In der Feuerkette der Epoche (eBook)

Über Gertrud Kolmar
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
462 Seiten
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag
978-3-633-77628-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In der Feuerkette der Epoche -  Friederike Heimann
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Gertrud Kolmar (1894-1943) gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts, dennoch sind viele ihre Arbeiten bis heute weitgehend unbekannt. Zu ihren Lebzeiten erschienen aus ihrem umfangreichen dichterischen Werk nur drei Gedichtbände: »Gedichte«, »Preußische Wappen« und »Die Frau und die Tiere«. Gertrud Kolmar selbst entschied sich gegen eine Flucht und blieb bei ihrem Vater in Berlin. Sie musste Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten und schrieb nachts an ihren Gedichten. 1943 wurde sie im Verlauf der sogenannten Fabrikaktion deportiert und in Auschwitz ermordet.

Friederike Heimann zeichnet in ihrer Biografie ein sehr persönliches und berührendes Porträt einer Frau, die ihr Leben als jüdische Dichterin in Deutschland schmerzlich erfahren und immer wieder zum Thema ihres lyrischen und erzählerischen Werks gemacht hat.



Friederike Heimann hat Germanistik, Politologie und Soziologie an der FU-Berlin studiert. Sie promovierte 2012 &uuml;ber die Dichterin Gertrud Kolmar am Zentrum f&uuml;r J&uuml;dische Studien in Basel. Im Bereich deutsch-j&uuml;discher Literatur hat sie zahlreiche Essays und Aufs&auml;tze publiziert, darunter &uuml;ber Gertrud Kolmar, Paul Celan, Rose Ausl&auml;nder, Jenny Aloni oder auch Hertha Nathorff. Zuletzt erschien von ihr im J&uuml;dischen Verlag bei Suhrkamp das literarische Portr&auml;t: <em>In der Feuerkette der Epoche. &Uuml;ber Gertrud Kolmar</em> (2023). Seit 2014 engagiert sie sich im J&uuml;dischen Salon am Grindel e.V. in Hamburg, wo sie viele in- und ausl&auml;ndische G&auml;ste aus Literatur und Wissenschaft empfangen hat. Sie lebt als freie Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Hamburg.

1Lindenbaum und Lorelei


Ein Tag im Mai 2014 in Berlin. Wir sind eine Gruppe von vier Personen, die sich in einem Straßencafé auf dem Viktoria-Luise-Platz in Schöneberg für eine kurze Rast niedergelassen hatte. So unterschiedlich die Wege waren, die uns hierhergeführt hatten, in diesem Moment und an diesem Ort hatte uns der gemeinsame Wunsch zusammengebracht, miteinander den Spuren der deutsch-jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar zu folgen. Das Wetter war warm, fast schon sommerlich. An den Bäumen und Sträuchern wuchs helles, frisches Grün. Ein Lufthauch fuhr durch die Blätter und brachte sie zum Rauschen. »Man hörte die stille Friedensmusik« – wie Primo Levi dies einmal so treffend nannte –, »als wäre kein Krieg, als wäre der Krieg nie gewesen«.1

Menschen strömten aus den Straßen, über den Platz, drängten sich auf den Bürgersteigen. Im unablässigen Kommen und Gehen bewegte und drehte sich die große Stadt. Ein »Geruch von Staub und Benzin« hing in der lauen Luft, schrieb die jüdische Dichterin Lea Goldberg einmal über einen solchen Berliner Frühlingstag im Jahr 1932. Viele Menschen gingen wie wir ins Café. Die Tische draußen standen ganz dicht an den Vorübergehenden, und doch verlief hier für uns heute noch genauso wie damals für Lea Goldberg »eine klare, scharfe Grenze«.2 Jeder ging für sich allein in seine Einsamkeit. »Diese massive Stadt, über dem Nichts hängend, Stadt des Friedens und der Freiheit über einem klaffenden Abgrund aus Blut –«.3 Ein Satz ebenfalls aus Goldbergs Berlin-Roman aus den Dreißigerjahren. Geschrieben angesichts der von ihr damals erlebten Judenverfolgung, besaß er für unsere kleine Gruppe heute in gewisser Weise noch immer Gültigkeit. Berlin im Jahr 2014, Hauptstadt von Deutschland mit fast vier Millionen Einwohnern, im Zentrum Europas, auf der nördlichen Hälfte der Erdkugel. Von der südlichen Hälfte aus Melbourne/Australien waren Ben und Christine hierhergekommen. Mit ihnen saßen mein Mann und ich nun an jenem Tisch im Straßencafé am Viktoria-Luise-Platz.

Die Namensgebung des mit Blumenrabatten und Lindenbäumen bepflanzten Platzes, auf den die umliegenden Straßen sternförmig zulaufen, erinnert nicht nur an die letzte preußische Prinzessin Viktoria Luise, die 1892 als einzige Tochter Wilhelms des Zweiten in Berlin geboren wurde. Sondern zugleich wird mit dieser Reminiszenz an die Kaiserzeit auch der Gedanke an eine historische Konstellation geweckt, die für die Kindheit und Jugend der 1894 geborenen Gertrud Kolmar auf vielerlei Weise prägend war. Das kaiserliche Preußen der deutschen Hauptstadt auf der einen Seite, der jüdisch-polnische Osten ländlicher Kleinstädte auf der anderen Seite, von diesen zwei Polen war das Dasein der Dichterin von Anfang an bestimmt. Ein Spannungsbogen, der sich durch ihr Leben hindurchziehen sollte und der sich auf spezifische Weise gerade auch in der Wahl ihres Dichternamens Kolmar ausdrückt, geht dieser doch auf die deutsche Benennung des polnischen Städtchens Chodzież zurück, aus dessen Umgebung die Chodziesners – wie der Name noch zeigt – ursprünglich stammten. Vor allem drückt sich in dieser Verdeutschung des Namens aber auch ein Versuch des Ankommens und der Integration aus. Etwas, das für die jüdische Dichterin keineswegs eine Selbstverständlichkeit war und schließlich auf schreckliche Weise scheitern sollte. Die letzten Lebensjahre bis zu ihrer Deportation im März 1943 war sie gezwungen, in einem sogenannten »Judenhaus« ganz in der Nähe dieses Platzes, in der Speyerer Straße 10, zu verbringen. Eine Adresse, die heute nicht mehr existiert. Die Straßenführung ist in der Nachkriegszeit verändert und verlegt worden, und wenn man heute den Ort dieser letzten Bleibe der Dichterin aufsuchen will, muss man sich in die Münchner Str. 18a begeben. Dort hatten wir uns auch mit Ben und seiner Lebensgefährtin Christine getroffen. Denn Gertrud Kolmar war die Schwester von Bens Vater Georg Chodziesner und damit seine Tante.

Auch das Haus selbst, das ein altes Foto noch als einen typischen Berliner Gründerzeitbau zeigt, ist nicht mehr vorhanden. Eine jener überall im Bayerischen Viertel als »Denkmale des Erinnerns« aufgestellten Tafeln weist heute dort, wo es einst stand, darauf hin, dass am 10.7.1935 »Wanderungen jüdischer Jugendlicher von mehr als zwanzig Personen« verboten worden waren. An der Stelle des alten Hauses steht jetzt – etwas versteckt hinter einem mit Büschen und Bänken umstandenen Halbrondell – ein grauer Neubau aus den Sechzigerjahren. Das Einzige, was noch an die ehemaligen Bewohner erinnert, sind zwei Stolpersteine aus Messing auf dem Gehweg vor diesem Haus, die diesmal wie frisch geputzt blinkten. Als habe jemand gewusst, dass Ben heute hierherkommen würde. Auf dem einem steht der Name Gertrud Kolmar, geb. Chodziesner, auf dem anderen der ihres Vaters, Ludwig Chodziesner. Ebenfalls angegeben sind das jeweilige Geburtsjahr, der Deportationsort, das Deportationsdatum und das Todesdatum. Bens Großvater Ludwig Chodziesner starb am 13.2.1943 in Theresienstadt. Seine Tante Gertrud wurde im März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Vier Jahre hatte Gertrud Kolmar noch in dem Haus in der Speyerer Straße gelebt. Nach der Reichspogromnacht 1938 war das damalige Familiengrundstück in Berlin-Finkenkrug mit Haus und Garten zwangsversteigert worden. Daraufhin hatte Kolmar zusammen mit ihrem inzwischen siebenundsiebzig Jahre alten Vater im Januar 1939 in die Speyerer Straße umziehen müssen. Alle anderen Familienmitglieder hatten Berlin zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen oder bereiteten ihre Flucht vor, so auch Bens Eltern Georg und Thea Chodziesner.

Georg war es jedoch nicht mehr möglich, die Ankunft des Visums für die geplante Emigration nach Chile abzuwarten. Um einer drohenden Verhaftung durch die Gestapo zu entgehen, hatte er im August 1939 überstürzt nach England fliehen müssen. Zwar hatte man gehofft, ihm die Einreisebewilligung für Chile noch nachschicken zu können, doch da sie erst nach Kriegsausbruch in Berlin eintraf, war auch dies unmöglich geworden. Nur wenige Monate nach seiner Ankunft in London, wurden mit der Eröffnung der deutschen Westfront im Frühjahr 1940 alle deutschen Flüchtlinge in Großbritannien zu alien enemies deklariert. Auch Georg wurde in das zentrale Internierungslager auf der Isle of Man eingewiesen, wo er abgeschnitten von der Außenwelt unter mehr als entbehrungsreichen Bedingungen mehrere Monate festsaß, bis er schließlich mit einer großen Anzahl weiterer Internierter – darunter jüdische Flüchtlinge, aber auch einige Hundert italienische und deutsche Kriegsgefangene, von denen nicht wenige überzeugte Nazis waren – in die britischen Kolonien nach Übersee verschifft wurde. Ohne die geringste Ahnung, wohin es überhaupt gehen sollte, wurde Georg am 10. Juli 1940 zusammen mit über 2500 weiteren Männern auf dem britischen Truppentransporter Dunera nach Australien gebracht, wo er erst nach vielen Wochen unter katastrophalen Reisebedingungen Ende August 1940 ankam, nur um erneut für zwei weitere Jahre in ein Internierungscamp eingewiesen zu werden. Um sich endlich wieder als ein freier Mann bewegen zu können, trat er im September 1942 schließlich freiwillig der australischen Armee bei und erwarb sich so das endgültige Bleiberecht. Allmählich konnte er nun auf dem neuen Kontinent Fuß fassen, sich dort wieder eine Existenz aufbauen. Bis zu seinem Tod im Jahre 1981 lebte er in Australien.

Bens Mutter Thea gelang die Flucht aus Berlin mit ihrem damals vierjährigen Sohn, der da noch Wolfgang oder Wölfchen genannt wurde, erst nach Kriegsausbruch im Dezember 1939. Nach unablässigen Bemühungen, endlosen Wegen und quälenden Wartereien hatte sie endlich die sogenannte Llamada, jene für Chile notwendige Einreisegenehmigung, erhalten. Ihren Mann hat sie nicht wiedergesehen. Nur wenige Jahre nach ihrer Ankunft in Concepción in Chile, auf die eine Zeit nicht abreißender Geldsorgen, permanenter Arbeitssuche und wiederholter Umzüge unter ständiger Anspannung und Sorge um ihre zurückgebliebenen Familienangehörigen folgte, starb sie im Sommer 1943 an den Folgen einer Meningitis. Der erst achtjährige Wolfgang war nun ganz auf sich allein gestellt. Einige Monate verbrachte er im Waisenhaus von Concepción. Als er dort schwer an Diphterie erkrankte, nahm sich schließlich ein ...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 20. Jahrhundert • aktuelles Buch • Auschwitz • Berlin • Berliner Juden • Biografie • bücher neuerscheinungen • Fabrikaktion • Judentum • jüdisches Leben im Nationalsozialismus • Jüdisches Leben in Berlin • Lyrik • Nationalsozialismus • Neuerscheinungen • neues Buch
ISBN-10 3-633-77628-1 / 3633776281
ISBN-13 978-3-633-77628-3 / 9783633776283
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