»Und Vorhang auf, hallo!« (eBook)

Ein Leben mit Salome, Mariza, Miss Piggy & Co. | Der Weltstar der Oper erzählt seine spektakuläre Lebensgeschichte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
300 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-77638-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Und Vorhang auf, hallo!« -  Barrie Kosky
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Australien und Europa, Queerness und Judentum, Popkultur und Opernbühne - Barrie Kosky, gefeierter Opernregisseur und meisterhafter Jongleur scheinbar unvereinbarer Gegensätze, lässt uns in »Und Vorhang auf, hallo!« an seinem außergewöhnlichen Leben teilhaben. Geboren und aufgewachsen in Australien, 15 000 Kilometer Luftlinie entfernt von Europa, der Wiege der Oper, hat er schon früh seine Liebe zu dieser Kunstform entdeckt. Wie kam es dazu? Wie passen diese beiden Welten zusammen? Was verbindet das Musiktheater, die australische Kindheit und Jugend von Barrie Kosky und seine Karriere in den europäischen Kulturmetropolen?

Sieben Figuren aus der Welt des Musiktheaters geben darüber Aufschluss, anhand von ihnen tauchen wir ein in die Biografie des weltberühmten Opernregisseurs, in seine Gedankenwelt, Erfahrungen und Fantasien, in seine Beziehung zu den verschiedenen Opern, ihren Urhebern und Protagonist:innen und lernen diese wiederum aus Koskys besonderer Perspektive ganz neu kennen.



Barrie Kosky, geb. am 18.2.1967 in Melbourne, ist einer der gefragtesten Opernregisseure der Welt. Von 2012 bis 2022 war er Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin. Engagements f&uuml;hrten ihn u. a. ans Royal Opera House, Covent Garden, an die Wiener Staatsoper, die Pariser Oper, zu den Salzburger sowie den Bayreuther Festspielen. Am Ende seiner ersten Spielzeit an der Komischen Oper Berlin wurde das Haus in der Kritikerumfrage der Zeitschrift<em> Opernwelt</em> zum Opernhaus des Jahres gew&auml;hlt, 2016 wurde er in derselben Umfrage zum Regisseur des Jahres ernannt. 2014 erhielt er den International Opera Award als Regisseur des Jahres.

Mariza Down Under


Sie war meine erste Liebe. Sie war die erste Diva meines Lebens. Sie blickte mich von einem Schwarz-Weiß-Foto an, das sie signiert hatte und auf dem Schminktisch meiner Großmutter Magda stand. Elegant und raffiniert, mit Armen weiß wie Alabaster und einem seidenen Kleid, wie eine griechische Göttin: Maria Jeritza, eine der größten Sänger:innen des 20. Jahrhunderts. Richard Strauss' erste Ariadne und seine erste Kaiserin, die erste Frau, die Turandot und Jenufa in Nordamerika sang. Als ich sieben Jahre alt war, hatte sie mich komplett verzaubert, diese exotische Sirene von Brno. Maria Jeritza. Das Idol meiner Großmutter und meine erste geheime Liebe. Auch heute noch, wenn ich das Foto, das inzwischen auf meinem Nachttischchen steht, betrachte, werde ich zurückkatapultiert in mein siebtes Lebensjahr und in das damalige Schlafzimmer meiner Großmutter: bewitched, bothered and bewildered.

Signiertes Foto von Maria Jeritza, 1922,
aus einem Autogrammalbum meiner Großmutter

Meine ungarische Großmutter, Magda Löwy, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts geboren und war somit Teil einer Ausnahmegeneration – alt genug, um sich noch an den Ersten Weltkrieg erinnern zu können, und jung genug, um ihm nicht zum Opfer gefallen zu sein; die Jugend in den 1920er Jahren und das frühe Erwachsenenalter in der Nazizeit. Meine Großmutter erlebte so viele Umbrüche im ersten Drittel ihres Lebens wie ich in meinem ganzen Leben nicht. Die Mehrheit meiner Großfamilie überlebte glücklicherweise die Nazizeit, indem sie rechtzeitig geflohen ist – meine belarussische Familie weit vor dem Zweiten Weltkrieg durch Emigration nach Australien und meine polnische Familie durch Auswanderung nach London. Nicht so die Löwys, meine ungarische Familie, der meine Großmutter Magda entstammt. Sie glaubten, sie bildeten als assimilierte, bürgerliche Juden eine Ausnahme und blieben in Budapest. Keiner überlebte die Shoa, bis auf meine Großmutter, die durch die Heirat mit meinem belarussischen Großvater bereits Anfang der 1930er Jahre nach Australien ausgewandert war, sowie ihre Mutter, die bei katholischen Familienfreund:innen Unterschlupf gefunden hatte, ohne dass Magda davon wusste. Die mitteleuropäischen, jüdischen Freund:innen meiner Großmutter, die ich im australischen Exil kennenlernte, teilten mehr oder weniger dieselben brüchigen Erfahrungen, zeichneten sich durch eine Mischung aus Überlebenswille, Hartnäckigkeit, Verschwiegenheit, Nostalgie, Melancholie, Ironie, Freude und Unzufriedenheit aus.

Meine Großmutter wuchs in einer großbürgerlichen Familie auf, die sich zuallererst als europäisches Bürgertum, dann als ungarisch und zuallerletzt als jüdisch begriff – und zwar als assimiliert. Sie waren Hobby-Juden, feierten zwar Schabbat, allerdings mehr als Sozialereignis und aufgrund des feierlichen Rituals als wegen religiöser Motive. Sie besuchten vielleicht drei Mal pro Jahr die Synagoge – zu Rosch ha-Schana, Jom Kippur und Pessach. Meine Großmutter wurde von einem katholischen Kindermädchen großgezogen, mit dem sie regelmäßig in die Kirche ging und dort gebannt christliche Kirchenmusik anhörte. Ihr Vater, mein Urgroßvater, hatte eine Eisenfabrik und gehörte zu den Budapester Großunternehmern. Sein Wohnhaus stand an der besten Adresse Budapests, an der Andrássy út, gewissermaßen der Champs-Élysées oder dem Ku'damm Budapests, dort, wo sich auch das Opernhaus befindet.

Mein Urgroßvater war im Förderkreis der Budapester Staatsoper und hatte eine eigene Familienloge. Von Kindesalter an besuchte meine Großmutter einmal pro Woche gemeinsam mit ihren Eltern eine Opernvorstellung im Budapester Opernhaus, und einmal im Monat fuhr sie sogar mit ihrem Vater nach Wien in die Staatsoper – bis sie schließlich meinen Großvater kennenlernte und mit ihm nach Australien auswanderte. Für meine Großmutter und ihre Familie war der wöchentliche Opernbesuch wie der Wocheneinkauf bei Edeka oder Rewe. Raus aus der Wohnung, einmal die Straße zu Fuß runter, dann die Opernvorstellung und wieder zurück. Sie war eine absolute Opernfanatikerin, kannte das klassische Repertoire in- und auswendig und hatte zahlreiche Opernstars der damaligen Zeit auf der Bühne erlebt. Sie hat Richard Strauss in einem Künstlerclub in Budapest getroffen, Bruno Walter dirigieren sehen und große Sänger:innen wie Fjodor Schaljapin, Lotte Lehmann und Maria Jeritza live gehört. »Ach, die Lotte. Ach, die Jeritza«, seufzte sie gelegentlich. Namen, mit denen ich damals nichts verband. Aber sie sind mir in Erinnerung geblieben. In mehreren Büchlein sammelte sie Autogramme, darunter die Unterschriften von Richard Strauss, Giacomo Puccini, Erich Kleiber und Enrico Caruso sowie ein Brief von Béla Bartók. Ihr Vater, also mein Urgroßvater, hatte damit bereits begonnen. Zu meinem achtzehnten Geburtstag schenkte sie mir die Alben.

Sie hatte zwei Lieblingswerke, die auf eine gewisse Weise ihren Charakter widerspiegeln. Emmerich Kálmáns Operette Gräfin Mariza, deren Uraufführung sie im Jahr 1924 im Theater an der Wien gesehen hatte und Béla Bartóks Oper Herzog Blaubarts Burg. So unterschiedlich diese beiden Werke auch waren – ich kann mir kaum ein größeres Gegensatzpaar vorstellen –, stehen sie gewissermaßen für den Charakter und die Traumvorstellungen meiner Großmutter. Ich glaube, dass meine Großmutter im Innersten aus meinem Großvater einen Operettencharakter machte. Er war sehr gutaussehend, elegant, klug, erfolgreich, ein reicher Pelzhändler aus Australien mit Wurzeln in Belarus, der auf einer Geschäftsreise in Budapest sie sofort in seinen Bann schlug. Er umwarb sie, machte ihr einen Antrag – »Komm mit mir nicht nach Folies Bergère, sondern nach Australien« –, heiratete sie in Paris und fuhr mit ihr auf einem Schiff in ihre neue Zukunft. Genau wie der zweite Akt einer Operette. Sie hatte keinen blassen Schimmer von Australien, hatte sich aber wahrscheinlich eine exotische neue Welt erträumt. Einen Ort wie Buenos Aires, Rio de Janeiro, die Copacabana. Kolonial, exotisch, sonnig. Einen Ort, an dem man stets gute Laune hat, Cocktails trinkt und Samba tanzt. Sie erfand ihre persönliche Operettengeschichte mit meinem Großvater als Prinzen, der sie mit sich in sein fernes Land nahm, ins Land des Lächelns. Emmerich Kálmán, Paul Abraham und Franz Lehár hätten ihre Geschichte kaum besser ersinnen können.

Doch dann holte sie die Realität ein. Australien entsprach mitnichten dem erträumten Paradies. Sie hasste es von Anfang an. Sinnbildlich dafür steht eine kleine Anekdote, die sie nicht müde wurde, uns zu erzählen: Mein Großvater war einer der großen Akteure auf dem australischen Pelzmarkt und also weit entfernt davon, arm zu sein, auch wenn sein Leben in Armut begonnen hatte. Und doch war sein Reichtum nicht vergleichbar mit dem, den meine Großmutter in Budapest erfahren hatte und der nicht nur aus finanziellem, sondern auch aus kulturellem und sozialem Kapital bestand. So musste meine Großmutter, obwohl sie bislang niemals eine Küche betreten hatte, auf einmal selbst kochen und Lebensmittel einkaufen, da sie keine Köchin – wie in Budapest – hatte. So ging sie kurz nach ihrer Ankunft in Melbourne 1934 in ein kleines Lebensmittelgeschäft und verlangte nach Kaffeebohnen. Der Verkäufer lachte sie aus. Kaffeebohnen gab es hier nicht, nur Instantkaffee, der ja auch viel praktischer sei. Sie brach in Tränen aus, stürmte aus dem Laden und rannte nach Hause. Keine Kaffeebohnen. Eine Frechheit. Eine Schande. Ein furchtbares Omen für ihre Zukunft. Ein traumatisches Erlebnis und der holprige Start in ihr neues, verheißungsvolles Leben. Sie versuchte, sich in Australien einzurichten, gebar zwei Kinder, meinen Vater und meine Tante, und musste dann miterleben, wie ihr Mann frühzeitig starb und sie mit den beiden Kindern – mein Vater war gerade mal zwölf Jahre alt – in einem Land zurückließ, das sie verabscheute. Das war nicht der Operettentraum, den sie sich ersehnt hatte. Vielleicht war mein Großvater doch eher eine Art Blaubart, der sie verführte, geheimnisvolle Türen zu öffnen. Und dahinter: das Grauen – Australien.

Neben Gräfin Mariza liebte sie auch Lehárs Lustige Witwe, wobei sie letztlich die Mariza aufgrund von Kálmán, also einem ungarischen Komponisten, bevorzugte. Beide Operetten handeln, nach Ansicht meiner Großmutter, von Frauen, die ihren Mann verloren haben ...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2023
Co-Autor Rainer Simon
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte aktuelles Buch • Australien • Berlin • bücher neuerscheinungen • Bühne • Deutschland • Diva • Frauen • Homosexuell • Inszenierung • Intendant • International Opera Award • Komische Oper Berlin • Kultur • Künstler • Miss Piggy • Mitteleuropa • Musical • Musik • Musiktheater • Neuerscheinungen • neues Buch • Nordostdeutschland • Oper • Operette • Operndiva • Opernhaus des Jahres • Opernwelt • Publikumsliebling • Regisseur • Regisseur des Jahres • Theatergemeinde Berlin • Welterfolg
ISBN-10 3-458-77638-9 / 3458776389
ISBN-13 978-3-458-77638-3 / 9783458776383
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