Die Schuld, die man trägt (eBook)
480 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01202-8 (ISBN)
Michael Hjorth ist ein erfolgreicher schwedischer Produzent, Regisseur und Drehbuchautor. Er schrieb u.a. Drehbücher für die Verfilmungen der Romane von Henning Mankell.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 04/2024) — Platz 19
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 03/2024) — Platz 13
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Michael Hjorth ist ein erfolgreicher schwedischer Produzent, Regisseur und Drehbuchautor. Er schrieb u.a. Drehbücher für die Verfilmungen der Romane von Henning Mankell. Hans Rosenfeldt, Jahrgang 1964, ist einer der angesehensten Drehbuchautoren Schwedens und Schöpfer der bislang erfolgreichsten skandinavischen Serie «Die Brücke», die in über 170 Ländern ausgestrahlt wurde und zahlreiche Preise erhielt. Für die britische Fernsehserie «Marcella» wurde er mit dem British Screenwriters' Award in der Kategorie Best Crime Writing on Television ausgezeichnet. Als Teil des Autorenduos Hjorth & Rosenfeldt schrieb er acht Kriminalromane der Sebastian-Bergman-Reihe, die in 34 Ländern erscheint und sich weltweit über 4 Millionen mal verkauft hat - allein in Deutschland 2,8 Millionen mal. Alle Bände befanden sich monatelang in den Top 10 der Spiegel-Bestsellerlisten. Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Johan Harstad und Tove Ditlevsen. 2011 und 2020 erhielt sie den Hamburger Förderpreis, 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW und 2019 den Jane-Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.
Er war tot.
Das war der einzige Gedanke, der fieberhaft in ihrem Kopf umherkreiste.
Er war fort, für immer. Ihr Vater war tot.
Ihre Tränen begannen erneut zu fließen. Still, aber unaufhaltsam. Zwar schien es, als wären sie weniger geworden, aber ihr Schmerz und die Trauer waren unverändert stark. Und würden lange anhalten, das wusste sie. Cathy atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen. Der Schock steckte ihr noch immer in den Knochen wie ein physisches Wesen.
Als Tim nicht wie angekündigt nach Hause gekommen war, hatte sie sich Sorgen gemacht und ihn angerufen, doch er war nicht ans Handy gegangen. In ihr war die Gewissheit aufgestiegen, dass ihm etwas zugestoßen war. Denn es sah ihm nicht ähnlich, dass er sich nicht meldete, wenn er sich verspätete oder seine Pläne änderte. Eigentlich hatten sie geplant, gemeinsam Mittag zu essen, den Nachmittag in der Stadt zu verbringen und um 16 Uhr zur amerikanischen Botschaft zu gehen, um ihr Visum zu beantragen.
Doch aus alldem wurde nichts.
Gegen Mittag hatte die Polizei angerufen.
Die Beamtin hatte Cathy gefragt, ob sie mit Tim Cunningham verwandt sei. Er sei zusammengesunken in einem Hauseingang in der Nähe des Stureplan gefunden worden. Vermutlich ein Herzinfarkt, meinten die Rettungssanitäter. Sie hatten noch vor Ort seinen Tod festgestellt.
In verwirrtem Zustand war Cathy zum Karolinska-Krankenhaus gefahren, wohin man seine Leiche gebracht hatte, und auf den langen Gängen umhergeirrt, bis sie jemanden fand, der ihr weiterhelfen konnte. Schließlich war sie bis zur Rechtsmedizin gelangt, nur um dort zu erfahren, dass sie die Leiche nicht sehen durfte. Sie musste auf einen verantwortlichen Arzt warten, und selbst dann war nicht sicher, ob man es ihr gestatten würde. Die Regeln waren streng. Seither saß sie in dem tristen graublauen Wartezimmer und weinte. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr allein war. Eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern war hereingekommen und hatte ein Stück entfernt Platz genommen. Die Frau starrte mit rot geweinten leeren Augen in den Raum, der Mann blätterte mit den Kindern in einer Bamse-Zeitschrift und las ihnen gedämpft etwas vor. Sie waren wegen des Vaters der Frau oder einem anderen Angehörigen da, dachte Cathy, riss sich zusammen und brachte ihre Tränen unter Kontrolle. Nicht vor Fremden weinen. Das hatte ihre Mutter ihr beigebracht. Es gab keinen Grund, unbekannten Menschen gegenüber starke Gefühle zu zeigen. Im schlimmsten Fall könnte das als Zeichen von Schwäche gewertet werden.
Sie nickte der Frau zu und stand auf. Aus alter Gewohnheit begann sie, an dem kleinen Schmetterlingsring herumzufingern, den sie an einer Kette um den Hals trug. Sie besaß ihn, solange sie denken konnte – oder sogar noch länger. Er war in Thailand gekauft worden, an jenen Weihnachtstagen, bevor der verheerende Tsunami das Land erfasst hatte. Manchmal kam es Cathy so vor, als könnte sie sich an den Tag erinnern, an das Wasser, das Chaos, den Schrecken, aber die Bilder konnten genauso gut von den vielen Aufnahmen herrühren, die sie in verschiedenen Zusammenhängen gesehen hatte, oder von Geschichten, die ihr später erzählt worden waren. Wie etwa, dass sie den Ring auf diesem Markt gekauft hätten. Daran konnte sie sich auf keinen Fall erinnern. Doch da alle aus ihrer Familie überlebt hatten, bildete sie sich ein, der kleine Schmuck würde Glück bringen. Ihn zu berühren, beruhigte sie normalerweise. Ein billiges, mit roten und blauen Steinen besetztes Stück Neusilber, das sie immer mit Geborgenheit verband, und obwohl ihre Mutter ihr deswegen oft in den Ohren gelegen hatte, weigerte sie sich bis heute, ihn abzunehmen. Sie würde ihn niemals gegen ein teureres, erwachseneres Stück eintauschen. Der Ring bedeutete ihr etwas, das sie nicht in Wort fassen konnte.
Es war eine der wenigen Auseinandersetzungen gewesen, die ihre Mutter nie gewonnen hatte.
Cathy ging wieder zur Anmeldung zurück. Sie musste es jetzt wissen. Was war mit ihrem Vater geschehen? Sie musste ihn sehen. Wie hatte das passieren können? Sie hatten doch so große Pläne gehabt. Sie wollte in die USA und er nach … Es war alles so verwirrend.
Draußen stand ein Mann im Anzug und sprach mit einem Pfleger. Als er Cathy sah, beendete er das Gespräch schnell und ging auf sie zu. Hatte sie ihn nicht schon einmal gesehen?
«Cathy?», fragte er und streckte ihr die Hand entgegen. «Stan Ludlow, ich bin ein Kollege deines Vaters bei Heyman & Schroder, mein tiefstes Beileid», fuhr er in gutem Englisch fort und drückte freundlich ihre Hand. Jetzt erkannte sie ihn wieder. Sie waren sich einmal kurz bei einer Firmenveranstaltung begegnet, und ihr Vater hatte oft wohlwollend von ihm gesprochen.
«Tim hatte mich als Ansprechpartner bestimmt, falls etwas passieren sollte, deshalb bin ich so schnell wie möglich gekommen. Wie geht es dir?», erkundigte er sich sanft. Sie versuchte, stark zu bleiben, aber ihre Augen liefen erneut über.
«Ich weiß nicht. Ich verstehe das Ganze nicht …», war alles, was sie hervorbrachte.
«Du musst dir keine Sorgen machen. Wir werden dir die organisatorischen Angelegenheiten abnehmen und dich in dieser schweren Zeit unterstützen. Du bekommst jede Hilfe, die du brauchst.»
Cathy wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Der Mann war freundlich, aber irgendetwas an dieser ganzen Situation war merkwürdig. Heyman & Schroder waren immer im Hintergrund gewesen und hatten mehr oder weniger ihr ganzes Leben bestimmt. Jetzt traten sie einen Schritt vor, nur wenige Stunden, nachdem ihr Vater tot aufgefunden worden war.
«Danke», sagte sie mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. «Bisher habe ich ihn nicht einmal sehen dürfen, deshalb weiß ich nicht genau, was ich brauche.»
Stan wich ein Stück zurück und lächelte entschuldigend.
«Bitte verzeih. Das klang … als wäre ich von der Firma geschickt worden. Aber ich bin hier, weil ich es deinem Vater versprochen habe. Meinem Freund. Er wollte, dass du nicht allein bist.»
Cathy sah ihn fragend an. Sie konnte sich keinen Reim auf seine Aussage machen.
«Was soll das heißen? Er hat Sie gebeten herzukommen? Wie konnte er … ich meine … wie konnte er das wissen?»
Cathy verstummte. Stan wirkte gequält und antwortete nicht, aber sein Schweigen sprach für sich. Sie verstand, was es besagte, was es bedeutete – aber das war doch unmöglich!
«Wusste er, dass er sterben würde?», fragte sie schließlich leise.
Sie hoffte auf ein Nein, auf ein Kopfschütteln und ein trauriges Lächeln, das ihr bestätigte, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Doch stattdessen nickte Stan kurz, ehe er antwortete.
«Vor ein paar Monaten war Tim bei einer Routineuntersuchung, und unser Betriebsarzt hatte ein sogenanntes Aorten-Aneurysma entdeckt, eine Erweiterung der Hauptschlagader. Es war ziemlich groß und lag an einer sehr ungünstigen Stelle.»
«Er wusste, dass er sterben würde, und hat mir nichts gesagt?»
Cathy sah den Mann auffordernd an. Jetzt hoffte sie nicht mehr auf ein Nein, sie brauchte es. Dies war zu viel, zu groß. Ungreifbar. Stan blickte sie voll Mitgefühl und Wärme an.
«Er wusste, dass das Risiko bestand. Es wurde über eine vorbeugende Operation diskutiert, aber es war … kompliziert. Aber Tim wollte dich nicht beunruhigen, so kurz vor dem Umzug und allem.»
Cathy versuchte erfolglos, ihre widerstreitenden Gefühle zu ordnen. Zu der tiefschwarzen Trauer gesellte sich plötzlich eine Wut auf jenen Mann, den sie für den Rest ihres Lebens vermissen würde.
«Aber er wusste, dass er sterben würde?» Ihre Stimme klang härter als beabsichtigt. Stan beugte sich vor und ergriff erneut ihre Hand. Diesmal noch sanfter. Tröstender.
«Er hat an das Leben geglaubt, Cathy. Bei allem, was er tat oder nicht tat, dachte er an dich. Er hat immer das gemacht, was er für dein Bestes hielt.»
«Dann hätte er mich vielleicht fragen sollen, was ich darüber denke.»
Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schwankte kurz, als wäre alle Kraft aus ihr gewichen. Stan schloss sie in die Arme und hielt sie fest.
Ihr Vater war erst seit wenigen Stunden tot, aber Cathy vermisste ihn schon so sehr. Wie sollte sie das ganze restliche Leben ohne ihn überstehen? Seit dem Tod ihrer Mutter waren sie stets zusammen gewesen. Überall auf der Welt, immer. Jetzt gab es niemanden mehr.
Sie war allein.
Dieses Gefühl wuchs, als sie etwas später neben ihrem Vater stand, um von ihm Abschied zu nehmen. Eine Kerze brannte auf einem Rollwagen aus rostfreiem Stahl. Tim lag nicht auf einem Bett, sondern auf einer Bahre aus kaltem, glänzendem Metall, bis zum Kinn mit einem weißen Laken bedeckt. Kein Fenster, keine Möbel. Es war kein Zimmer, kein Saal, es war ein Raum, in dem der Tod so häufig zu Gast war, dass man sich keine Mühe mehr gab, ihn bei seinen zahlreichen Besuchen angemessen zu empfangen.
Der verantwortliche Arzt hatte sie hereingelassen und bestätigt, dass Tim vermutlich an einer geplatzten Hauptschlagader gestorben war, nach der Obduktion hätten sie Klarheit. Cathy wollte nicht, dass man ihn aufschnitt, doch da man ihn im Freien und ohne eine eindeutige Todesursache gefunden hatte und er damit ein Fall für die Polizei geworden war, blieb keine andere Wahl.
Cathy bat Stan zu gehen. Sie nahm seine Visitenkarte entgegen und versprach ihm, sich zu melden, wenn sie etwas bräuchte, aber jetzt wollte sie allein sein. Nachdem er gegangen war, schob sie sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihren...
Erscheint lt. Verlag | 28.11.2023 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Sebastian Bergman | Ein Fall für Sebastian Bergman |
Übersetzer | Ursel Allenstein |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Arne Dahl • Bergman • Billy • Bücher Neuerscheinungen 2023 • Ein Fall für Sebastian Bergman • Ekelpaket • Jo Nesbo • Jussi Adler-Olsen • Kriminalpsychologe • Kriminalroman aus Skandinavien • Krimineuerscheinungen 2023 • krimi serie • Krimis und Thriller • Kristina Ohlsson • Lars Kepler • Nordeuropäischer Thriller • Reichsmordkommission • Schweden • Schwedenduo • Schwedenkrimi • Schweden Kriminalroman • schwedische Thriller • Sebastian • Sebastian Bergman • Sebastian Bergmann Band 8 • Skandinavienkrimi • Skandinavien-Krimi • Skandinavischer Krimi • Spannung • Spannungsliteratur Schweden • Stockholm • Thriller aus Schweden • Tochter • Tove Alsterdal • Tsunami • Vanja • Verderben • Viveca Sten |
ISBN-10 | 3-644-01202-4 / 3644012024 |
ISBN-13 | 978-3-644-01202-8 / 9783644012028 |
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