Baumgartner (eBook)
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01877-8 (ISBN)
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Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen Romanen Im Land der letzten Dinge und der New-York-Trilogie. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Gedichte sowie Übersetzungen zeitgenössischer Lyrik.
Werner Schmitz ist seit 1981 als Übersetzer tätig, u. a. von Malcolm Lowry, John le Carré, Ernest Hemingway, Philip Roth und Paul Auster. 2011 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis. Er lebt in der Lüneburger Heide.
2
Baumgartner arbeitet an einer neuen Idee. Es ist jetzt Juni, das kleine Buch über Kierkegaard ist fertig, das lädierte Knie fast wieder schmerzfrei, und seit Neuestem beschäftigt er sich mit jenem vertrackten, verzwickten Körper-Geist-Rätsel, das als Phantomschmerz-Syndrom bekannt ist. Die Idee, vermutet er, hatte sich im April in ihm festgesetzt, nachdem Rosita ihm von dem Unfall ihres Vaters an der Kreissäge erzählt hatte, ohne ihm freilich Genaueres berichten können, aber Baumgartner hatte die Lücken selbst ausgefüllt und die blutige Szene in den Stunden darauf so oft in seinem Kopf durchgespielt, bis es ihm vorkam, als habe er das Sägeblatt mit eigenen Augen ins Fleisch des Zimmermanns eindringen sehen. Glücklicherweise konnten Mr. Flores’ abgetrennte Finger noch am selben Vormittag wieder angenäht werden, doch wie Baumgartner seitdem herausgefunden hat, glaubt in Fällen endgültiger Amputation nahezu jeder, der einen Arm oder ein Bein verliert, danach noch Jahre später, die fehlende Gliedmaße sei weiterhin mit dem eigenen Körper verbunden, oft begleitet von heftigen Schmerzen, Jucken, unwillkürlichen Krämpfen und dem Gefühl, das betreffende Glied sei geschrumpft oder auf unerträgliche Weise verkrümmt. Baumgartner hat die Arbeiten von Mitchell, Sacks, Melzack, Pons, Hull, Manchicant, Ramachandran, Collins, Barbin und zahlreichen anderen durchgeackert, auch wenn er sich im Klaren darüber ist, dass sein eigentliches Interesse nicht so sehr den biologischen und/oder neurologischen Aspekten dieses Syndroms gilt als vielmehr seinem Potenzial als Metapher für menschliches Leid und Verlust.
Es ist das Sinnbild, nach dem Baumgartner seit Annas plötzlichem, unerwartetem Tod vor zehn Jahren ständig gesucht hat, das überzeugendste und stärkste Analogon zur Verdeutlichung dessen, was los ist mit ihm seit diesem heißen, windigen Nachmittag im August 2008, als die Götter es für angebracht hielten, ihm seine Frau zu entreißen, seine Frau in der vollen Blüte ihres noch jungen Lebens, womit zugleich ihm selbst sämtliche Gliedmaßen vom Leib gerissen wurden, alle vier, Arme und Beine, und wenn ihm bei der Attacke auch Kopf und Herz geblieben waren, so doch nur, weil die verruchten, kichernden Götter ihm das zweifelhafte Privileg verliehen hatten, ohne Anna weiterzuleben. Er ist ein menschlicher Stumpf, ein halber Mann, der die Hälfte seiner selbst, die ihn zu einem Ganzen machte, verloren hat, und ja, die fehlenden Gliedmaßen sind noch da, und sie tun immer noch weh, so weh, dass er manchmal das Gefühl hat, sein Körper sei drauf und dran, in Flammen aufzugehen und ihn zu verschlingen.
Die ersten sechs Monate lebte er in einem Zustand so abgrundtiefer Verwirrung, dass er Annas Tod morgens beim Aufwachen oft vergessen hatte. Sie war immer früher aufgestanden als er, mindestens eine Dreiviertel- oder ganze Stunde lang schon auf den Beinen, bevor er auch nur die Augen aufbekam, das heißt, er war es gewohnt, aus einem leeren Bett zu steigen und wie ein Schlafwandler in eine leere Küche zu wanken, um sich einen Becher Kaffee zu machen, in der Regel begleitet vom schwachen Klappern ihrer Schreibmaschine in dem kleinen Zimmer am anderen Ende des Erdgeschosses oder vom Geräusch ihrer Schritte in einem der oberen Zimmer oder manchmal auch von gar keinen Geräuschen, was nur bedeutete, dass sie ein Buch las oder aus dem Fenster schaute oder sich anderswo im Haus still beschäftigte. Das erklärt, warum er diese grotesken Aussetzer immer nur morgens hatte, bevor er zu vollem Bewusstsein gelangt war und noch wie benommen im Bann alter, im jahrelangen Miteinander mit Anna entstandener Gewohnheiten seinen Geschäften nachging, wie an dem Morgen nur zehn Tage nach der Beerdigung, als er sich mit seinem dampfenden Becher Kaffee auf einen Küchenstuhl setzte und vor sich auf dem Tisch einen wüsten Haufen aufgeschlagener Zeitschriften erblickte. Eine Seite ragte besonders auffällig zwischen den anderen hervor, offenbar eine Seite der New York Times Book Review mit der Überschrift: «Wie das Wetter ist.» Die Rezension galt einem Buch mit dem Titel Waters of the World, und dessen Autorin hieß Sarah Dry.
Waters of the World – Sarah Dry!
Die Kombination war so überraschend und doch so primitiv in ihrer kindischen Symmetrie, dass Baumgartner ein verblüfftes Lachen ausstieß, beide Hände auf den Tisch klatschte und sich vom Stuhl erhob.
Anna, hör dir das an, sagte er, schon auf dem Weg ins Wohnzimmer. Du wirst dir vor Lachen in die Hose machen.
Sie muss im Wohnzimmer sein, dachte er, denn ihre Schreibmaschine ist stumm, und die Dielenbretter oben lassen nichts von sich hören. Also liegt sie gemütlich mit einem Buch auf dem Sofa, einen Bleistift in der Hand, um interessante Stellen anzustreichen, und wenn sie den Stift in diesem Augenblick nicht benutzt, hat sie ihn zweifellos im Mund und kaut versonnen auf dem Metallstreifen um den rosa Radiergummistummel am Ende herum. All diese Bilder gingen ihm durch den Kopf, als er in einem Nebel von Vergessenheit zu ihr ging – und dann in das leere Wohnzimmer trat und sich erinnerte. Mit einem Schlag war er in Gedanken wieder auf der Beerdigung, stand zehn Tage zuvor mit den anderen am offenen Grab in der schweren, tosenden Luft, die der von der Küste hereinziehende Tropensturm mit sich brachte, ein stetig zunehmender Wind mit Böen dazwischen, manche so stark, dass eine davon seiner Schwester den Hut vom Kopf riss und hoch in die Luft entführte, ein wirbelndes schwarzes Ding, das hakenschlagend wie ein durchgedrehter Vogel über den Himmel sauste, bis es schließlich in den oberen Ästen eines Baums zur Ruhe kam.
Die Trauerbegleiterin sagte: Sie sind noch wie betäubt. Ihnen ist noch nicht klar, was Ihnen geschehen ist.
Was immer geschehen ist, erwiderte Baumgartner, ist nicht mir geschehen, sondern Anna. Deswegen ist sie tot, und weil ich ihren toten Körper auf dem Strand gesehen habe und weil ich diesen toten Körper in meinen Armen getragen habe, ist mir vollkommen klar, was ihr geschehen ist. Mich ärgert nur, dass sie unbedingt noch ein letztes Mal ins Wasser gehen wollte, obwohl der Wind stark aufgefrischt hatte und das Meer aufgewühlt war, mit immer höher anrollenden Wellen, aber als ich ihr sagte, es sei schon spät und wir sollten zum Haus zurück, lachte sie nur und rannte in die Brandung hinaus. Typisch Anna, die Frau, die immer tat, was sie wollte und wann sie es wollte, und ein Nein nicht gelten ließ, impulsiv und übermütig und obendrein eine fantastische Schwimmerin.
Sie machen sich Vorwürfe, sagte die Trauerbegleiterin. So hört es sich für mich an.
Nein, ich werfe mir nichts vor. Jeder Versuch, ihr das auszureden, wäre sinnlos gewesen. Sie war nicht der Typ, der sich herumschubsen oder Befehle geben ließ. Sie war erwachsen, kein Kind, und ihre erwachsene Entscheidung lautete, dass sie noch einmal ins Wasser gehen wollte, und ich dachte gar nicht daran, sie aufzuhalten. Dazu hatte ich kein Recht.
Wenn keine Vorwürfe, dann vielleicht Bedauern oder Reue?
Nein und noch mal nein. Ich sehe Ihnen an, Sie denken, ich sträube mich gegen Sie, aber das tue ich nicht. Es ist nur so, dass wir uns erst einmal über die Begriffe einigen müssen, bevor wir miteinander ins Gespräch kommen können. Ja, sie wäre noch am Leben, wenn sie nicht noch einmal ins Wasser gegangen wäre, aber wir wären dann auch nicht über dreißig Jahre lang zusammengeblieben, wenn ich Dinge getan hätte wie zum Beispiel zu versuchen, sie davon abzuhalten, ins Wasser zu gehen, wenn sie das wollte. Das Leben ist gefährlich, Marion, und jedem von uns kann jeden Augenblick etwas zustoßen. Sie wissen das, ich weiß das, jeder weiß das – und wer es nicht weiß, tja, der hat nicht richtig hingesehen, und wer nicht richtig hinsieht, geht am Leben vorbei.
Wie fühlen Sie sich jetzt, in diesem Augenblick?
Elend, unglücklich. In tausend Stücke zerschlagen.
Mit anderen Worten: dissoziiert, nicht ganz Sie selbst.
Mag sein. Aber soweit ich in der Lage bin zu verstehen, was ich zurzeit durchmache, kann ich aufrichtig sagen, es ist nicht so, dass ich mir selber leidtue, ich wälze mich nicht in Selbstmitleid und klage das Schicksal an: Warum ich? Warum nicht ich? Menschen sterben. Sie sterben jung, sie sterben alt, und sie sterben mit achtundfünfzig. Sie fehlt mir, das ist alles. Sie war die Einzige auf der Welt, die ich jemals geliebt habe, und jetzt muss ich herausfinden, wie ich ohne sie weiterleben kann.
An jenem Abend vor zehn Jahren ging Baumgartner nach seiner ersten und letzten Sitzung mit Marion, der Trauerbegleiterin, in Annas kleines Arbeitszimmer im Erdgeschoss und sah stundenlang ihre Papiere und Manuskripte durch. Der Wandschrank war vom Boden bis zum Kinn mit den Rohfassungen und Fahnenabzügen ihrer veröffentlichten Übersetzungen vollgestopft, fünfzehn oder sechzehn Bücher aus den vergangenen fünfundzwanzig Jahren, die meisten aus dem Französischen oder Spanischen, zwei aber auch aus dem Portugiesischen, ungefähr je zur Hälfte Romane und Gedichtsammlungen, die er allesamt zwei- oder dreimal gelesen hatte und bestens kannte, also machte er den Wandschrank zu und ging zu dem Aktenschrank in einer Ecke des Zimmers, vier sehr breite und tiefe Schubladen, in denen sie ihre eigenen Sachen in verschiedenen Stadien der Fertigstellung aufbewahrt hatte, ein dicker Packen Gedichte von der Highschool bis zu einem Tag drei Wochen bevor sie ertrunken war, Typoskripte von abgebrochenen Romanen mit handschriftlichen Korrekturen, mehrere Kurzgeschichten, ein Dutzend Buchkritiken und in der untersten Schublade eine Schachtel mit autobiografischen Aufzeichnungen. Baumgartner...
Erscheint lt. Verlag | 7.11.2023 |
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Übersetzer | Werner Schmitz |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 4 3 2 1 • 4321 • Alter • Amerikanische Literatur • amerikanischer Familienroman • Bestseller-Autor • Buchempfehlung • Die New-York-Trilogie • Gegenwartsliteratur • Hoffnung • Jüdisches Leben • Jugendreminiszenzen • Krankheit • Lebensfreude • Lebensphilosophie • Liebe • literarische Fiktion • literarische Romane • Moderne Literatur • New Jersey • Princeton • Professor • Romane 2023 • Romane Neuerscheinung • Roman über das Alter • Roman über Ehe • Rückblick aufs Leben • sunset park • Tod • USA • Verlust • Verlust des Ehepartners • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-644-01877-4 / 3644018774 |
ISBN-13 | 978-3-644-01877-8 / 9783644018778 |
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