Das Faultier witterte die tödliche Gefahr.
Wie so oft hing der Bewohner des peruanischen Dschungels kopfüber an einem Ast im Bergwald der Ostkordilleren, und das Tier tat das, was es am liebsten machte. Nämlich nichts. Es hätte sich auch nicht durch die lange Kolonne von Regierungstruppen aus der Ruhe bringen lassen, die weit unter ihm vorbeimarschierte. Aber das Faultier spürte deutlich den Tod, der hinter der nächsten Wegesbiegung lauerte.
Darum erklomm das Wesen mit dem weißen Streifen auf der Stirn den Baumstamm. Und kletterte so schnell wie möglich in Sicherheit. Die Männer in den olivgrünen Uniformen ahnten nichts Böses. Wie die meisten Peruaner waren sie Indios oder Mestizen. Auf ihren wie geschnitzt wirkenden Gesichtern war nichts zu lesen außer Erschöpfung. Und Gleichgültigkeit.
Gleichzeitig schlugen Granaten an der Spitze und bei der Nachhut des Trupps ein. Zwei schwere Maschinengewehre begannen, die Soldaten ins Kreuzfeuer zu nehmen.
Die Peruaner rissen ihre Automatikwaffen von den Schultern. Sie waren schon lange genug im Partisanenkrieg. Es war klar, daß der Feind ihnen nun entgegenstürmen würde. Und das tat er auch.
Aber es griff nur ein einziger Mann an.
Hermano Torres!
Die Männer erschraken, als sie den halbnackten Kämpfer zwischen den Bäumen auftauchen sahen. Sie alle kannten Schauergeschichten über die Brutalität, mit denen er seine Feinde abschlachtete.
Torres kraftstrotzender Brustkasten war einmalig. Zwischen dem Halsansatz und seinem Waschbrettbauch war eine riesige feuerrote Tätowierung zu sehen. Sie stellte einen angreifenden Stier dar.
Deshalb wurde Hermano Torres auch ›El Toro‹ genannt - der Stier.
Es gehörte zu seiner selbstgestrickten Legende, daß er als unverwundbar galt.
Einige der Soldaten liefen sofort weg, als sie ihn sahen. Andere legten auf ihn an.
Aber der Guerillero schien jede Kugel zu ahnen, die auf ihn abgefeuert werden sollte. Er schoß mit einer AK-47-Kalaschnikow wild um sich.
Und verfehlte dabei niemanden, der auf ihn zielte.
Panik griff wie ein Lauffeuer unter den Soldaten um sich. Einige flehten um ihr Leben. Nur, um von Torres gnadenlos niedergemacht zu werden.
Er hatte keine übermenschlichen Fähigkeiten oder Kräfte. Obwohl er so ein Satan in Menschengestalt war. Der Mann mit dem schwarzen Vollbart war eine lebende Legende. Der gefährlichste unter den Aufständischen.
Ein Offizier warf mit dem Mut der Verzweiflung eine Handgranate in Torres’ Richtung, doch der Mann mit der Stier-Tätowierung fletschte wild die Zähne und ließ den Explosivkörper durch gezielte Schüsse noch in der Luft zerplatzen. Die Splitter hagelten zwischen die Soldaten und lichteten ihre Reihen noch mehr.
Torres’ unsichtbar bleibende Kameraden gaben ihm weiterhin Feuerschutz.
Der von Gewalt besessene Kämpfer drang nun im Nahkampf auf seine Feinde ein. Mit einer breiten Machete hieb er wild um sich.
Es gab kaum einen Soldaten, der sich ihm wirklich Mann gegen Mann stellte. Zu groß war die Angst vor diesem teuflischen Massakrierer.
Das Blut tränkte den Platz des Überfalls. Die Luft vibrierte vom Hämmern der Maschinengewehre und war erfüllt vom Stöhnen der Verwundeten.
Es waren keine fünf Minuten vergangen, seit sich das Faultier aus dem Staub gemacht hatte.
Die Einheit der Regierungstruppen existierte nicht mehr. Die nicht toten oder verwundeten Soldaten liefen wie die Hasen in alle Richtungen davon.
Hermano Torres baute sich breitbeinig zwischen seinen Opfern auf und stieß seinen gefürchteten Kampfruf aus…
***
Trujillo ist eine Bezirkshauptstadt an der peruanischen Küste. Am westlichen Rand dieses kleinen Zentrums befinden sich die Ruinen von Chanchan. Eine Siedlung, die einst von den Inka-Herrschern errichtet wurde.
Tagsüber knipsten hier zwischen den massiven Mauerquadem Touristen aus den USA und Japan ihre Filme voll. Nachts nutzten die Rebellen das unübersichtliche Gelände manchmal als Versammlungsort.
So auch in dieser Nacht.
Ein großer und stämmiger Mann wurde zwischen umgefallenen Säulen und überwucherten Mauerresten zu einer steilen Treppe geführt. Über die ging es abwärts.
Ein schweigsamer magerer Mestize hatte die Führung übernommen. Er war barfuß.
Hinter ihm ertönten die Tritte der schweren Stiefel des Besuchers.
Sein Name war Hermano Torres.
Der Führer brachte ihn durch eine Art Labyrinth. Unter der Erde war in einem fast quadratischen Raum ein fensterloses Behelfsbüro eingerichtet worden.
Dort saß ein Mann in Uniform hinter einem Feldschreibtisch.
Torres kannte ihn nur als den ›Commandante‹.
Der Mestize grüßte ehrerbietig und zog sich zurück.
Torres nickte nur kurz. Er hatte es nicht nötig, vor jemandem zu kuschen. Vor niemandem.
Er war der Beste.
Mit verschränkten Armen blieb er vor dem Tisch des Rebellenoffiziers stehen.
»Deine Aktion in der Nähe von Cuzco war ein voller Erfolg«, sagte der Commandante.
»Ich weiß«, erwiderte Torres unbescheiden. »Ich mache keine Fehler.«
Der Offizier hob irritiert die Augenbrauen. »Wie auch immer. Als nächstes wirst du…«
»Ich werde gar nichts.« Torres schnitt dem Commandante das Wort ab. »Jedenfalls nicht für euch. Ich verschwinde!«
Der Mann hinter dem Schreibtisch wurde böse. »Wie war das?«
»Du hast schon richtig gehört. Ich habe die Schnauze voll!«
»Wie… wie meinst du das?«
»Wie ich es gesagt habe. Ich verschwinde ! Ich gehe, bin einfach weg!«
»Aber… ich verstehe nicht. Warum?«
»Soll ich bis an mein Lebensende diese peruanischen Bauemsoldaten killen? Ich bin der beste Kämpfer, den euer Haufen je gehabt hat. Ich kann Hubschrauber fliegen, Bomben bauen, mit unzähligen automatischen Waffen umgehen, beherrsche das Töten mit bloßen Händen und…«
»Ich weiß« beschwichtigte der Commandante. »Und wir sind dir auch sehr dankbar, daß du…«
»Davon kann ich mir nichts kaufen!« Wieder unterbrach der Mann mit der Stier-Tätowierung seinen Vorgesetzten. »Ich verschwinde endgültig. Dorthin, wo einer wie ich wirklich Geld verdienen kann.«
Wenn jemand irgendwo in Südamerika so etwas sagte, konnte das nur eins bedeuten. Er wollte nach Norden.
In die Staaten.
In die USA.
Der Commandante schluckte seinen Zorn hinunter. Es hatte keinen Sinn, mit ›El Toro‹’zu streiten. Außerdem konnte das tödlich enden. Tödlich für ihn.
»Du willst also in die Vereinigten Staaten, wenn ich dich richtig verstanden habe.«
»Ja, verdammt. Ja, du hast richtig verstanden. Drücke ich mich so umständlich aus, oder was soll die Frage?«
»Bei den Gringos herrschen andere Sitten«, bemerkte der Rebellenoffizier, nun doch etwas giftig. »Polizei und Armee bestehen dort nicht aus lauter Waschlappen wie bei uns.«
»Macht nichts«, gab Torres ungerührt zurück. »Ich bin trotzdem der Beste.«
»Und du glaubst, das nützt dir auch in den Staaten was?«
»Natürlich!«
»Sei dir nicht so sicher. Die Gringo-Polizisten sind auf Zack.«
»Wenn sie mir zu nahe kommen, sind sie tot«, sagte ›El Toro‹. »So wie alle meine Gegner. Niemand kommt mir in die Quere. Oder er bezahlt es mit dem Leben.«
»Du bist sehr von dir überzeugt.«
»Habe ich nicht bewiesen, was ich kann? Daß ich unbesiegbar bin?«
»Unbesiegbarkeit ist nicht alles. Wenn du in den Staaten durchkommen willst, brauchst du auch Geld.«
»Davon rede ich ja«, rief ›El Toro‹. »Ich will in die Staaten, um viel Geld zu machen. Ich werde es geradezu scheffeln!«
»Wie willst du das anstellen?«
»Ich habe da eine gute Idee.«
»Was für eine Idee?« Der Commandante wußte, daß er seinen besten Mann nicht halten konnte. So einer wie ›El Toro‹ zeigte nur vollen Einsatz, wenn er freiwillig seinen Job machte.
Außerdem - wie hätte er ihn zwingen sollen? Allein der Gedanke war schon absurd.
»Eine Idee«, erwiderte der schwarzbärtige Killer, »wie ich in kürzester Zeit Multimillionär werden kann.«
»Und was genau ist das für eine Idee?«
»Du wirst schon sehen«, antwortete ›El Toro‹ ausweichend.
»Du willst darüber nicht reden?«
»Nein!« sagte ›El Toro‹ hart.
Der Commandante nickte nur. ›Der Stier‹ hatte seine Entscheidung getroffen. Da war nichts mehr zu machen. Und der Commandante wußte das. Wahnsinn, diesen Mann...