Das Reisebuch (eBook)
512 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-79750-7 (ISBN)
'Merkwürdiger Fund einer türkischen Reisebeschreibung', meldete der Orientalist Josef von Hammer im Jahr 1814. Gemeint war das Seyahatname - 'Reisebuch' - des Evliya Çelebi, das seitdem die Forschung beschäftigt. Der gebildete Istanbuler hat mit unstillbarer Neugierde die meisten Provinzen und Hunderte von Städten des Osmanischen Reichs und seiner Nachbarn besucht und ebenso akribisch wie unterhaltsam beschrieben. Aus Mekka und Medina kehrte er als Hadschi zurück. Als Muezzin stand er im Kampf gegen die Venezianer auf den Mauern von Kreta. In derselben Funktion nahm er 1664 an der osmanischen Gesandtschaft nach Wien teil und lieferte ein hinreißendes, stellenweise satirisches Panorama der Stadt und ihres Kaisers. Seine Beschreibung Ägyptens kann es mit Napoleons Description de l'Égypte aufnehmen. Klaus Kreisers sorgfältige Auswahl aus dem riesigen Schatz folgt den zehn Büchern und bietet damit zugleich einen kundigen Gesamtüberblick über das größte Reisewerk des 17. Jahrhunderts, wenn nicht der Weltliteratur.
Klaus Kreiser, Professor em. für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur, gehört international zu den besten Kennern des "Reisebuchs". Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. "Atatürk. Eine Biographie" (C.H.Beck Paperback, 2014) sowie in C.H.Beck Wissen "Geschichte der Türkei" (2020) und "Geschichte Istanbuls" (2010).
Einleitung
Autobiographie und Reisewerk: Das Seyȃhat-nȃme
Der 1611 in Istanbul geborene Evliya Çelebi hinterließ mit seinem zehnbändigen «Reisebuch» (Seyâhat-nâme) ein Werk, das durch seinen inhaltlichen Reichtum zu einem der bedeutendsten, vielleicht zum wichtigsten Reisebericht der Epoche wurde.[1] So haben diese Aufzeichnungen einen gewaltigen Umfang[2] und umfassen die Beschreibungen einer Vielzahl von Orten, Wegen, Menschen und Abenteuern. Überdies weiß Evliya so unterhaltsam wie belehrend zu erzählen.
Eckpfeiler des Werkes bilden die Bände über Istanbul (Bd. 1) und Kairo (Bd. 10).[3] Diese beiden umfangreichen Städte-Enzyklopädien haben im Aufbau und Inhalt manches gemeinsam. Womöglich gab es keinen ursprünglich als ersten Teil geplanten Istanbul-Band, wird doch Band 2 mit der Einleitung in seine Reisen eröffnet.[4]
Titelseite des zweiten Bandes, der wohl ursprünglich als Beginn des Reisebuchs geplant war. Kennzeichnend sind die rote Tinte für Überschriften («Vorwort des Seyâhat-nâme des Weltreisenden Evliya Çelebi …»), Reimmarken und Hervorhebungen. Typisch sind auch Lücken und Randbemerkungen.
Evliya war unter anderem an einer Herausarbeitung der Kontraste zwischen Rûm (der osmanischen Welt im engeren Sinn) und Ägypten zu tun. Früh hatte er die Grenzen zu den muslimischen Nachbarländern im Schwarzmeer-Raum und im Kaukasus überschritten und wurde ein gründlicher Kenner der von der verbündeten Tataren-Dynastie der Giray beherrschten Krim-Halbinsel. Auch seine Beiträge zu Südosteuropa – Griechenland, allen südslawischen Ländern, Albanien und Ungarn – auf Hunderten von Seiten sind von großer Bedeutung und bis heute nicht vollständig erschlossen.
Nachdem der große osmanische Reisende nahezu alle wichtigen Städte des sich über drei Kontinente erstreckenden Osmanischen Reichs – und viele jenseits seiner Grenzen – besucht hatte, ließ er sich in Kairo nieder, wo er hoch über der Stadt, in einer Kammer der Zitadelle, die ihm der Pascha von Ägypten als Alterssitz zugewiesen hatte,[5] seine Erinnerungen auf Tausenden von Seiten zusammenstellte. Mit großer Wahrscheinlichkeit war er, vielleicht von Sehschwäche geplagt, gezwungen, bestimmte Anmerkungen nur noch zu diktieren.[6] Schon während seiner jahrzehntelangen Reisen hatte er Notizen angelegt, Listen zusammengestellt und größere biographische und erzählende Abschnitte verfasst.[7] Evliya starb um 1683 in der ägyptischen Hauptstadt.
Neben dem zehnbändigen Reisebericht ist die auf unbekannten Wegen in die Bibliothek des Vatikans gelangte große Nilkarte sein zweites wichtiges Werk. Die Karte (Vat. Turc. 73) misst 5,43 Meter in der Länge, am nördlichen Ende 88 Zentimeter, am südlichen 45 Zentimeter. Der Forschung wurde sie 1949 durch den italienischen Orientalisten Ettore Rossi in der Zeitschrift Imago Mundi angezeigt,[8] aber erst 2011 durch Nuran Tezcan (Ankara) und Robert Dankoff (Chicago) in Form einer Konkordanz zum Seyâhat-nâme veröffentlicht und gründlich kommentiert.[9] Evliyas Autorschaft ist unbestritten, nicht nur aus inhaltlichen Gründen, sondern auch wegen seines unverwechselbaren Sprachstils. Allerdings gibt es auch Abweichungen und Widersprüche zwischen dem Seyâhat-nâme und der Karte.
Evliya Çelebis Nilkarte: Ausschnitt mit den südlichsten von Evliya beschriebenen Abschnitten bei der Stadt Vardan (Arduan) im nördlichen Sudan. Die Karte enthält etwa 60 Abbildungen (meist Signaturen für Festungen und Berge) und 475 schriftliche Einträge.
Evliya Çelebis Nilkarte zeigt den Magnetberg (zwei Hügel), dazwischen den Mondberg sowie elf Brücken, die die Namen von Philosophen und Herrschern tragen.
Vor allem was die südlichsten Teile des Nils angeht, die er nicht bereiste, war Evliya auf traditionelle Quellen wie etwa das Werk des bekannten Gelehrten al-Chwarizmî (gest. vor 850) angewiesen. In mancherlei Hinsicht weichen seine Kommentare von den ptolemäischen bzw. arabischen Vorstellungen vom Ursprung des Nils ab. In den Abschnitten der Karte jedoch, die seine eigene Expedition betreffen, ist er durchaus selbständig. Das nautische Handbuch des Pîrî Reʾis (gest. 1553) sowie dessen berühmte Karte benutzte er indes ebenso wenig wie das Werk von Kâtib Çelebi (gest. 1657), seinem berühmteren Zeitgenossen, dessen große Kosmographie Cihânnümâ er auch sonst nirgendwo erwähnt.[10] Auch die Bekanntschaft mit europäischen Kartenwerken Ägyptens schließt Robert Dankoff aus, obwohl Evliya ab und zu eine rätselhafte Mappamundi (als Papamonti) erwähnt. Vielleicht hatte er von einem Istanbuler Übersetzungsprojekt (1653) des Atlas Minor des Gerardus Mercator gehört? Eine in manchem ähnliche Karte mit den Städten an den Flussläufen von Euphrat und Tigris befindet sich heute in Katar.[11]
Zu seinen Lebenszeugnissen gehören noch verschiedene ihm zugeschriebene Gedenkinschriften («graffiti») an einigen Moscheen in Anatolien und Südosteuropa und archivalische Dokumente, die seine Teilnahme an der osmanischen Großbotschaft in Wien (1665) belegen, sowie ein Empfehlungsschreiben einer griechisch-orthodoxen Kirchenbehörde in Istanbul oder Jerusalem.
Evliya als «Gefolgsmann von Melek Ahmed Paşa und Weltreisender» bittet 1671 in seiner Gedenkinschrift von Adana (Türkei) um ein Gebet für sein Seelenheil.
Im «Theatrum Europaeum» (Frankfurt a. M. 1672) wird die vollständige osmanische Delegation von 1665 abgebildet. Evliya war einer der Reiter unter Nr. 46 neben dem Kaiserlichen Oberdolmetscher Meninski.
Schließlich erscheint sein Name in einem Bericht des schwedischen Gesandten Clas Rålamb, der im Jahr 1657 bei Silistre/Silistra die Donau überquerte und dort als Gast von Evliyas Dienstherrn und engem Freund Melek Ahmed Paşa einige Tage weilte. Rålamb erwähnt einen gewissen Emir aus der Familie des Propheten («en emir aff Mahomets Slech»), der an einer Mahlzeit teilnahm und dabei vertrauten Umgang mit dem Pascha pflegte. Da Evliya den Winter 1657/58 in Silistre verbrachte, ehe er im Mai 1658 am Polenfeldzug teilnahm, ist es mehr als plausibel, dass er mit dem «Emir» (vielleicht ein Hör- oder Schreibfehler)[12] gemeint ist.[13]
Diese Belege sind von einiger Wichtigkeit, weil sich bis zur unmittelbaren Gegenwart kaum Hinweise auf den merkwürdigen Mann gefunden haben, der ohne Nachkommenschaft blieb, aber eine eindrucksvolle Ahnenreihe hatte. Seit seiner Jugend war er am Sultanshof eingeführt, beriet mächtige Wesire und diente als langjähriger Vertrauter wohlbekannter Provinzgouverneure. Vermutlich hatte der Reisende bei seiner Geburt einen Allerweltsnamen wie Mehmed oder Mustafâ erhalten und sich das Attribut «Gottes Freunde» (evliyȃ llâh)[14] erst später zugelegt. Jedenfalls war der Name zugleich ein Lebensentwurf, mit ihm unterstellte er sich gleichsam dem Patronat sämtlicher Heiliger. Neben dem Alias «Evliya» bezeichnet er sich selbstbewusst als seyyâh-i ʿȃlem («Weltreisender»), aber ebenso häufig benutzt er Prädikate wie bî-riyâ («ohne Arg») oder ʿabd-i ahkâr («allergeringster Diener»). Neben den genannten Bezeichnungen erscheint zudem noch das allgemein gebräuchliche fakîr oder hakîr («der Arme»). Streng genommen ist das Seyâhat-nâme oder – wie der Nebentitel einiger Handschriften lautet – «Das Buch des Reisenden»[15] also kein Ego-Zeugnis, spricht der Verfasser von sich doch in der dritten Person.
Das Reisebuch wurde und wird vor allem als Fundgrube für die Kenntnis der osmanischen Stadt herangezogen. Evliya suchte in Anatolien und Südosteuropa so viele Orte auf und beschrieb sie, dass man die berechtigte Frage stellen könnte, wo er nicht war, auf welches Minarett er nicht stieg, um die Dächer der Wohnhäuser zu zählen, und von welcher Brücke er nicht die Zahl der Bogen notierte. In Belgrad maß er die Länge der ...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2023 |
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Reihe/Serie | Neue Orientalische Bibliothek |
Übersetzer | Klaus Kreiser |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie | |
Schlagworte | 17. Jahrhundert • Ägypten • Arabien • Evliya Celebi • Geschichte • Kaukasus • Kreta • Kulturkontakt • Medina • Mekka • Menschen • Neue Orientalische Bibliothek • Nil • Orient • Osmanische Reich • Reisebeschreibung • Reisen • Seyahatname • Sitten • Tagebuch • Übersetzung • Weltliteratur • Wien |
ISBN-10 | 3-406-79750-4 / 3406797504 |
ISBN-13 | 978-3-406-79750-7 / 9783406797507 |
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