Das Lied der Stare nach dem Frost (eBook)

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2023 | 1. Auflage
496 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01909-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Lied der Stare nach dem Frost -  Gisa Klönne
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Ein Pfarrhaus am See, flüsterndes Schilf und uralte Bäume: In Mecklenburg hat Rixa als Kind glückliche Sommer verbracht. Nun ist ihre Mutter unter rätselhaften Umständen verstorben, und Rixa begibt sich auf Spurensuche. Sie stößt auf Geheimnisse, die von der deutschen Teilung bis in die NS-Zeit zurückreichen. Geheimnisse, die nicht nur ihre Mutter tief geprägt haben, sondern auch ihr eigenes Leben überschatten. Rixa erkennt: Wenn sie nach vorn schauen und ihren Weg als Musikerin gehen will, muss sie herausfinden, was damals geschah. In ihrem SPIEGEL-Bestseller zeichnet Gisa Klönne das Porträt einer evangelischen Pfarrersfamilie im 20. Jahrhundert - vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart.

Gisa Klönne, geboren 1964, lebt als Schriftstellerin, Schreibcoach und Yogalehrerin in Köln. Bekannt wurde sie mit ihren Kriminalromanen um die eigenwillige Kommissarin Judith Krieger. Die Reihe wurde in mehrere Sprachen übersetzt und unter anderem mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Ihr autobiografisch inspirierter Familienroman «Das Lied der Stare nach dem Frost» war ein SPIEGEL-Bestseller. Klönnes Bücher erreichten eine Gesamtauflage von über einer halben Million. Zuletzt erschien bei Rowohlt von ihr der Familienroman «Für diesen Sommer».

Gisa Klönne, geboren 1964, lebt als Schriftstellerin, Schreibcoach und Yogalehrerin in Köln. Bekannt wurde sie mit ihren Kriminalromanen um die eigenwillige Kommissarin Judith Krieger. Die Reihe wurde in mehrere Sprachen übersetzt und unter anderem mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Ihr autobiografisch inspirierter Familienroman «Das Lied der Stare nach dem Frost» war ein SPIEGEL-Bestseller. Klönnes Bücher erreichten eine Gesamtauflage von über einer halben Million. Zuletzt erschien bei Rowohlt von ihr der Familienroman «Für diesen Sommer».

2. Rixa


Die Luft in der Ankunftshalle war stickig und trocken und auf eine Weise geheizt, die nicht wärmte. Die Schneemassen vor den Fenstern ließen das Flughafenszenario irreal wirken, als wären wir in Sibirien oder irgendwo in Skandinavien gelandet, aber nicht in Berlin. Doch vielleicht lag das an mir oder an meinem Zeitgefühl, das dem Flug hoffnungslos hinterherhinkte. Es kam mir tatsächlich so vor, als hätte ein Teil von mir noch gar nicht verstanden, was eigentlich geschehen war, sondern säße immer noch in diesem unglaublich weichen Seychellensand und freute sich darauf, am Abend mit Lorenz ein paar neue Songs auszuprobieren.

Passagiere drängelten sich an mir vorbei, irgendwo weinte ein Baby, zwei dunkelhäutige Frauen mit riesigen Hüten und bunten Seidenkleidern schritten zur Passkontrolle wie zwei Königinnen, die im Begriff sind, dieser seltsam bleichen, uniformierten Spezies Mensch in den Glaskabinen eine Audienz zu gewähren.

Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus. Schubert. Die Winterreise. Wie aus dem Nichts war sie auf einmal da. Die so sparsam gesetzte Klavierpartitur, das Moll der Gesangsstimme, die sich daran anschmiegte, die Worte. Wann hatte ich die Winterreise zuletzt gespielt? Es war Jahre her, ich wusste es nicht mehr. Aber ich wusste noch genau, wie es gewesen war, als ich sie entdeckte, wie ich sofort von ihr gefangen war und vor allem das Gute Nacht, die Nebensonnen und den Leiermann übte und übte, um sie Weihnachten vorzutragen. Mein Geschenk für meine Familie, ich war dreizehn und kam mir sehr erwachsen vor, ich war mir so sicher, dass es ihnen gefallen würde.

Aber dann traf meine Stimme den Ton nicht, und vor lauter Schreck verspielte ich mich, und die Erwachsenen saßen auf einmal ganz reglos. Missbilligung war das, das spürte ich, auch wenn niemand etwas sagte. Und ich bemühte mich, meinen Fehler wiedergutzumachen, ich begann noch einmal von vorn, verhaspelte mich aber bald noch einmal, und noch mal, und noch mal, bis ich aufgab und nach draußen an meinen geheimen Lieblingsplatz floh, unten am See, im gefrorenen Schilf.

Ivo war es, der mich dort schließlich fand und dazu überredete, wieder ins Warme zu kommen. Er war es, der mir versicherte, einmal sei keinmal und ich könne die Aufnahmeprüfung am Konservatorium doch trotzdem schaffen. Er sollte recht behalten, aber das wusste ich an jenem Nachmittag nicht, und selbst wenn ich ihm geglaubt hätte, wäre ich unfähig gewesen, das zu äußern, denn meine Zähne klapperten unkontrollierbar, ich zitterte am ganzen Körper. Über eine Stunde hatte ich im Schnee ausgeharrt, ich war völlig ausgekühlt.

Was hatten die Erwachsenen währenddessen getan? Wieso hatten sie nicht nach mir gesucht oder gerufen? Und wieso hatte niemand von ihnen je wieder mit mir über das missglückte Konzert gesprochen oder mich zumindest getröstet? Ich wusste es nicht mehr, vielleicht hatten sie es ja sogar versucht und ich hatte das vergessen, weil ich noch am selben Nachmittag hohes Fieber und eine furchtbare Blasenentzündung bekam.

Alles schien in den nachfolgenden Tagen zu verschwimmen. Am deutlichsten waren mir noch die Kirschkernsäckchen aus dem Ofenrohr in Erinnerung, die mir meine Großmutter unter die Daunendecke schob. Winzige hölzerne Perlen an meinen Zehen, die leise raschelten, wenn ich mich bewegte.

Ich kann zu meiner Reisen, nicht wählen mit der Zeit …

Ich schaltete meinen iPod ein, um die Erinnerungen zu verjagen, gab Nick Cave eine Chance, dann Nirvana. Es half nichts, natürlich nicht, Schubert war stärker. Nun, da er hinter meiner Stirn erst einmal den Dirigierstock schwang, ließ er sich nicht mehr vertreiben. Ich schaltete den iPod wieder aus, zwang mich zur Konzentration auf die Gegenwart. Ich musste meine Tasche holen und zum Taxistand gehen. Ich musste endlich entscheiden, ob ich mich erst in meine eigene Wohnung oder direkt in die meiner Mutter fahren lassen wollte. Ich sollte mir was zum Frühstücken kaufen oder wenigstens einen Kaffee.

Es war laut in der Ankunftshalle: Menschen schoben sich an mir vorbei. Über den Satzfetzen in diversen Sprachen buhlten die mechanischen Durchsagen aus den Lautsprechern um Aufmerksamkeit, Rollkoffer und Gepäcktrolleys ratterten und quietschten. In der Nähe der Gepäckbänder entdeckte ich eine Toilette und zog dort die Socken und den Pullover an. Er war nicht aus Wolle, sondern aus Synthetik, schick, aber im Augenblick nicht wirklich hilfreich. Ich hatte mich getäuscht, gestand ich mir ein. Ich war nicht gewappnet. Nicht gegen den Schnee, nicht gegen Berlin, nicht gegen den Tod meiner Mutter, gegen gar nichts. Ich wusste nicht einmal, wie der Kohleofen in meiner Wohnung funktionierte, denn seit Ivos Tod hatte ich den deutschen Winter immer gemieden.

Ich holte die Plastikflasche, die ich immer bei mir trug, aus meinem Rucksack, füllte sie mit Leitungswasser und trank ein paar lange Schlucke mit geschlossenen Augen, den Rücken an die gekachelte Wand gelehnt. Ich steckte die Flasche wieder ein und wusch mir die Hände. Ivos graue Augen schauten mir aus dem Spiegel dabei zu, Augen, die wie meine ausgesehen hatten und wie die unserer Mutter. Hier ist alles in Ordnung, hatte sie bei unserem letzten Telefonat gesagt. Hier bei mir auch, hatte ich erwidert, mach dir keine Sorgen. Höflichkeiten waren das. Worthülsen, um all das Unausgesprochene zu übertönen, das natürlich dennoch in jedem Satz mitschwang, in jedem Atemzug, in jedem Schweigen, unhörbar, aber dennoch vorhanden, wie ein Misston, der ganz knapp außerhalb jenes Frequenzbereichs liegt, den das menschliche Ohr noch wahrnehmen kann.

Alles in Ordnung, ich komme schon klar. Nicht einmal vom Glück hatte ich meiner Mutter noch etwas erzählt. Von den gestohlenen Stunden auf dem Oberdeck der Marina, nachts, allein unter den Sternen. Von den Jamsessions mit Lorenz in dem leeren Konzertsaal, ebenfalls nachts, wenn alle anderen schliefen. Von den magischen Augenblicken, die ich selbst als Barpianistin erlebte, wenn mein Publikum plötzlich ganz still wurde, wenn sie mich wirklich hörten.

Eine Gruppe Asiatinnen betrat den Waschraum, lachend und schwatzend, an den Füßen trugen sie Flip-Flops. Ich machte ihnen Platz und ging zum Gepäckband, wo meine Reisetasche schon zwischen sehr viel größeren Koffern kreiste. Wie viel Zeit war vergangen, seitdem wir gelandet waren? Zehn Minuten? Eine halbe Stunde? Mehr? Ich sah auf meine Armbanduhr, stellte sie auf deutsche Zeit. Neun Uhr morgens war es hier, drei Stunden früher als auf den Seychellen. Dort war der freie Tag für die Crew nun schon wieder vorbei, in der Bordküche würden sie Tee und Dinner vorbereiten, und heute Abend würde Tatjana meinen Platz am Flügel der Lili einnehmen. Sie spielte sonst in der Bordband, ihr Solorepertoire war bei Weitem nicht so umfangreich wie meins, aber es würde genügen, kaum einer der Barbesucher würde den Unterschied bemerken.

Jetzt bloß kein Selbstmitleid, Rixa, reiß dich zusammen, eine Woche, höchstens zwei, dann ist das hier überstanden. Ich hob meine Tasche vom Band und bahnte mir zwischen Koffern, Trolleys und Menschen einen Weg zum Ausgang. Neben mir dudelte ein Handy los. Sein dickleibiger Besitzer schrie einen Schwall Italienisch in den Äther. Pronto, verstand ich, cazzo, dann verschluckte das allgemeine Geräuschpotpourri sein Gefluche. Ich musste mein eigenes Handy wieder einschalten. Ich musste mich bei der Polizei melden. Den Retzlaff-Clan informieren. Die Beerdigung planen. Ich musste vom Flughafen weg und wenigstens Alex anrufen. Alex, der laut Aussage des Polizisten, mit dem ich telefoniert hatte, offenbar weder zu Hause noch an seiner Uni zu erreichen war.

Ihr Bruder Alexander lebt in Australien, richtig? Sie sind ja eine weit verstreute Familie.

Weit verstreut. Nicht mehr existent. Zerstört an einem Januartag vor zwölf Jahren. Bis dahin waren meine Eltern noch verheiratet gewesen, auch Alex lebte noch in Deutschland, und er war es auch, der mir die Nachricht von Ivos Tod überbrachte, unsere Eltern waren dazu nicht in der Lage. Wo würde Ivo heute sein, wenn er noch lebte? Immer noch in Berlin, wie damals? Wahrscheinlich nicht, er hatte bereits erste Kontakte nach New York geknüpft. Vielleicht hätte es ihn auch nach Tokio oder Moskau oder Sydney verschlagen. Das junge Genie, der Autodidakt, der Rebell unter Deutschlands aufstrebenden Künstlern. Er hatte das Leben auskosten wollen, ohne Kompromisse.

Eine rotierende Glastür schaufelte Eisluft in den Ausgangsbereich, draußen warteten Taxis. Ich blieb stehen, immer noch unschlüssig. Wohin sollte ich fahren? Menschen in Schals, Mützen und Mänteln hasteten an mir vorbei. Ich versuchte mir meine Mutter als eine von ihnen vorzustellen und schaffte es nicht. Wie war sie auf die Idee gekommen, gerade hier am Flughafen ein Auto zu mieten, sie, die seit Jahren nicht mehr gereist war, kaum Kontakte pflegte und jedes Mal nervös wurde, wenn zu viele Menschen zu dicht beieinander waren? Ich wandte den Taxis den Rücken zu und folgte dem Hinweisschild zu den Autovermietungen. Sie waren in einem Nebengebäude untergebracht; als ich nach draußen trat, sprang mich die Kälte an. Ich begann zu rennen, stolperte, fing mich wieder. Meine Füße fühlten sich taub an. Das Extrapaar Socken wärmte nicht, sondern quetschte meine Zehen ein. Türkisgrüne Plateaustiefel aus Nappaleder mit Zehn-Zentimeter-Absatz – die wärmsten Schuhe, die ich auf der Marina dabei hatte. Nicht zum Laufen geschaffen, sondern für die...

Erscheint lt. Verlag 12.12.2023
Zusatzinfo Mit 1 s/w Karte
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Bestseller • deutsch-deutsche Geschichte • Deutsche Romane • Familie • Familiengeheimnisse • Familienroman • Gegenwartsliteratur • Mecklenburg • Musik • Mutter Tochter Beziehung • NS-Zeit • Pfarrhaus • Protestantismus • Romane für Frauen • Verlust eines Familienmitglieds
ISBN-10 3-644-01909-6 / 3644019096
ISBN-13 978-3-644-01909-6 / 9783644019096
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