mal aus wie ein Zwerg. Nicht einmal Greta Garbo, die er unsterblich gemacht hat, kann ihm helfen. Und so findet Pabst sich, fast wie ohne eigenes Zutun, in seiner Heimat Österreich wieder, die nun Ostmark heißt. Die barbarische Natur des Regimes spürt die heimgekehrte Familie mit aller Deutlichkeit. Doch der Propagandaminister in Berlin will das Filmgenie haben, er kennt keinen Widerspruch, und er verspricht viel. Während Pabst noch glaubt, dass er dem Werben widerstehen, dass er sich keiner Diktatur als der der Kunst fügen wird, ist er schon den ersten Schritt in die rettungslose Verstrickung gegangen.  Daniel Kehlmanns Roman über Kunst und Macht, Schönheit und Barbarei ist ein Triumph. Lichtspiel zeigt, was Literatur vermag: durch Erfindung die Wahrheit hervortreten zu lassen.

Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Per-Olov- Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Sein Roman Die Vermessung der Welt war einer der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf den Bestsellerlisten und schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.

Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Per-Olov- Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Sein Roman Die Vermessung der Welt war einer der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf den Bestsellerlisten und schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.

DRAUSSEN


Was gibt es Neues am Sonntag


Warum bin ich in diesem Auto?

Ich sitze still. Wenn man sich nicht bewegt, kommt die Erinnerung manchmal zurück.

Aber es funktioniert nicht. Fest steht nur, der Fahrer raucht. Das Fahrzeug ist voll von schwerem Qualm. Meine Augen brennen. Mir ist schlecht. Der Mann hat graue Haare, auf seinen Schultern liegen Hautschuppen. Am Rückspiegel pendelt ein kleines Kreuz an einer Perlenkette.

Eins nach dem anderen. Der Fahrer hat mich abgeholt, hat mir die Tür aufgehalten, und die anderen haben mit offenen Mündern zugesehen, der dürre Franz Krahler, die dumme Frau Einzinger und auch der kleine Mann, dessen Name mir nie einfällt.

Denn eigentlich ist im Sanatorium Abendruh jeder Tag wie der andere. Beim Frühstück läuft das Radio, man geht in den Park, der Rücken schmerzt, es gibt Mittagessen, man schaut in die Zeitung und ärgert sich, während der Fernseher läuft; einige sehen zu, andere schlafen, immer hustet irgendwer zum Gotterbarmen. Dann ist es auch schon halb vier, und das Abendessen kommt, und danach liegt man wach und muss jede halbe Stunde auf die Toilette. Manchmal kommt Besuch, aber nie zu mir. Manchmal stirbt einer und wird weggebracht. Aber wer noch lebt, wird üblicherweise nicht von einem schwarzen Auto mit Chauffeur abgeholt.

Wir halten an einer Kreuzung, drei Jugendliche mit langen Haaren überqueren sehr langsam die Straße, der Fahrer kurbelt das Fenster hinunter und schreit, dass Halbstarken wie ihnen ein Krieg wieder guttun würde, und als sie ihn nicht beachten, wird er nur noch wütender. Er fährt los, schimpft aber dabei immer noch.

Und jetzt weiß ich wieder: ins Fernsehstudio.

Aber welche Sendung? Ich beuge mich vor und frage.

Der Fahrer dreht sich um und sieht mich durch die Rauchschwaden an, ohne zu verstehen.

Ich wiederhole die Frage.

Ihm doch egal, ruft er. Warum ihn denn so ein Scheißdreck interessieren solle!

Also sage ich nichts mehr.

Aber er kommt in Fahrt. In Ruhe lassen soll man ihn, in Ruhe! Sei das zu viel verlangt?

Als wir vor dem Funkhaus halten, hat er sich gerade wieder gefasst. Er steigt aus, geht ums Auto, öffnet mir die Tür. Er packt mich am Ellenbogen, zieht mich hoch. Das ist eine Frechheit, aber es hilft mir tatsächlich, ohne Sturz auf die Straße zu kommen.

Die Fassade des Funkhauses ist noch grauer, als es die Fassaden drum herum sind. Alle Häuser in Wien sind jetzt grau, bis auf ein paar, die dunkelbraun sind. Die ganze Stadt scheint mit Dreck überzogen. Im Winter ist der Himmel steinern und niedrig, im Sommer gelblich feucht. Selbst das war einmal anders. Wenn man alt genug ist, weiß man, dass in dieser Stadt aus Müll, Kohlenrauch und Hundescheiße sogar das Wetter nicht mehr ist wie früher.

Die Drehtür rotiert stockend, und für einen Moment habe ich Angst, dass meine Reise hier enden wird, aber ich komme hindurch, und in der Lobby wartet tatsächlich jemand auf mich: ein sehr dünner junger Mann mit klugem Gesicht und runden Brillengläsern, der mir die Hand gibt und sich als zuständiger Redakteur Rosenzweig vorstellt.

«Sehr gut», sage ich. Es freut mich immer, wenn junge Menschen höflich sind. Das kommt nicht mehr oft vor. «Zuständig wofür?»

«Für die Sendung.»

«Welche?»

Er sieht mich ein paar Sekunden an, bevor er fragt: «Was gibt es Neues am Sonntag?»

«Das weiß ich nicht.»

«Die Sendung!»

«Was?»

«So heißt die Sendung. Was gibt es Neues am Sonntag.»

Wovon redet dieser Mensch?

«Hier entlang bitte!» Er weist auf eine Tür am anderen Ende der Lobby. Ich folge ihm, wir gehen einen kurzen Gang entlang, dann stehen wir, und das ist jetzt gar nicht gut, vor einem Paternoster.

Die erste Kabine zieht vorbei, eine zweite folgt, in die dritte muss ich wohl, ich bekomme Angst, sie zieht ebenfalls vorbei. Komm, sage ich mir, du hast Schlimmeres erlebt. Als die vierte Kabine vor mir aufsteigt, schließe ich die Augen und taumele voran. Ich schaffe es hinein, wäre aber hingefallen, wenn er mich nicht an der Schulter gehalten hätte. Gut, dass er so schnell reagiert hat.

«Lassen Sie mich los», sage ich scharf.

Das Aussteigen ist natürlich noch schwerer. Aber er sieht es kommen, legt mir die Hand auf den Rücken und gibt mir einen kleinen Stoß. Ich taumele hinaus, er hält mich gottlob wieder fest.

«Lassen Sie das!», sage ich.

Es riecht nach Kunststoff, von irgendwoher kommt das Brummen großer Maschinen. Wir gehen einen Gang entlang, links und rechts hängen signierte Fotos von grinsenden Leuten. Ein paar kenne ich: Paul Hörbiger, Maxi Böhm, Johanna Matz und dort Peter Alexander, der aus irgendeinem Grund Einen großen Dank meinem lieben, lieben Publikum unter seine Unterschrift gekritzelt hat.

Der junge Mann öffnet eine Tür, auf der Maske steht. Vor einem Schminkspiegel sitzt ein dicker Kerl mit Vollbart, eine Kostümbildnerin steht hinter ihm und bearbeitet sein Gesicht mit einem Pinsel. Als sie zurücktritt, springt er so plötzlich auf, dass ich zusammenzucke, und umarmt mich. Er riecht nach Rasierwasser und Bier. Mit vor Glück weinerlicher Stimme fragt er: «Wie geht’s dir denn, Franzl?»

Ich murmle, dass es mir gutgeht, was eigentlich nie stimmt, jetzt gerade aber am allerwenigsten. Ich versuche, nicht einzuatmen. Sein Bart kitzelt auf meiner Wange.

«Und dir?», keuche ich.

«Ach Franzl, was soll ich sagen. Die Liesl ist vor zwei Jahren gestorben, und die Sache mit dem Wurmitzer ist nicht gut ausgegangen. Und ich sag noch zu ihm: Ferdl, das musst jetzt machen wegen der alten Freundschaft, aber hat er hören wollen? Und du weißt ja, ich bin dann lieber beim Senger geblieben, aber der war nicht ehrlich.»

Ich bekomme keine Luft. Wer zur Hölle ist das? Wer sind die Leute, von denen er redet? Endlich lässt er mich los, nimmt eine Lodenjacke mit Hirschhornknöpfen vom Garderobenhaken, groß wie ein Zelt, wirft sie sich um, geht hinaus.

Ich setze mich. Die Maskenbildnerin macht sich an meinem Gesicht zu schaffen und fragt, wie Maskenbildnerinnen das immer fragen, was ich denn tue und was mich in die Sendung bringt. Nie wissen sie es vorher, nie kennen sie jemanden, nie haben sie nachgeschaut, immer fragen sie.

«Herr Wilzek ist Regisseur», sagt der junge Mann, der mich hergebracht hat. Ich wünschte, er hätte mir seinen Namen gesagt, aber die jungen Menschen wissen nicht mehr, wie man sich benimmt.

Natürlich fragt sie jetzt, was für Filme ich so gemacht habe, und ich zähle mit dem gleichen mulmigen Gefühl wie immer meine drei mageren Titel auf: Peter tanzt mit allen mit Peter Alexander, Gustav und die Soldaten, auch mit Peter Alexander und mit Gunther Philipp, und Der Schlück, der geht als letzter heim mit Leuten, an die ich mich nicht erinnere.

Und jetzt fragt sie natürlich nach Peter Alexander. Wie der denn so sei. Der sei nämlich noch nie bei ihr gewesen zum Schminken, erstaunlicherweise. Sie hätte ihn ja so gerne einmal getroffen.

Ich erzähle die Anekdote, die ich immer erzähle. Schon am ersten Drehtag von Peter tanzt mit allen habe er seinen ganzen Text auswendig gekonnt. Dann habe man kurzfristig den Drehplan ändern müssen, und eine junge Schauspielerin, deren Namen ich lieber nicht nennen wolle, sie sei inzwischen recht bekannt, habe nur den Text für diesen Tag gelernt gehabt, und da habe Peter sie angesehen und gesagt: «Liebes Fräulein, mit Text ist es wie mit Pferden, wollen Sie wissen, warum?»

Gott, mein Spiegelbild! Im Sanatorium Abendruh haben wir keine Spiegel, weil keiner sich selbst rasiert; das macht jeden Morgen der Pfleger Zdenek. Und so kommt der Anblick unerwartet: meine Augen tief in den Höhlen, die schlaffen Hautsäcke, die eingerissenen Lippen, die faltig graue Haut auf dem kahlen Kopf. Das Sakko sitzt schief, weil die Schultern es nicht mehr füllen, die Krawatte hat nicht nur Flecken, sie ist auch schlecht gebunden, was nicht meine Schuld ist, weil ich schon lang keine Krawatte mehr binden kann, das hat auch Zdenek gemacht. Kann er sich keine Mühe geben? Wie oft kommt es schon vor, dass einer von uns ins Fernsehen gebracht wird? Ich schließe meine Augen, um mich nicht mehr sehen zu müssen. Es zischt, kalter Wind aus der Haarspraydose weht über meine Kopfhaut. Warum nur? Ich habe doch kaum Haare.

«Ja warum?», fragt die Kostümbildnerin.

Was ist los?

«‹Wie mit den Pferden›, hat er gesagt, warum?»

Was will sie von mir?

«Na gut», sagt sie nach einer Pause. «Fertig.»

Ich stehe auf, meine Knie geben nach, die Maskenbildnerin und der junge Mann stützen mich.

«Keine Sorge», sagt er, während er mich hinaus auf den Gang führt. An den Wänden hängen signierte Fotos von Paul Hörbiger, Johanna Matz, Peter Alexander. Mit dem habe ich einmal gearbeitet.

«Herr Professor Conrads wird Ihnen nur die Fragen stellen, die wir schon im Vorgespräch hatten. Sie erzählen ein paar von den alten schönen Geschichten, da kann nichts passieren. Herr Professor Conrads stellt immer nur Fragen, die ihm die Redaktion vorher aufgeschrieben hat. Und die Redaktion, das bin in dem Fall ich. Er improvisiert nie.»

«Ich muss auf die Toilette.»

Er sieht...

Erscheint lt. Verlag 10.10.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Babelsberg • Bestsellerautor • Deutsche Geschichte • Deutsche Literatur • deutscher Roman • Drittes Reich • Emigration • Film • Filmgeschichte • Gegenwartsliteratur • Georg Wilhelm Pabst • Greta Garbo • Historischer Roman • historischer roman zweiter weltkrieg • Hollywood • Joseph Goebbels • Kino • Kinogeschichte • Literatur Bestseller • Louise Brooks • Nationalsozialismus • Ostmark • Regisseur • Roman 2023 • Shoah • Stummfilm • Teufelspakt • Ufa • Weltliteratur • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-644-01845-6 / 3644018456
ISBN-13 978-3-644-01845-7 / 9783644018457
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