Wir wollen die ganze Freiheit (eBook)

Über Feminismus und Identität. Ein notwendiges Manifest.
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
104 Seiten
Orlanda Verlag
978-3-949545-35-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir wollen die ganze Freiheit -  Najat El Hachmi
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Najat El Hachmi ist eine Autorität in Sachen Feminismus und Identität. Jenseits ihres Status als Immigrantin und Tochter einer marokkanisch-muslimischen Familie ist ihre Erzählwelt eine Welt der Frauen. Mit diesem Wissen aus erster Hand hat sie sich eine Meinung darüber gebildet, was es heute bedeutet, Feministin zu sein. In ihrem Essay legt sie ihren Standpunkt dar und prangert die zahlreichen Fallen und Formen der Diskriminierung an, unter denen Frauen leiden. Bereichert wird ihr Blick durch die Herausforderungen, mit denen Migrantinnen in Europa konfrontiert sind, die folgendes Paradoxon erleben: Sie leben in einer modernen und demokratischen Gesellschaft, in der Gleichberechtigung gesetzlich verankert ist und in der ein feministisches Bewusstsein wächst. Und trotzdem fällt es den »Töchtern« muslimischer Migranten nach wie vor oft schwer, sich gegen die patriarchalen Strukturen, in denen sie aufwachsen, zu wehren. Ein wichtiger Beitrag zum Verständnis und ein Appell für die Befreiung von Frauen, der angesichts der aktuellen Lage von Frauen im Iran und in Afghanistan neue Dringlichkeit erhält.

Najat El Hachmi ist eine katalanisch-marokkanische Autorin, die in Barcelona lebt. Ihr vielfach ausgezeichnetes Werk beschäftigt sich mit den Themen Identität, kulturelle Verwurzelung und der Bedeutung des Frauseins in der muslimischen Kultur. Sie arbeitet auch als Journalistin und Kolumnistin für wichtige spanische Zeitungen wie beispielsweise El País.

Najat El Hachmi ist eine katalanisch-marokkanische Autorin, die in Barcelona lebt. Ihr vielfach ausgezeichnetes Werk beschäftigt sich mit den Themen Identität, kulturelle Verwurzelung und der Bedeutung des Frauseins in der muslimischen Kultur. Sie arbeitet auch als Journalistin und Kolumnistin für wichtige spanische Zeitungen wie beispielsweise El País.

Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe


Madrid, September 2019

Der erste Ort, an dem wir dieses Manifest vorstellten, war eine kleine Buchhandlung im Zentrum von Madrid, die Librería Mujeres. In den Tagen zuvor war ich nervös, wie immer, wenn ein neues Buch von mir erscheint. Doch ich verspürte noch eine zusätzliche, eine andere Unruhe. Diesmal präsentierte ich keinen Roman, an dem ich jahrelang gearbeitet hatte, sondern einen eher kurzen Text, hervorgegangen aus einer Krise, die damals für mich unerwartet kam.

Lange Zeit hatte ich in der Überzeugung gelebt, es sei nicht nötig, direkte Kritik am Islam oder am Islamismus zu äußern, nicht einmal an der Frauenfeindlichkeit der Religion meiner Eltern. Ich gab mich der Illusion hin, es liege auf der Hand, was davon zu halten sei. Vor allem glaubte ich, indem immer mehr Mädchen aus muslimischen Familien zur Schule gingen und immer mehr Frauen bezahlte Jobs ausübten, würde sich die sexistische Ordnung, in der wir aufgewachsen waren, von allein erledigen, in schlicht logischer Konsequenz. Ich selbst hatte mich vom Islam abgewandt, weil ich meine Unterdrückung als Frau nicht hinnehmen wollte. Und ich dachte, den Frauen, die sich weiterhin unterdrücken ließen, fehlten bloß noch die Werkzeuge zu ihrer Emanzipation.

Dieses optimistische Bild vom unaufhaltsamen Fortschritt in Sachen unserer Rechte und Freiheiten zerschlug sich jäh im August 2017, mit den dschihadistischen Terroranschlägen in Katalonien. Die Attentate erschütterten mich in vielerlei Hinsicht. Was speziell uns Frauen betrifft, verblüffte mich, wie sowohl die Politik als auch die Medien beschlossen, die beste Antwort auf den Fanatismus der Terroristen sei, dem Islam zu größerer Sichtbarkeit zu verhelfen – und dies gelinge am ehesten, indem überall der Hidschab gezeigt werde. Bilder von verhüllten Frauen im öffentlichen Raum, so argumentierten linke Parteien, seien der unumstößliche Beweis für eine integrative, die Diversität achtende Gesellschaft.

Als einige von uns daran zu erinnern wagten, dass die Pflicht, unser Haar zu verbergen, ein sexistischer Zwang ist, wurden wir belehrt, die Bedeutung, die wir dem Kopftuch, dem Hidschab, dem Schleier zuwiesen, sei nicht mehr zeitgemäß. Heute stünden diese Hüllen für eine diskriminierte Identität, die es zu schützen gelte.

Da wurde mir klar, dass der Lauf der Zeit auch hier nicht unbedingt mehr Rechte für Frauen mit sich bringt. Auf dem Papier mag es in Europa keinen Unterschied machen, ob wir Töchter aus muslimischen Familien sind oder nicht. Und doch müssen wir von Neuem unsere Gleichstellung einklagen. Denn sie wird uns wieder streitig gemacht, allerdings auf andere Weise als von unseren Vätern oder Ehemännern.

Ich begann in der Presse und bei öffentlichen Auftritten deutlicher meine Meinung zu sagen, und dabei stellte ich fest, dass islamistische Haltungen viel weiter verbreitet waren als gedacht. In den Monaten vor der Veröffentlichung von Wir wollen die ganze Freiheit! hatten meine Ansichten zur Religion, zum Fundamentalismus und zum moralischen Relativismus der Linken oft wutschäumende Reaktionen ausgelöst. Daher war ich am Tag der Buchvorstellung in Madrid aufgeregter als sonst. Es war kein abwegiger Gedanke, dass mich ein feindseliges Publikum erwarten würde, so wie bei manchen Diskussionsrunden zuvor.

Zu meiner Überraschung füllte sich die Buchhandlung mit Frauen, viele von ihnen aus muslimischen Familien. Über das Buch sprachen wir dann kaum, denn es waren sie, die das Wort ergriffen: Frauen aus verschiedenen Generationen, verschiedenen Herkunftsländern, mit verschiedenen Muttersprachen. Es wurde ein sehr emotionaler Abend. Zum ersten Mal konnten wir die Empörung abgleichen, die wir alle angesichts der Kombination von Diskrimierungen empfanden, der wir als »muslimische Frauen« ausgesetzt waren. Eine Zuschauerin nach der anderen erzählte aus ihrem Leben, bis sich zum Schluss die Aufmerksamkeit auf eine ganz junge Frau richtete, die noch gar nichts gesagt hatte. Sie war die einzige im Raum mit verhülltem Kopf. Als sie das Mikrofon ergriff, erwarteten wir wohl alle, dass sie nun den typischen islamistischen Sermon loslassen und den Sexismus im Islam abstreiten würde. Stattdessen aber sagte sie, sie trage den Hidschab, weil man sie dazu zwinge. Und sie begann zu schildern, was dieser Zwang für eine junge Madriderin im 21. Jahrhundert bedeutete.

Die Buchvorstellung war für mich ein kathartisches Erlebnis, und es wiederholte sich wenige Tage später in Barcelona. Dort hatten wir das Gefühl, wir würden ein Schweigen brechen, das uns nicht mehr so sehr unsere traditionsverhafteten Familien auferlegten, sondern die öffentlichen Institutionen – aus Furcht, wenn sie diese Art von Debatte zuließen, würden sie sich den Vorwurf der Islamfeindlichkeit einhandeln.

Auch in Barcelona meldete sich am Schluss ein Mädchen mit Hidschab zu Wort. »Euch ist allen schon klar, was die mit dem Kopftuch jetzt sagen wird, oder?«, begann sie und brachte damit das ganze Publikum zum Lachen. Dann berichtete sie, wie sie in ihrer Familie aufbegehrt hatte, weil sie sich nicht verhüllen wollte. Doch sie hatte die Einsamkeit als Verstoßene nicht ertragen und deshalb doch wieder zum Kopftuch gegriffen. Ich folge ihr seither auf Instagram. Heute teilt sie Fotos, auf denen sie ihr Haar offen zeigt.

Kabul, Mai 2021

Im Frühjahr 2021 erreichten uns niederschmetternde Bilder aus Kabul. Die USA hatten beschlossen, ihre Truppen auf einen Schlag aus Afghanistan abzuziehen, und sie überließen die Macht den Taliban. Das Erste, was diese taten, war die Gesichter von Frauen von allen Reklametafeln zu tilgen. Dann fingen sie an, sie von ihren Arbeitsplätzen zu vertreiben, aus dem Fernsehen, aus den Universitäten, von überall.

Die afghanischen Frauen sandten verzweifelte Hilferufe aus, als sie sich wieder unter der Decke des religiösen Obskurantismus begraben sahen. Das hinderte einige vorgeblich progressive Medien im Westen nicht daran, zu mahnen, es sei falsch, Frauen aus anderen Kulturen oder Religionen »retten« zu wollen: Mitgefühl und Empörung angesichts der Entrechtung der Afghaninnen würden von einer paternalistischen und eurozentrischen Haltung zeugen.

Während ich diese Sätze schreibe, geht ein Video viral, in dem einige Taliban in einem leeren Klassenraum einen Freudentanz aufführen. In dem Raum waren zuvor Mädchen unterrichtet worden – sie wurden nach Hause geschickt, ihrer Bildung und ihrer Zukunft beraubt. Ich kann mir die Frage nicht verkneifen, warum der Westen sie, ohne zu zögern, im Stich lässt. Warum bedeuten sie uns so wenig, selbst in einer Zeit, in der wir doch scheinbar sensibler denn je für Mechanismen der Unterdrückung und Diskriminierung sind? Auch die Tatsache, dass die Großmacht USA heute eine Woman of Color zur Vizepräsidentin hat – die erste Frau auf diesem Posten –, ändert nichts für die Frauen unter totalitären Regimen, die der Hälfte der Bevölkerung systematisch ihre Rechte verweigern. Der Feminismus gibt sich so stark wie nie zuvor, ein antirassistisches Bewusstsein breitet sich aus. Und doch zeigt sich, dass das Leben muslimischer Frauen nichts mehr zählt, sobald es als Wechselgeld im Spiel der Geopolitik herhalten kann.

Teheran, September 2022

Zum ersten Mal sah ich Jina Mahsa Aminis Gesicht in einem Post der iranischen Künstlerin Shirin Neshat. Die junge Kurdin war zu Besuch in der Hauptstadt des antiken Persiens, als die Sittenpolizei sie verhaftete, weil sie den Tschador nicht vorschriftsmäßig trug und damit gegen die Gesetze verstieß, die das Leben der Iranerinnen seit der Islamischen Revolution von 1979 bestimmen. Jina Mahsa Amini kam nicht mehr lebend aus der Polizeiwache heraus, auf die man sie verschleppt hatte.

Ihr Tod war der Funke, der die Proteste im ganzen Land entfachte. Tausende von Frauen entschlossen sich, dem Regime die Stirn zu bieten, indem sie ihr Haar aus dem Gefängnis des vorgeschriebenen Tuchs befreiten, und viele weitere schnitten es sich vor laufender Kamera ab, als Zeichen der Trauer. So opferten sie die kostbare Tracht, die sie nach islamischen Regeln zum Gebrauch und Genuss für einen einzigen privilegierten Mann bewahren sollten: ihren Ehemann.

Noch immer dauert die Revolte einer iranischen Jugend an, die nicht mehr dulden will, dass ihre ganze Existenz um die Diktate der Ajatollahs kreisen soll, um deren rigide und unzeitgemäße Auslegung der heiligen Schriften. Anders als bei früheren Unruhen schließen sich diesmal viele Männer den Protesten an. Anscheinend haben auch sie begriffen, dass die fehlende Freiheit der Frauen die fehlende Freiheit aller ist und dass mit den Frauen die gesamte Gesellschaft unterdrückt wird. Das ist auf jeden Fall eine hoffnungsvolle Neuigkeit.

Die Bewegung in Iran gibt Millionen von Töchtern aus muslimischen Familien Auftrieb, die schon nicht mehr wissen, was sie noch schreien sollen, um sich endlich Gehör zu verschaffen. Das große Paradox ist, dass uns...

Erscheint lt. Verlag 6.1.2023
Reihe/Serie frauen bewegt
Übersetzer Michael Ebmeyer
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Afghanistan • aktivistin • Degradierung von Frauen • Diskriminierung • Entrechtung • Essay • Feminismus • Frauen • Frauenrechte • Freiheit • Herabwürdigung der Frau • Hijab • Identität • Iran • Islam • Islamauslegung • Kopftuch • Mädchen • Manifest • Migranten • Migrantin • Migration • Muslima • Muslimische Frau • Patriarchat • Sexismus • Symbol für Entrechtung • zweitklassig
ISBN-10 3-949545-35-2 / 3949545352
ISBN-13 978-3-949545-35-1 / 9783949545351
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