Technik im Mittelalter (eBook)
161 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-74047-3 (ISBN)
Prof. Dr. Marcus Popplow ist Historiker am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Die Technikgeschichte des vorindustriellen Europa ist einer der Schwerpunkte seiner Forschung. "Technik im Mittelalter" wurde 2013 vom VDI (Verein Deutscher Ingenieure) mit dem Conrad-Matschoß-Preis für Technikgeschichte ausgezeichnet.
II. Rahmenbedingungen
Die Technikgeschichte des Mittelalters ist ein noch junges Forschungsgebiet, Synthesen der zu zahlreichen Einzelfragen vorliegenden Arbeiten fehlen häufig noch. Dieses Manko kann der vorliegende Überblick auf begrenztem Raum nicht wettmachen. Er ist daher in drei größere Abschnitte eingeteilt: Zunächst werden einige Schlaglichter auf Rahmenbedingungen der Technik im mittelalterlichen Europa geworfen. Es geht um Orte, an denen Technik eingesetzt wurde; um Ressourcen, die den Einsatz von Technik ermöglichten und ihm gleichzeitig Grenzen setzten; um Akteure, die Technik herstellten und nutzten; um Institutionen und Medien, die dabei zum Einsatz kamen; um Begriffe, mit denen sich mittelalterliche Autoren über Technik verständigten und um globale Kontexte der Technikentwicklung. Im Anschluss daran werden einige für das europäische Mittelalter besonders bedeutsame Innovationsprozesse zusammengefasst. Drittens werden mögliche Motivationen für die technischen Innovationsprozesse des Mittelalters diskutiert. Der bereits erwähnte Ausblick auf die Bedeutung des Mittelalters für die weitere Entwicklung der europäischen Technik beschließt den Text.
Orte der Technik
Kloster. Klöster gelten primär als Ort der Kontemplation, vielleicht auch der handwerklichen Arbeit der Mönche – schließlich verstand die Benediktinerregel bereits im 6. Jahrhundert Arbeit und Gebet als Grundlage des Mönchtums. Doch gerade im Frühmittelalter waren Klöster auch der Ort, an dem sich zentrale Elemente der zivilen Technik dieser Epoche entwickelten. Das Gebot der Selbstversorgung machte landwirtschaftliche und handwerkliche Tätigkeiten unumgänglich. Schon zu Zeiten der Karolinger wurden viele Klöster zu ausdifferenzierten Wirtschaftsbetrieben. Im prosperierenden Pariser Becken organisierten sie das Wirtschaftsleben ganzer Landstriche. Die straffe Organisation der Orden und ihre gute finanzielle Ausstattung ermöglichten Investitionen in Anlagen wie Getreidemühlen und die klösterliche Infrastruktur. Nachdrücklich dokumentiert die Vielfalt handwerklicher Produktionsstätten innerhalb der Klostermauern eine einzigartige, idealtypische Planzeichnung aus der Zeit um 820, die heute in St. Gallen aufbewahrt wird. Hinsichtlich entsprechender Planungen sind Äbte frühmittelalterlicher Klöster sicher zu Recht als technisch versierte «Ingenieure» bezeichnet worden. Beispielsweise umfasste die Anlage größerer Klöster von vornherein eine möglichst optimale Wasserversorgung. Wasser war als Trinkwasser ebenso essentiell wie als Brauchwasser für gewerbliche Tätigkeiten. Die Beschreibung des Zisterzienserklosters von Clairvaux geht im 12. Jahrhundert detailliert auf solche Funktionen ein. Ein abgeleiteter Arm der Aube übernahm auf dem Weg durch das Klostergelände zahlreiche Aufgaben: Der Fluss trieb zum einen die Getreidemühle, die Walkmühle zum Verfilzen gewebter Tuche und die Lohmühle des Klosters an, in der Baumrinde für die Gerberei zerkleinert wurde. Sodann versorgte er die Brauerei und weitere Werkstätten, bis er schließlich auch die Abfälle des Klosters mit sich nahm. Der Autor pries die von Gott dem Menschen für solche Zwecke bereitgestellten Naturkräfte, als Leistung der Mönche wurde insbesondere die «Domestizierung» dieser Gewalt durch die Ableitung und Kanalisierung des Wasserlaufes herausgestrichen.
Auch in der Landwirtschaft gelten Klöster vielfach als Innovatoren. Ihre Kapitalausstattung erlaubte Versuche mit neuartigen Anbaumethoden oder Nutzpflanzen, die für Bauern, die einem Lehnsherrn zu Abgaben verpflichtet waren, zu riskant waren. Zudem gehörten auch die Klöster im Hochmittelalter generell zu den Trägern der Verbreitung der Wassermühle. Verfügten sie über großen Landbesitz, so bildeten sich unter ihrer Regie ganze Mühlenlandschaften.
Im Hochmittelalter verloren die Klöster ihre zentrale ökonomische Funktion vielfach zugunsten der aufstrebenden Städte. Mit zunehmendem Wohlstand engagierten sich einige Orden in der Herstellung von Kunsthandwerk. Das ausführlichste Zeugnis für die dabei angewandten Techniken ist der Traktat «de diversis artibus» (von unterschiedlichen Künsten). Er wurde im frühen 12. Jahrhundert, vermutlich von einem Benediktinermönch, unter dem Pseudonym Theophilus verfasst. Ob sich dahinter Roger von Helmarshausen verbarg, ein berühmter Goldschmied dieser Zeit, ist umstritten. Theophilus’ Traktat enthält präzise Anleitungen zu Farbenherstellung und Malerei, zur Glasherstellung sowie zu Metallbearbeitung, Bronzeguss und Goldschmiedekunst. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Prologe zu einzelnen Teilen der Schrift. Dort suchte Theophilus kunsthandwerkliche Tätigkeit mit theologischen Argumenten zu rechtfertigen. Zu verstehen ist dies vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Auseinandersetzung zwischen Zisterziensern und Benediktinern um die Stellung von Kunstwerken im Glaubensleben und insbesondere ihrer Rolle im Gotteshaus: Während die Benediktiner diese Praxis befürworteten und einige Klöster durch ihren Verkauf nicht unerhebliche Einnahmen erzielten, kritisierten die Zisterzienser dies als Gott abgewandten Luxus. Theophilus’ Strategie, das Wissen um solche kunsthandwerklichen Techniken, die seiner Auffassung nach gerade zum Ruhme Gottes eingesetzt wurden, freigiebig an seine Zeitgenossen weiterzugeben, suchte solche Vorwürfe zu entkräften.
Da Klöster eine zentrale Funktion in der schriftlichen Überlieferung einnahmen, waren sie neben den seit dem Hochmittelalter entstehenden Universitäten wichtige Orte der Wissenschaft. Die vielfach gepflegten astronomischen Beobachtungen und Aufzeichnungen wurden zu wichtigen Impulsen für die Weiterentwicklung astronomischer Instrumente. Dazu gehörte das aus dem islamischen Raum übernommene und im 11. Jahrhundert zunehmend gebräuchliche Astrolab, ein scheibenförmiges Winkelmessgerät, mit dem sich beispielsweise die Position von Himmelskörpern bestimmen ließ. Insbesondere jedoch wird die Erfindung der mechanischen Räderuhr im späten 13. Jahrhundert englischen Mönchen zugeschrieben. Sie waren demnach auf der Suche nach einem präzisen Zeitmesser für astronomische Beobachtungen, der nicht mit den Nachteilen von Sonnen‑, Wasser- oder Sanduhren behaftet war.
Abb. 3 Idealtypische Rekonstruktion einer mittelalterlichen Belagerung.Die Angreifer nutzen eine Schutzhütte mit Rammbock, eine große Steinschleuder (Tribock) sowie einen Belagerungsturm (Viollet-le-Duc, 1854).
Ebenfalls im 13. Jahrhundert beschäftigte sich Petrus Peregrinus de Maricourt – über den biographische Details fehlen – mit der Erklärung des Magnetismus und beschrieb das Verhalten von Kompassnadeln. Einer seiner Schüler, der Franziskanermönch Roger Bacon, würdigte um 1270 in kurzen, für mittelalterliche Quellen vergleichsweise einzigartigen Textpassagen den Bau von Kanälen, Wasserleitungen, Brücken, Hebevorrichtungen, Schiffen und die Waffenherstellung als Teilbereiche der angewandten Geometrie. Wunderbare Werke wie diese seien von allgemeinem und individuellem Nutzen. Darüber hinaus prophezeite Bacon die Erfindung weiterer erstaunlicher Artefakte: Schiffe, die keine Ruderer, sondern nur noch einen Steuermann benötigten, Karren, die sich ohne Zugtiere bewegten, Flugapparate, in denen ein Mensch eine Vorrichtung bediente, die das Gerät wie beim Vogelflug vorantreibe, Hilfsmittel, mit denen alle möglichen Lasten problemlos zu bewegen seien, oder Vorrichtungen, mit denen man sich auf dem Grund von Flüssen oder auf dem Meeresboden gefahrlos bewegen könne. Solche heute als «Technikvisionen» zu bezeichnenden Utopien erlangten jedoch in dieser Zeit keine Breitenwirkung. Doch offenbar hatte der englische Benediktinermönch Eilmer von Malmesbury bereits um 1060 die Grenzen einer der von Bacon genannten Technologien erprobt: Einer Chronik seines Klosters zufolge bastelte er sich Flügel, mit denen er sich wagemutig von einem Turm stürzte – und mit gebrochenen Beinen den Traum vom Fliegen aufgeben musste.
Dennoch: Von der Mühle über das Kunsthandwerk bis zur mechanischen Uhr erweisen sich Klöster gerade im Früh- und Hochmittelalter als wichtige Basis technischer Entwicklungen. Die Struktur der Ordensgemeinschaften, die immer wieder die Gründung von Tochterklöstern vorsah, förderte den Transfer technischen Wissens, beispielsweise bezüglich der in ganz Europa gerühmten Fertigkeiten der Zisterzienser im Wasserbau. Von Berührungsängsten oder gar einer Ablehnung von Technik durch diese institutionellen Träger des Christentums kann daher in Europa keine Rede sein – auf diesen Punkt wird später noch einmal zurückzukommen sein.
...Erscheint lt. Verlag | 24.3.2023 |
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Reihe/Serie | Beck'sche Reihe | Beck'sche Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Mittelalter | |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Mittelalter | |
Schlagworte | Bauwesen • Bergbau • Buchdruck • Forschung • Fortschritt • Geschichte • Handwerk • Innovation • Kirchenbau • Kloster • Landwirtschaft • Militärtechnik • Mittelalter • Rüstung • Schlachtfeld • Technik • Transport • Waffentechnik • Werkstatt • Wirtschaft |
ISBN-10 | 3-406-74047-2 / 3406740472 |
ISBN-13 | 978-3-406-74047-3 / 9783406740473 |
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