Das Praktikum -  Chinz

Das Praktikum (eBook)

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
196 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-6857-5 (ISBN)
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Dem siebzehnjährigen Max graut vor seinem Schulpraktikum im Altenheim Waldesruh: Wahrscheinlich die zwei langweiligsten und sinnlosesten Wochen meines Lebens. Er ahnt nicht, dass er mit dieser Prognose unter die Top Ten der unzutreffendsten Vorhersagen aller Zeiten kommen sollte.

Chinz, 1968 in Köln geboren, wohnt heute in Varel. Er arbeitet als Krankenpfleger, lebt als Musiker und Schriftsteller und bezeichnet sich selbst als gut gelaunten Melancholiker.

2. Tag


„Guten Morgen Herr Bömmel!“, sagte Max laut, während er in das Zimmer ging. Als die Tür zu und er allein mit dem alten Mann war, musste er nicht mehr so fröhlich tun.

„Heute mal ein etwas inventarverträglicherer Kaffee für Sie.“ Max stellte den leeren Schnabelbecher auf den Nachttisch und goss sich selbst den Kaffee in eine normale Tasse ein.

Max konnte den Kaffee wirklich gebrauchen. Im Gegensatz zu Herrn Bömmel würde er ihn zu würdigen wissen. Die letzte Nacht war arg kurz gewesen. Herr Bömmel starrte ihn vom Bett aus mürrisch an, aber auch für ihn würde es besser sein, wenn er keinen Kaffee bekam und ihm damit heute vielleicht der Bauchgurt erspart bliebe.

Max hob seine Tasse und prostete ihm zu:

„Ich zeig Ihnen mal, wie man Kaffee trinkt. Ist nicht schwer. Man nimmt den Kaffee in den Mund, so ...“

Beinahe hätte Max auch quer durch das Zimmer geprustet. Der Kaffee war unglaublich süß!

Max lief zum Waschbecken, spuckte aus und spülte sich den Mund um.

Wie konnte irgendjemand so etwas trinken? Kein Wunder, dass Herr Bömmel Alzheimer hatte, wenn er immer so eine klebrige Brühe trank! Vielleicht sollte er mal eine Studie darüber machen, ob Menschen mit Zucker im Kaffee eher an Demenz erkranken als die, die ihn trinken, wie es sich gehört: fast schwarz, nur etwas Milch. Wenn er bedachte, wie viel Geld für unsinnige Studien aller Art ausgegeben wurde, und wie viel Geld er für sinnvolle Sachen gebrauchen könnte - zum Beispiel für eine eigene Grasplantage.

Auch dieser Kaffee wurde für Gras verwendet. Max öffnete das Fenster und schüttete ihn in hohem Bogen auf den Rasen vor dem Haus. Da Frau Wussows Geschrei jetzt noch lauter zu hören war, schloss er das Fenster schnell wieder.

Gestern war schon schlimm gewesen, heute schien noch grausamer zu werden. Max hatte Kopfschmerzen und ihm war schlecht; nicht erst seit dem Zucker mit Kaffee. Er hatte gestern Abend zu lange Computer gespielt und dabei zu viel gegessen und noch mehr zu viel getrunken. Hätte seine Mutter ihn nicht irgendwann geweckt, hätte er wahrscheinlich bis Mittag verschlafen. So war er nur eine Stunde zu spät auf dem Wohnbereich angekommen, dafür ungewaschen, ohne Deo, mit schmutziger Jeans und unrasiert. Er hatte die vage Hoffnung gehabt, dass Schwester Gabi ihn angeekelt wieder nach Hause schicken würde, stattdessen hatte es einen Riesenanschiss von ihr gegeben, und: er müsse eine Stunde länger bleiben.

Der Gestank war bereits gestern kaum auszuhalten gewesen, aber nach dem Abend, mit dem Kopf und instabilen Magen? Das war Endgame.

Gestern hatte er schon mit dem Gedanken gespielt, fünf Yes-Tortys direkt hintereinander zu essen. Das hatte in der Schule schon mehrmals funktioniert. Ihm war danach immer derart schlecht gewesen, dass Lehrer ihn nach Hause geschickt hatten, weil er so blass bis grün im Gesicht aussah. Doch heute brauchte er keinen zusätzlichen Süßkram. Ihm war mindestens so schlecht wie von zehn Yes-Tortys, aber niemand beachtete sein blasses Gesicht. Schwester Gabi drückte ihm stattdessen eine pralle Mülltüte mit den besten benutzten Windeln der 80er, der 90er und von heute in die Hand.

„Hier! Bring mal in den Fäkalienraum!“

„Wie heißt das Zauberwort?“, hörte Max die Stimme seiner Mutter in sich. Doch er schüttelte den Kopf. Es wäre auch nicht besser gewesen, wenn Schwester Gabi Bitte gesagt hätte. Es gibt Menschen, da hört sich Bitte so nach „Ich muss das sagen, du kleiner Scheißer, weil ich so erzogen wurde, weil es so von mir erwartet wird, aber du weißt ja, was Bitte eigentlich bedeutet: Mach hinne, du nutzlose Belastung der Gesellschaft!“

Nachdem er mit den Ausscheidungen der anderen fertig war, setzte sich Max selbst auf Toilette und schimpfte vor sich hin, ohne den Mund zu öffnen, weil er sich nicht sicher war, ob dann außer Schimpfwörtern nicht auch fermentierte Chips rauskämen.

Es dauerte keine Minute und er war tief und fest eingeschlafen.

Nach einer halben Stunde rief Frau Wussow direkt vor der Toilettentür laut um Hilfe und Max wäre vor Schreck beinah von der Kloschüssel gefallen.

Als er rausging, hatten sich schon einige Bewohnerinnen um Frau Wussow versammelt und fragten, was los sei, ohne eine inhaltlich schlüssige Antwort zu erhalten. Sie sah sie jeweils nur kurz verzweifelt an und rief dann weiter um Hilfe.

Frau Röber kam hinzu, sah sich das Schauspiel kurz an und rief dann auch laut um Hilfe. Max versuchte, die beiden zu beruhigen, was aber nicht gelang, stattdessen stimmten zwei weitere Frauen auch noch in den Hilfeschrei-Song ein und Max entschloss sich, schnell zu gehen, bevor jemand kam und ihn für die Ursache des Chaos’ hielt.

Zu spät. Schwester Gabi kam um die Ecke und wutschnaubend auf Max zu.

Der Hilfeschrei-Chor schien sie nicht sonderlich zu beeindrucken, sie drehte sich kurz zu ihnen und schrie mit beeindruckender Raumstimme: „Ruhe jetzt! Alle auf die Zimmer!“

Es trat tatsächlich Ruhe ein und alle bis auf Frau Röber, die Schwester Gabi und Max interessiert betrachtete, gingen weg. Schwester Gabi stellte sich unangenehm nah vor Max hin und blaffte ihn an:

„Wo hast du dich versteckt? Ich suche dich schon über eine Stunde! Wenn du glaubst, dass du dich vor der Arbeit drücken kannst, hast du dich getäuscht! Also: du bleibst noch eine Stunde länger hier!“

„Was?“

Max war kurz in Versuchung, ihr vor die Füße zu kotzen, das hätte heute wahrscheinlich tatsächlich mal spontan funktioniert, aber er wusste, dass er das dann selbst wegputzen müsste und dabei müsste er sich dann wahrscheinlich sofort wieder übergeben und er würde den Rest des Lebens in einer ewigen Schleife von Kotzen und Säubern verbringen.

Durfte Schwester Gabi das eigentlich? Ihm einfach willkürlich so viel Stunden aufbrummen, wie sie wollte. Wieso lernte man in der Schule nicht die wichtigen Sachen? Jura wäre viel sinnvoller und lebensnaher als Physik.

Schwester Gabi sah ihn mit bösartig zufriedenem Grinsen an, hinter ihr stand Frau Röber und lächelte ihm fröhlich zu. Das war die Rettung.

„Ich habe mich nicht vor der Arbeit gedrückt. Sie haben doch gesagt, ich könnte so viel von den Alten lernen, da habe ich mir von Frau Röber aus ihrer Jugend erzählen lassen.“

Schwester Gabi sah ihn und Frau Röber misstrauisch an.

„War dieser Praktikant hier eben bei Ihnen?“

„Ja“, sagte Frau Röber fröhlich.

Schwester Gabi war nicht überzeugt und Max stellte sich zu Frau Röber.

„Wissen Sie noch? Sie haben mir grade von Ihrem freiwilligen bäuerlichen Pflichtjahr erzählt.“

„Ja, natürlich.“ Frau Röber strahlte und drehte sich zu Schwester Gabi. „Wissen Sie. Ich habe in Anklam ein freiwilliges bäuerliches Pflichtjahr gemacht, damals, im Krieg, für fünf Mark im Monat. Die Tochter des Bauern ...“

„Ja, ja. Schon gut. Also keine weitere Stunde. Aber jetzt wird hier wieder richtig gearbeitet und nicht nur rumgesessen. Komm mit, wir müssen noch einige Bewohner lagern.“

Nicht nur Schwester Gabi war unerträglich.

Beim Lagern wurde er dauernd von den Bewohnern angequatscht. All diese Greise, die er kaum verstand und deren Gerede, wenn er sie verstand, selten einen Sinn ergab und die ihn fast nie verstanden, jedenfalls nicht, wenn er sie nicht anschrie und wenn er dann schrie, war es auch wieder nicht recht. Das war doch alles völlig sinnlos.

Nicht nur, was er hörte, war sinnlos, auch alles, was er machen sollte:

Wozu eine Halbtote noch mühsam hin und herdrehen im Bett, nur damit eine Falte im Laken verschwand? Als wenn die es noch mitbekommen würde, wenn sie auf einer Falte lag. Als wenn die jemand besuchen und das sehen würde.

Sollen doch alle froh sein, dass sie liegen können! Ich würde alles dafür geben, jetzt auch im Bett zu liegen, selbst wenn das Laken fünfzig Falten hätte.

Frau Richmann zum Beispiel war so dermaßen senil, dass sie gar nicht mehr sprach und nur noch lag. Wozu sie wecken, nur um ihr Bett glatt zu ziehen? Schwester Gabis mit Fachwissen fundiert begründete Antwort auf diese Frage: „Das machen wir halt so.“

Und jetzt sollte er dieser nicht wirklich noch lebenden Person auch noch eine Suppe anreichen, die Max von Geruch und Aussehen an seinen immer noch rumorenden Mageninhalt erinnerte.

Und wieder, schon wieder, ein freundliches Lächeln, auch in diesem Gesicht? Warum? Was hatte sie denn, weswegen sie noch fröhlich hätte sein können?!

„Ich weiß schon, warum Sie mich so fröhlich ansehen.“ Nicht nur die Übelkeit hatte in der letzten Stunde mit Schwester Gabi immer mehr zugenommen, mehr noch die Aggression und diese erbrach sich nun:

„Sie sind zufrieden mit sich. Weil sie das Einzige, was sie noch können, so toll hinbekommen: Arbeit machen. Völlig sinnfreie Arbeit machen. Haben sie etwas von der...

Erscheint lt. Verlag 7.12.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7568-6857-5 / 3756868575
ISBN-13 978-3-7568-6857-5 / 9783756868575
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