Bibliomanie - Mark Jischinski

Bibliomanie

(Autor)

Buch | Softcover
285 Seiten
2023
adakia Verlag
978-3-941935-53-2 (ISBN)
16,00 inkl. MwSt
Bodo ist biblioman. In einer Selbsthilfegruppe begegnet er Menschen, die Bücher auf ganz unterschiedliche Art und Weise verehren. Im Programm der 12 Schritte soll Bodo geheilt werden, doch nichts läuft nach Plan. Tamara liest er Bukowski-Gedichte vor, mit einer Internetbekanntschaft tauscht Bodo geheime Wünsche und Sehnsüchte aus, die sich zu gleichen Teilen auf Sex und Bücher beziehen. Er kauft Bücher in Mengen, die er nie lesen kann, stellt einige in der Gruppe wie in einem Lesekreis vor und arbeitet nebenbei in einer Buchhandlung. Schließlich tüftelt er an der Revolution des Buchkonsums durch einen Pulverisator und eine Lesekapsel, in der die Zeit stehen bleibt. »Ein Muss für alle, die verrückt nach Büchern sind.«

Mark Jischinski wurde 1974 in Mühlhausen (Thüringen) geboren und lebt heute in Leipzig. Von dort aus arbeitet er bundesweit als Berater und Coach für Unternehmer und Führungskräfte, gibt Seminare, sitzt aber oft an seinem Rechner und schreibt Geschichten. Seit dem Jahr 2000 veröffentlicht er Romane, Erzählungen und Short Stories. Zuletzt erschienen von ihm im adakia Verlag die Romane »Spatzenmuse«, »Wankelmuse« (mit Ophelia Hansen) und »Swinging Village«. Darüber hinaus veröffentlichte er das irische Tagebuch »Iren ist menschlich« und „Karla, das Leben und ich“, Stories aus dem Beziehungsalltag. Im Jahr 2021 erschien "Bitte Anstand halten! - Stories". Mark ist Herausgeber der edition caput, der Autorenanthologie des adakia Verlages.

1. Anerkennen der Machtlosigkeit. Es braucht im Leben mindestens eine Sucht, damit es wertvoll ist. Ich bin süchtig nach Büchern und empfinde es als Bereicherung. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, die mich zu dieser Selbsthilfegruppe geschickt hat. Unbekannte Augenpaare starren nun zu mir. Meine Hände sind schweißnass und ich reibe sie an den Oberschenkeln trocken, während ich langsam aufstehe. Die Sitzfläche des Stuhls gibt meinen Kniekehlen Halt, aber trotzdem ist alles in Bewegung. Die Wände des Raumes kommen bedrohlich nah auf mich zu, von der Decke fallen psychedelisch drehende bunte Kreise auf mich herab. Die Luft ist trocken und ihr fehlt lebensnotwendiger Sauerstoff. Es riecht nach Schweiß, altem, eingetrocknetem Schweiß und die Papillen meiner Zunge nehmen Angst wahr; Angst, die wie Blut schmeckt, süß und nach Metall. Volker sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl, seinem Thron, von dem aus er uns alle sieht. Er ist der Moderator und schaut mit riesigen Augen besonders erwartungsvoll zu mir, als wäre er auf Droge und wartet auf die Erleuchtung, auf den Höhepunkt eines Trips. Er ist mir unsympathisch. Schütteres Haar steht wie elektrisch aufgeladen von seinem Haupt weg und mit langen dünnen Fingern und deutlich abgekauten Fingernägeln trommelt er mit einer lächerlich weichen, fließenden Bewegung wie ein Klavierspieler auf seinem Knie herum. Ist es die Summe aus dem Äußerem des Therapeuten oder ein bloßes Gefühl, ich weiß es nicht. Ich würde gern fliehen, mich aus der Situation stehlen, doch das geht nicht; ich bin an der Reihe. »Hallo, ich bin Bodo«, sage ich unsicher. »Hallo Bodo«, sagen alle aus der Gruppe und ich kann Volkers Stimme raushören. Ich stehe inzwischen und ich weiß, was von mir erwartet wird. Es kommt mir nur schwer über die Lippen, doch ich überspiele meine Unsicherheit und die Säure, die mir die Speiseröhre heraufkriecht, mit meinen Worten. »Ich bin Bodo und ich bin biblioman.« Anerkennendes, rücksichtsvolles, aufmunterndes Nicken und wissende, mitfühlende Blicke. Von allen. Besonders von Volker. Der sagt schließlich: »Danke, Bodo. Schön, dass du bei uns bist. Erzähle uns mehr von dir. Wie ist es dazu gekommen, was hat dich zu uns gebracht und wie fühlst du dich jetzt?« Er grinst mit diesem sicher überaus erfahrenen Moderatoren-Lächeln in die Runde und reibt mit den Händen genüsslich langsam über die Oberschenkel. Sehe ich da Vorurteile aus ihm herausströmen? Spüre ich dunkle Verwünschungen und billiges Mitleid stumm anklagend in seinem Blick, weil mit mir wieder eine arme Seele im Raum hockt, die am Rand der Gesellschaft gelandet ist? Biblioman, was heißt das schon? Eine zusätzliche Einordnung, nichts weiter. Eine Sucht, vielleicht; ein echter Sinn auf jeden Fall. Brauche ich überall eine Kategorie, damit die anderen in der Runde brav ihre imaginären Schubläden öffnen und mich einsortieren? Dabei will ich es wie Alan Watts halten und selbstbewusst bis überheblich sagen: »Bodo Jensen, no Label.« Für die, die das nicht verstehen, bin ich ein Mann, eins achtzig groß, mediterraner Typ, nicht gerade athletisch, auch nicht dick, ein paar Macken, aber ansonsten ganz in Ordnung. Gut, die Sache mit den Büchern – na und? Andere Leute sammeln jeden Mist und keiner sagt was. Überraschungseierfiguren, Briefmarken, Zehennägel. Ich habe vielleicht dreitausend Bücher, möglicherweise mehr, genau weiß ich es nicht, weil ich nicht zum Zählen komme. Und nun stehe ich vor Volker und den anderen Idioten und muss mich rechtfertigen, weil meine Mutter mich in »die Gruppe« geschickt hat. »Das wird dir guttun«, hat sie gesagt. Und: »Da bist du unter Gleichgesinnten!« Die Gleichgesinnten und ihre Bücher sind mir alle egal. Ich will einfach nur nach Hause. Mich ausruhen. Oder lesen. Oder in die Buchhandlung gehen; einfach so. »Bodo?« Volker nervt wieder. Ich spüre die Blicke der anderen wie Stiche auf dem Gesicht, auf den Armen, auf meinen Beinen. Sie tun mir weh. Sie sollen mich in Ruhe lassen! Meine Atmung beschleunigt sich, die Hände beginnen zu zittern und ein fremdes Wesen mit harten Stacheln kriecht nun endgültig von meinem Magen über die Speiseröhre, hinab in die Lungen, steigt von dort wieder nach oben und sammelt sich in meinem Mund und da, endlich! Ich schreie ... ... und wache auf. Wenn meine Mutter mir bloß nicht diesen Blödsinn mit der Selbsthilfegruppe vorgeschlagen hätte und ich nicht mit ihr beim blöden Therapeuten Volker gewesen wäre. Nun träume ich jede Nacht davon, dass mir der Seelenklempner auf die Pelle rückt oder mich dazu zwingt, mich anderen, völlig unbekannten Menschen zu öffnen. Es drückt noch immer im Bauch und in meiner Brust. Ich greife unter die Bettdecke und massiere mich genau dort, wo der Schrei begann. Die Wärme meiner Hand auf dem Bauch tut gut und beruhigt mich. Wenn ich an Volker denke, wird mir schlecht. Ich bin schweißgebadet. Mit einem befreienden Ruck schlage ich die Bettdecke zurück. Ich setze mich auf und atme tief durch. Die Luft kühlt meine Haut und ich nehme sieben kräftige Atemzüge in den Bauch. Über diese Methode der Beruhigung oder Achtsamkeit habe ich irgendwo mal was gelesen. Ist nett, hilft aber nichts. Ich suche mit meinen Füßen unter dem Bett die Hausschuhe und befördere zwei Bücher von Camus ans Licht. Hatte ich gestern Abend noch drin geschmökert? Mir fällt es nicht mehr ein. Andererseits muss ich es nicht wissen, schließlich sagte doch genau dieser Schriftsteller so was in der Richtung, dass es dem absurden Menschen nicht um Erklärungen und Lösungen geht, sondern um Erfahrungen und Beschreibungen. Und dass alles mit einer scharfsichtigen Gleichgültigkeit beginnt. Ich bücke mich nach den Büchern und dabei fällt mein Blick auf einen Roman unter dem Bett. Oh! Huxley! Wann ist mir denn die schöne neue Welt unters Bett gerutscht? Keine Ahnung. Ich lasse die Bücher liegen und laufe in Richtung Bad. Jeder Schritt fällt mir schwer und meine Oberschenkel fühlen sich an, als hätte ich Muskelkater. Dabei habe ich gar keinen Sport gemacht. Schon lange nicht mehr. Alles nur von diesem verdammten Aufstehen in der Gruppe im Traum. Ich setze mich auf die Kloschüssel, greife ein Buch vom Stapel und lese bei Amélie Nothomb weiter. Schöne Klolektüre, »Den Vater töten«. Noch maximal zehn Sitzungen, dann bin ich durch. Beim Frühstück räume ich einige Bücher auf dem Tisch beiseite, die ich vor ein paar Tagen in die Küche gelegt habe, keinen Plan, warum. Irgendwie wollte ich mal wieder was von Boyle lesen und habe alle Romane von ihm hervorgekramt. Dabei bin ich zufällig auf Murakami gestoßen und war überrascht, dass ich diesen »Tazaki« bereits gekauft hatte. War mir gar nicht mehr bewusst. Ich würge ein geschmackloses, aber ganz sicher gesundes Müsli runter und blättere dabei in Murakamis Buch. Dann schaue ich zum Küchenfenster. Oder besser auf den Bücherberg vor dem Fenster. Letzte Woche hatte mir meine Mutter damit gedroht, genau diesen Bücherstapel zu entsorgen, wenn er weiterhin den Blick nach draußen versperrt. Ich sagte ihr, dass eben diese Aussicht allemal schöner ist als die auf Frau Faust von gegenüber. Es gibt prachtvollere Panoramen auf dem Erdball als einen schweren Körper, der in üppigen Teilen über dem Fensterbrett hängt, die Arme auf den Brüsten parkt und in einer Stunde mindestens eine Schachtel Zigaretten raucht. Dabei scheint die Dame maximal in den späten Vierzigern zu sein, sieht aber doppelt so alt aus. Wenn sie dann auch noch ihre bereits ergrauten, strähnigen Haare mit ihrer gelben Raucherhand durchfurcht, können selbst die schlechtesten Bücher die Sicht auf sie angenehm versperren. Natürlich weiß ich, dass Frau Faust auf mich steht und davon träumt, Sex mit mir zu haben. Diesen Verdacht habe ich meiner Mutter gegenüber noch nicht geäußert, allerdings kann sie darauf auch selbst kommen, wenn sie den Blick dieser Frau in den besten Jahren richtig deutet und eins und eins zusammenrechnet. So, wie ich es für gewöhnlich tue. Ein scharfer Geruch fährt mir in die Nase. Eigentlich müsste ich mal wieder duschen. Vor allem nach dem anstrengenden und schweißtreibenden Traum. Aber ich habe keine Lust darauf. Ich weiß auch nicht, wann ich das letzte Mal unter der Dusche stand. Stört ja niemanden. Ich schiebe das Müsli beiseite, gehe ins Schlafzimmer und ziehe mich um. Es ist inzwischen kurz vor zehn und ich muss raus. Es ist zu hell und zu laut auf der Straße. Zu viele Menschen außerdem. Ich frage mich, ob die alle nichts zu tun haben. Nach ein paar Minuten erreiche ich unter Qualen die Buchhandlung im Zentrum. Straßenlärm, Gesprächsfetzen, das Geschrei von Kindern und das Gezeter der dazugehörigen Mütter, tausend Gerüche und Ausdünstungen fremder Menschen – es ist eine Tortur. Endlich stehe ich in meinem Buchladen. Ich liebe ihn nicht, weil er so schön und wunderbar ist. Es ist keiner dieser pittoresken Bücherhöhlen voller Magie, mit welligen Folianten und mit einem Geruch nach geballtem Wissen, Papier und Staub. Nein, er ist es einfach nur, weil der Laden gleich um die Ecke und leicht erreichbar ist. In meinem Viertel, genau zwischen Zentrum und Südstadt, in dem sich die Fassaden der Häuser damit überbieten, welche Ziegelsteine am längsten halten und welche eben nicht. Es gibt noch eine weitere Buchhandlung, in die ich gern gehe. Beide gehören zu großen Ketten mit zig Quadratmetern voller geschriebener Verlockungen, sorgsam gebunden zwischen verführerisch gestalteten Pappdeckeln. Dann ist da noch der kleine Buchladen von Frau Uhlig im Norden, aber das ist eine andere Geschichte. Dort kaufe ich nichts. Es ist fast Monatsende und das Geld wird knapp. Deshalb brauche ich gar nicht erst in die Ecke mit den Hardcoverausgaben zu gehen. Heute sind maximal die preisreduzierten Remittenden drin, die unsortiert in großen Kisten lagern. Aber womöglich haben sie die endlich mit Neuware aufgefüllt. Und tatsächlich sind mir der Gott der Bücher und die Angestellten der Buchhandlung hold und es gibt Nachschub zwischen den mir bereits bekannten Exemplaren. Ich bekomme sofort schwitzige Hände. Was für Schätze! »Die tausend Herbste des Jacob de Zoet« von David Mitchel als Hardcover, runtergesetzt auf 8,90 Euro! Sofort nehme ich es an mich, streiche über den wunderbaren Schutzumschlag, leichte Prägung, angenehme Verwerfungen im Material. Irgendwo muss ich »Wolkenatlas« rumliegen haben, aber ich kam noch nicht zum Lesen. Und da! »Der Idiot« von Dostojewski! Runtergesetzt, wundervoll. Sie haben meine Gebete erhört und unbekannte Neuware bekommen. Oh! »Arbeitsheft Zeitmanagement« für nur 4,99 Euro. Das wird mir bei meinem Stress guttun! Gleich darauf fällt mein Blick auf »Französisch in 30 Tagen mit 2 Audio-CDs«. Auch gut. Ich sollte mal wieder meine Sprachkenntnisse auffrischen. Nun wird es langsam Zeit für einen Einkaufskorb. Ich balanciere den Stapel Bücher zurück zum Eingang und greife zu einem Korb, in den ich sie ganz vorsichtig hineinlege. Ich streiche noch einmal über das Cover vom Mitchel, dann gehe ich zurück. Die Auswahl ist gut und es fällt mir schwer, mich zu entscheiden. Sogar ein paar philosophische Sachen sind dabei. Russel, Hobbes und Schopenhauer. Ich nehme sie mit. Eines Tages werde ich zum Lesen und Studieren kommen. Auch bei den belletristischen Sachen setzt sich die Neuware fort. Ich bin mir nicht sicher, ob ich »Irrlicht« von O’Connor schon habe, lege es aber trotzdem zu meinen Neuanschaffungen. Fünf neunundneunzig sind okay. Hardcover. Ich werfe noch zwei Bücher in den Korb, deren Titel und Autoren mir gar nichts sagen. Die Cover sind einfach zu schön. Nun wird mir alles zu schwer und ich denke, dass es besser ist, noch einmal zu kommen. Morgen vielleicht. Deshalb schleppe ich die Schätze zur Kasse. Ich packe die Bücher auf den Tresen. Eine uralte Verkäuferin zieht meine neuen Lieblinge mit eisiger Verbitterung im Blick über den Scanner. Sie schaut in ihrem monotonen Schaffen sehr wahrscheinlich in eine innere Leere, die sie erschrecken würde, wenn sie sie nur sehen könnte. Dabei macht sie den Eindruck der netten Omi von nebenan. Eine schwarze Bluse mit roten und weißen Blumen umschmeichelt das ledrige und faltige Dekolletee, die grauen Haare sind lang und zu einem Pferdeschwanz gebunden und die Hose ist eben nicht altersgerecht beige, sondern blau. Sie ist schlank, geradezu beängstigend athletisch und gesund. Warum hat sie dann diese negative Haltung zum Leben? Zumindest die, die sie mir präsentiert? Oder bin ich es, der sie zu diesem Gesichtsausdruck der Verwünschung treibt? Hatte der liebe, noch immer neben meinem Bett liegende Camus nicht so etwas in der Art von sich gegeben, dass es der Verdruss ist, der uns zu schaffen macht? Die tägliche Wiederholung aus Aufstehen, zur Arbeit fahren, arbeiten, nach Hause kommen, essen, schlafen und wieder von vorn und das an jedem Tag der Woche, Jahr für Jahr? Darf aber gerade eine Frau, die in einer Buchhandlung arbeitet, trotz ihrer Vitalität so undankbar sein und ihre Frustration derart zur Schau tragen? Sie ist im Olymp der beruflichen Möglichkeiten beschäftigt, vom Schicksal beschenkt, und benimmt sich, als würde sie in einer Suppenküche lausige Eintöpfe an noch lausigere Empfänger ausgeben. Ich spüre, wie meine neuen Bücher unter der mentalen Last der Dame leiden, und will der demotivierten Kassiererin etwas sagen wie: »Noch maximal drei Jahre, dann haben Sie es geschafft.« Aber sehr wahrscheinlich haben sie Verdruss und Gram oder Anstrengung und Bissigkeit über die Jahre äußerlich altern lassen und sie ist erst Ende vierzig. Dann darf sie hier weitere zwanzig Jahre hocken, harte Schwielen an den Händen, einen noch strafferen Hintern und dicke Barrieren im Kopf pflegen, bis sie endlich wie Frau Faust jeden Tag debil aus dem Fenster schaut und semiaktiv auf das Ende wartet. »Sechsundvierzigachtzig«, sagt sie mit der fatalistischen Inbrunst einer Bestatterin, die dem Tischler ein Sargmaß durchgibt. Ich krame in meiner Hosentasche, fördere einen Fünfziger zutage und will am liebsten »stimmt so« sagen, aber diese arme Kreatur ist weder für Ironie empfänglich, noch sind ihre kaum wahrnehmbaren Dienste am Kunden einen Sonderobolus wert. Ich schüttele die negative Energie der für ihren Beruf gänzlich untauglichen Dame ab – vielleicht wäre sie in einem Sado-Maso-Laden besser aufgehoben –, verlasse das Geschäft und trage die Bücher voller Freude nach Hause. Das Hochgefühl über die Neuanschaffungen vertreibt das hektische Gewusel und die zu lauten Geräusche der Stadt, der Geruch von Papier und Druckerschwärze in meiner Nase legt sich wie eine warme und parfümierte Decke über den Gestank des städtischen Lebens. Ich wuchte meinen Einkauf zu den anderen Büchern auf dem Küchentisch. Noch einmal nehme jedes einzelne in die Hand und würdige es durch eine kurze innere Andacht. Ich schätze Autor und Inhalt wert, streiche über die Cover, halte den Schnitt gegen das Licht, blättere sie schnell nacheinander durch und atme den Duft des Papiers mit großer Freude ein. Mein Blick fällt dabei auf die Uhr. Morgen um die gleiche Zeit muss ich wirklich bei Volker und Konsorten sein. Schluss mit schweiß-feuchten Träumen, wie es wohl in der Therapie ist, dann wird es harte Realität. Meine Mutter hatte mich vor ein paar Tagen unter Androhung schlimmster Repressalien in Dr. Volker Eichelbergers Sprechstunde geschleppt und während die beiden über mich wie über eine nicht anwesende Person sprachen, betrachtete ich das jämmerliche Bücherregal des Herrn Therapeuten in seinem kargen Büro. Im Grunde nur Fachveröffentlichungen und anderer Scheiß, den kein Mensch lesen kann oder will. Volkers Gesamterscheinung war – wie soll ich das sagen – therapiebedürftig? Abgekaute Fingernägel, fahles Hautbild, früh ergrautes Haar, zumindest die wenigen, die schütter auf seinem Haupt lagen. Unsteter Blick eines Getriebenen, dann und wann abgelöst durch die falsche Weisheit eines Möchtegernerleuchteten, der sich gern mit Metaphern, Aphorismen und Zitaten schmückt, aber im Grunde nichts zu sagen hat. Meine Mutter schilderte ihm auf seine Nachfrage hin mein »Krankheitsbild«. Ich habe über dreitausend Bücher, von denen ich nur einen Bruchteil gelesen hätte, und doch würde ich immer neue dazu kaufen, ohne diese je zu lesen. Und nein, es sei keine Kaufsucht, schließlich bezog sich mein Konsum ausschließlich auf Bücher und sie hätte ja nichts dagegen, dass ich Bücher las, ganz im Gegenteil. Ich atmete tief ein und aus und hoffte auf Beruhigung und Erlösung. Das Lesen der Bücher ist mein einziges Betäubungsmittel gegen den Schmerz der Wirklichkeit und ich werde leicht reizbar und großes Unbehagen überfällt mich, wenn kein Buch in der Nähe ist. Doch meine Mutter fixierte sich in ihrem Wahn nicht auf das, was mir Bücher und deren Lesegenuss geben. Aus ihrer – allumfassenden und vor allem richtigen – Sicht lag eine Büchersucht vor und die müsse nach ihrem Dafürhalten durch niemand Geringeren als den Therapeuten Dr. Volker Eichelberger geheilt werden. Dieser Termin sollte der Anfang vom Ende der Sucht sein. Damit schloss sie ihren Vortrag, der inhaltlich von meinem Standpunkt aus völliger Käse und mir vor allem peinlich war. Volker sah in einer Erhabenheit und Arroganz auf mich, was ein bis dahin unbekanntes Gefühl in mir auslöste. Erhöhter Puls, Erregung und Wut, alles schön und gut. Aber es gab ein Sahnehäubchen, ein Extra-Schirmchen dazu, das ich in der Bar meiner Gefühle nicht bestellt hatte. Fühlte sich so Hass an? Sucht diese neue Emotion schon bald ein Ventil, das weder mir gefallen wird noch Mutter und dem Therapeuten? »Nun, mein lieber Bruno, wann willst du denn all diese Bücher lesen?«, fragte Volker. Zwei Augenpaare ruhten auf mir wie unerbittliche Suchscheinwerfer eines Ermittlerduos, dem gleich durch Geständnis, Beichte oder göttliche Eingebung die Lösung eines komplizierten Falles präsentiert wurde. »Darum geht es nicht«, antwortete ich lässig. »Schließlich lese ich ausreichend viele Bücher. Mehr als der Durchschnitt zuwege bringt.« »Aber es kommen per Saldo mehr hinzu, als du im gleichen Zeitraum liest«, warf Volker mit dem Tonfall eines Erziehungsberechtigten ein, der einen Pubertierenden beim Onanieren erwischt. Diese Therapeuten waren am Ende also auch nur armselige Buchhalter. Saldo hier, Differenz dort, Hauptsache Gewinn, und ein bisschen Pfui und ein Fall für Freudsche Schweinereien war mein Verhalten natürlich auch. »Na und? Ich bin eben mit meinem Zeitplan voraus für den Fall, dass es einmal keine Bücher mehr zu kaufen gibt. Andere Menschen horten Trinkwasser und Konservendosen.« Volker notierte sich etwas, schaute verkniffen zu meiner Mutter und dann zu mir. »Wie sieht denn deine Vorstellung der Zukunft aus, lieber Bodo? Soll das genauso wie bisher weitergehen?« Ich zuckte mit den Schultern. »Fühlst du dich wohl?« »Ja natürlich fühle ich mich wohl und am Ende ist unser Leben doch immer ein Tauschgeschäft. Du gibst deine Jugend und bekommst das Alter. Du gibst die Unwissenheit und Neugier und bekommst dafür aus unzähligen Büchern Wissen und Geschichten. Gegen irgendwas tauschst du das Alte immer. Und da habe ich beim Lesen nicht schlecht getauscht.« Volkers Stift tanzte wieder über seinen Block und er verzog dabei das Gesicht und biss sich auf die Zunge. Wirklich kein schöner Anblick. »Ein wunderbarer Mensch!«, entfuhr es meiner Mutter, als wir die Sprechstunde mit dem Termin für die Selbsthilfegruppe verließen. »Er wird dir helfen, da bin ich mir ganz sicher.« Ich schwieg und sie sah mich tadelnd an. »Bodo? Würdest du vielleicht auch mal etwas dazu sagen? Schließlich sind wir gerade wegen dir hier! Wegen deiner Krank...« »Ich bin nicht krank, Mama«, unterbrach ich sie resolut. »Aber auf dem besten Weg dorthin, mindestens. Wie viele Bücher hast du zu Hause?« Ich verdrehte die Augen. Unbewusst, einfach ideomotorisch. »Hast du gerade die Augen verleiert, mein Sohn?« Wenn Mama »mein Sohn« sagt, ist Ungemach im Anzug. Dann muss ich schnell schlichten und die Sache diplomatisch ausräumen, sonst führt sie unsere Mutter-Kind-Beziehung mit kriegerischen Mitteln weiter und diesen Kampf verliere ich auf jeden Fall. »Ich mag den Dr. Eichelberger, also Volker«, log ich möglichst souverän. So, wie Politiker sagen, dass sie gegen das Nachbarland nichts haben, dass sie nie eine Mauer bauen wollen oder keine sexuelle Beziehung mit der Praktikantin haben. »Mit ihm bekomme ich das bestimmt in den Griff. Danke, Mama.« Dazu nahm ich sie seitlich in den Arm und drückte sie beim Laufen an mich. Sie sah zu mir und ich war mir nicht sicher, ob sie das Manöver durchschaute oder nicht. »Das hoffe ich«, sagte sie und ich begriff, dass sie innerlich längst aufgegeben hatte. Vor der Haustür verabschiedete ich Mutter und ich konnte ungestört meinen an diesem Tag längst überfälligen Verrichtungen und Passionen nachgehen. Das tue ich auch heute wieder. Ich lasse die neuen Bücher ungelesen, allerdings mit einem Hauch Wehmut in der Küche liegen, verlasse die Wohnung und gehe die Treppen wieder nach unten. Ich folge meiner auf den Büchern aufbauenden Leidenschaft. Im Grunde ist es eine einfache Idee, aber sie hat so viel Schlagkraft und umwälzende Wirkungen, dass ich damit eines Tages berühmt sein werde. Dann werde ich in der »Höhle der Löwen« meine Erfindung präsentieren. Sie werden mir unglaublich gute Deals anbieten, denn mein Unternehmen ist mehr als Gold wert. Es ist der Olymp des Wissens, die kürzeste Strecke zwischen kompletter Unwissenheit und Erleuchtung. Wenn ich eins mit den Büchern werde, kann ich sie in mich aufnehmen, sie assimilieren, ihren Inhalt zu einem Teil von mir werden lassen und die beste Version meiner selbst sein. Im Kellerraum ist es stickig und modrig. Die von mir veränderte Dämmung des Raums hat dem Mikroklima nicht gutgetan. Ich habe Sorge, dass sich Feuchtigkeit und Schimmel bis in wichtige Maschinenteile meines Heiligtums vorarbeiten. Aber wenn alles so läuft, wie ich denke, werde ich mir vom Ertrag meiner Erfindung so viele Maschinen kaufen können, dass es auf den Preis der ersten nicht mehr ankommt. Vor mir auf einer alten Werkbank liegt das Buch »Unsichtbar« von Paul Auster. Ein ganz normales Hardcover mit Schutzumschlag, 316 Seiten dick und mit einem Lesebändchen. Es könnte das ideale Durchschnittsbuch für meinen Durchbruch als Erfinder sein. Noch bin ich unschlüssig, welches Werk ich für die Nullserie verwende. Ich schwanke jeden Tag aufs Neue zwischen Trivialliteratur, Fachbüchern oder einem Genre, zu dem ich normalerweise nicht greifen würde. Dann wäre ich neu beschenkt mit etwas, das ich nie erleben würde. Es ist schwierig, aber ein Roman von Auster ist zumindest vom Anspruch her ein grundsolider Start. Zu Beginn meiner technischen Entwicklung hatte ich aus diversen Bauteilen eine Mühle gebaut. In der letzten Zerkleinerungsstufe hätte ich mit ihr sogar Kaffee mahlen können, aber das tat ich natürlich nicht. Die Maschine stand in den ersten Wochen im Wohnzimmer und meiner Mutter konnte ich glaubhaft versichern, dass ich an einer innovativen Geschäftsidee im Nahrungsmittelbereich arbeitete, die mich unabhängig, frei und reich machen würde. Da kein Bezug zu Büchern erkennbar war, witterte sie nichts und sie fragte auch nie wieder nach. Ich tüftelte so lange, bis ich aus einem kompletten Buch kleinste Partikel gewann. Und das auf der niedrigsten Stufe, die ein Shredder leisten konnte. Unmöglich, das Ergebnis wieder zu einem lesbaren Ganzen zusammenzusetzen. Doch ich schaffte es nicht zu einem konsumierbaren Pulver. Das gelang mir erst mit dem Kauf der Papier-Pulverisier-Maschine, die ich bei Alibaba in China bestellt hatte. Es bedurfte neben dem reinen Kaufpreis noch anderer – und nicht gerade geringer – Kosten wie Zollgebühren und Fracht, bis das gute Stück aus Fernost seinen Dienst bei mir antrat. Im Keller brauchte ich darüber hinaus einen Starkstromanschluss, genügend Platz und eine ausreichende Dämmung, damit die anderen Mieter nichts mitbekamen, wenn das Gerät aus einem Buch wunderbares Pulver herstellte. Aber das Ergebnis hat es in sich, auch wenn mein eigener »innerer Volker« weiß, dass ich mit einem Pulver aus Papier – dem weißen Gold – nicht besser bin als jeder normale Abhängige mit einer Nadel oder einer Flasche.

Erscheinungsdatum
Verlagsort Leipzig
Sprache deutsch
Maße 125 x 195 mm
Gewicht 264 g
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga Humor / Satire
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bücher, buchsüchtig, Bibliomanie • Buchhandel, Buchhandlung, Bestseller • Lesen, Blogger, Humor • SUB, Zeit, Sinn
ISBN-10 3-941935-53-4 / 3941935534
ISBN-13 978-3-941935-53-2 / 9783941935532
Zustand Neuware
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