Das blaue Pferd -  Gerd Tesch

Das blaue Pferd (eBook)

und andere Geschichten

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-6751-5 (ISBN)
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Die titelgebende Novelle birgt ein Geheimnis, das sich um das Cover-Gemälde rankt. Erinnerung ist das große Thema auch der anderen Geschichten. Sie erzählen von unerwarteten Begegnungen, mal humorvoll, mal ironisch, mal melancholisch, mal wehmütig, allemal unterhaltsam.

Gerd Tesch, 1950 im Hunsrückdorf Pfalzfeld geboren, studierte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Germanistik, Allgemeine Sprachwissenschaft, ­Politikwissenschaft und promovierte in Philologie. Er arbeitete in etlichen rheinland-pfälzischen Gymnasien, zuletzt bis zur Pensionierung als Schulleiter des Gymnasiums Kirn.

Eines langen Tages Reise in den Abend


Als der Wettstreit der Hähne ihn aufweckte, blickte er guten Mutes dem Tag entgegen. Einen sonnigen Mittwoch (23.6.2022) hatte der Wetterbericht angekündigt. Es sollte ein langer Tag werden, ein Tag, den er nie vergessen würde. Deshalb ist es aller Mühe wert, aufzuschreiben, was Leonhard Teske widerfahren ist, was er mir erzählt hat.

Mitten in seine Frühgymnastik hinein läutete das Telefon. Wer sollte ihn um halb acht anrufen?, wunderte er sich.

„Aha, du bist also zu Hause“, meldete sich eine Stimme, die er seit etwa zwanzig, nein seit ziemlich genau dreiundzwanzig Jahren nicht mehr gehört hatte. Der Satz „Aha, du bist also zu Hause“, eine tonlose Feststellung, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln: Die Stimme gehörte zu einer Frau, die seit sieben Jahren tot war. In sein atemloses Schweigen hinein kündigte sie an, sie werde sich in einer halben Stunde wieder bei ihm melden. Ohne eine Reaktion abzuwarten, legte sie auf. Was für eine Drohung!, schoss es ihm durch den Kopf.

Vor der Todesnachricht, vor Jahren also hatte Leonhard tagtäglich mit einem ähnlichen Anruf gerechnet. Doch der blieb aus. Sie meldete sich nie mehr, seit er ihr unmissverständlich gesagt hatte, ihre Beziehung sei zu Ende. Und nun das! Tote können nicht telefonieren. So viel steht fest. Hatte er sich den Anruf also nur eingebildet? Hatte der Anruf sich vielleicht aus einem makaberen Traum in den Tag gerettet? Hatte eine Phantomstimme ihn angerufen? Eine computergenerierte Stimme vielleicht? Wenige Sprechfetzen, die von Videoaufzeichnungen erhalten sein könnten, genügen heutzutage ja, um eine Stimme zu kopieren. Wer könnte ein Interesse daran haben, ihm ein solch übles Spiel aufzuzwingen? Mit welcher Absicht? Quälende Fragen, keine Antworten. Seinen Realitätssinn würde er nicht ausschalten. Stutzig machte ihn, dass die Anruferin ihm keine Gelegenheit gelassen hatte zu reagieren. Das spräche für seine Vermutung einer Computerstimme. Was meinte sie mit der Ankündigung, sie werde sich melden? Würde sie klingeln oder was? Was sollte die banale Feststellung, er sei „also zu Hause“? Hatte sie mit dem vorangestellten „Aha“ ihrer Verwunderung Ausdruck verliehen, dass er vor Ort sei?

In einer halben Stunde also. Eine Mischung aus schauriger Erwartung und Neugier hatte ihn im Griff. Er tigerte im Wohnzimmer hin und her. Die Sache war ihm auf den Magen geschlagen. An Frühstück war nicht zu denken. Worauf musste er sich einstellen? Was könnte passieren?

Erneut ein Anruf, diesmal nicht das Festnetz, sondern das Smartphone. Diese Nummer kannte die Frau, die verstorben ist, nicht. Das beruhigte ihn zunächst, dennoch meldete er sich mit zittriger Stimme: „Teske.“

„Hallo Leonhard“, hörte er, „ich wollte mich mal wieder bei dir melden.“

„Das freut mich, Eva“, stammelte er. „Gerne morgen oder die Tage danach. Bin gerade sehr beschäftigt“, würgte er seine alte Freundin ab. Sonderbar, seit Monaten hatte er nichts mehr von ihr gehört und just an diesem verhexten Morgen rief sie an. Hätte er ihr von dem dubiosen Anruf erzählt, hätte sie sich sofort ins Auto gesetzt, um ihn aufzusuchen. Er kennt sie. Sie hätte ihm möglicherweise helfen können. Doch daran hatte er nicht einmal gedacht. Zu spät.

Da klingelte es. Die halbe Stunde schon vorbei? Schweißperlen benetzten bereits seine Stirn. Wie in Trance bediente er die Sprechanlage. „Die Post“, ertönte eine bekannte Stimme. So früh am Tag?, wunderte er sich, betätigte aber den Türöffner. Der Briefträger eilte die Treppe herauf und drückte ihm ein Päckchen in die Hand. Dabei blickte der Bote ihn aus großen Augen an. Er hatte doch gar nichts bestellt, wunderte sich Leonhard.

„Ist Ihnen nicht gut?“, fragte der Mann besorgt.

„Schlecht geschlafen“, wich er aus.

„Dann einen schönen Tag, Herr Teske.“

„Ihnen auch, Herr Hofrath.“

Das Päckchen hatte keinen Absender. Der Stempel auf der Briefmarke war verwischt. Nicht zu erkennen, wo es aufgegeben worden war. Schwer war es nicht. Er entfernte das Einpackpapier.

Entsetzt ließ er das Päckchen fallen: etwa zwanzig schwarzumrandete Karten mit seiner Todesanzeige; Todeszeitpunkt: der heutige Tag; dazu Briefumschläge, beschriftet mit Adressen ihm bekannter Namen.

Das war kein Spaß, da war kriminelle Energie im Spiel. Da hatte es jemand auf ihn abgesehen; der wollte ihn terrorisieren.

Sein Abwehrreflex stellte sich ein: in den Angriff übergehen.

Trotzig schlug er zwei Eier in die Pfanne und gönnte sich zwei Tassen extra starken Kaffee. Dann schlüpfte er in die Radlerklamotten. Das nagelneue Mountainbike würde ihn auf andere Gedanken bringen, schärfte er sich ein.

An der Kreuzung vor dem Haus, in dem er wohnte, hätte es ihn beinahe erwischt. Im letzten Moment konnte er einem schwarzen SUV ausweichen, der mit überhöhter Geschwindigkeit schnurstracks auf ihn zuraste. Da war Absicht im Spiel, kein Zufall.

Minuten später meldete der Klingelton seines Smartphones den Eingang einer SMS: „Der Tag hat erst angefangen.“

Jetzt ja nicht kneifen, jetzt erst recht!, machte er sich Mut und bog bei Kümbdchen in den Schinderhannes-Radweg ein. Die flache Strecke bis nach Neuerkirch fuhr er wie in Trance. Das hechelnde Duell beim leichten Anstieg nach Alterkülz sollte dann Spuren in seinem Gedächtnis hinterlassen: Aus dem Nichts tauchte ein bisswütiger Boxer seitlich von ihm aus dem Gebüsch auf und hetzte hinter ihm her. Wie Shakespeare und Goethe ein Hunde-Hasser, trat Leonhard in die Eisen, strampelte sich die Lunge aus dem Hals. Die Querung der Landstraße kurz vor dem Ort war seine Chance. Mit letzter Kraft schaffte er es, der Boxer glücklicherweise nicht: Der Lastwagen überrollte den Köter. Leonhard schaute nicht einmal zurück. Klüger wäre es gewesen, umzudrehen und den Rückzug anzuradeln.

Die nächste unliebsame Überraschung erwartete ihn Höhe Hasselbach, dort, wo man in den Achtzigern gegen den Nato-Doppelbeschluss demonstriert hatte und seit den Nullerjahren jährlich das Technofestival Nature One abfeierte, dem Corona vorübergehend den Garaus machte. Ein Knüppel katapultierte Leonhard aus dem Sattel; benommen landete er in einer Hecke neben dem Radweg. Kräftige Arme schleppten ihn in den schwarzen SUV, dem er eine Stunde zuvor noch hatte ausweichen können.

„Maulhalten!“ herrschte ihn eine borstige weibliche Stimme vom Beifahrersitz her an, während der bullige Fahrer Gas gab und an einer eingezäunten Bunkeranlage vorbeiraste. Wer waren die beiden Maskierten? Was hatten sie mit ihm vor? Was führten sie im Schilde? Beklemmendes Schweigen, nur der Motor dröhnte. Die Hände hatten sie ihm mit Kabelbindern zusammengebunden; die schnürten schmerzhaft seine Handgelenke ein. Anscheinend hatte er eine Platzwunde: Blut tröpfelte auf die Radlerhose. In seinem Hirn wütete ein Bienenschwarm. Idiotischerweise dachte er an das teure Karbon-Mountainbike, das nach dem Sturz wahrscheinlich reif für die Müllhalde war. Abgedunkelte Seitenfenster; die mächtige Frontscheibe zeigte ihm, wie der SUV kurz vor Wüschheim nach links einbog, um Sekunden später vor einem holzgeschnitzten Barfuß-Tretbecken abzubremsen. Wortlos zerrte man ihn aus dem Wagen. In der bleiernen Sonne wirkte die Brühe wie dickes Öl. Jauche lag in der Luft; unerträglich die lähmende Hitze. Man umkabelte nun auch Leonhards Füße, knebelte ihn und bugsierte ihn in das Becken. Dann schoss der SUV davon.

Das schmuddelige Wasser ließ die Radlermontur aufquellen. Gnadenlos brannten Sonnenstrahlen auf sein Gesicht. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Wasser blubberte in den Ohren; er musste höllisch aufpassen, dass es nicht auch noch in Nase und Mund lief. Hoffentlich würde bald ein Spaziergänger oder sonst jemand auf ihn aufmerksam werden, der ihn aus dieser misslichen Lage befreien könnte. Kuhglocken tönten von der benachbarten Hügelwiese herab. Am Himmel zog ein Rotmilan seine Kreise. Hatte der unheilkündende Raubvogel ihn im Visier? Hundegebell fuhr ihm in die Glieder. Gewitterwolken zogen auf. Ein Düsenjet durchschoss Wolkenbänke. Was tun, um nicht vollends panisch zu werden? Er pinkelte in die Hose. Wenigstens musste er nicht koten. Warum hatte man ihn überfallen, um ihn anschließend dieser Tortur auszusetzen? Sinnlos das alles. Wer waren die Entführer? Was würde ihm an diesem vermaledeiten Tag noch zustoßen? -

Da schreckte ihn ein Tuckern auf. Wie lange hatte er im Wasser gelegen? War er weggedämmert? Vielleicht gar bewusstlos gewesen? Er hatte keine Ahnung. Ein Traktor bog um die Ecke. Ungläubig glotzten ihn blutunterlaufene Augen aus einem zerfurchten Gesicht an. Der hagere Mann sprang von seinem Traktor herab, stakste auf ihn zu und zog ihn unsanft aus dem Wasser. Er befreite ihn von dem vollgesaugten Knebel und durchtrennte dann mit einem scharfen Klappmesser, das er in seiner Arbeitshose aufbewahrte, die Kabelbinder.

„Wad hod ma dann mid däa...

Erscheint lt. Verlag 21.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7578-6751-3 / 3757867513
ISBN-13 978-3-7578-6751-5 / 9783757867515
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