Bonfire Night - Katie Kento

Bonfire Night

Raben über Whitechapel

(Autor)

Buch | Softcover
362 Seiten
2023 | 1. Erstauflage
Nova MD (Verlag)
978-3-98595-554-1 (ISBN)
16,50 inkl. MwSt
Bei einer Recherche im Schularchiv findet Sasha eine Skizze von sich selbst - seltsam genug, doch das Dokument ist über einhundertsiebzig Jahre alt! Bald stößt sie auf eine Verbindung zwischen sich und der Urheberin. Und auf eine Gefahr, vor der sie gewarnt werden muss.Am selben Ort, doch lange Zeit zuvor, schlägt sich die scharfsinnige Annie 1851 im Armenviertel Londons durch. Als falsche Hellseherin täuscht sie ihre Kundschaft, bis sie tatsächlich eine Vision hat und an der Seite eines unerfahrenen Constables in die Ermittlungen um eine Mordserie hineingezogen wird.Getrennt durch viele Jahrzehnte, scheinen die Leben von Sasha und Annie nichts miteinander zu tun zu haben. Doch als sich ihre Schicksale kreuzen, setzt die Begegnung etwas Düsteres in Gang. Uralte Rätsel, die sich um entführte Mädchen, ein gestohlenes Pendel und die Geschehnisse der Bonfire Night ranken, werfen ihre Schatten auf die Welt. Heute wie damals.

Katie Kento, 1993 in NRW geboren, schreibt seit ihrem neunten Lebensjahr fantasievolle Geschichten für junge Leser*innen. Nach ihrem Bachelor in Kulturwissenschaften mit den Schwerpunkten Literatur und Medien hat sie ihren Master in Integrated Media abgeschlossen und arbeitet nun freiberuflich als Autorin.

Annies Augen waren an den Schleier gewöhnt. Durch den Stoff vor ihrem Gesicht sah sie zu, wie der Londoner Nebel gelblich wabernd durch die Luke kroch. Er war heute besonders schwer und glitt an der mit Tüchern behangenen Wand herunter, um sich in der Kammer der Wahrsagerin Madame Gwendolyn mit dem Dunst von nebenan zu vermischen. Der Qualm, der durch den Türspalt aus Odettes Opiumkeller hierher strömte, war klebrig und süß. Er ließ Annies Schläfen pochen und ihren Magen flau werden, verursachte einen tauben Geschmack auf ihrer Zunge. Sie hasste das Zeug. Der Nebel von draußen hingegen triefte vor den Ausdünstungen Whitechapels – er stank nach Fäkalien und Fäulnis, trug den Verwesungsgeruch des Fleischmarktes und die beißenden Dämpfe der Gerbereien mit sich. Doch er klärte ihren Kopf und weckte die vom Drogendunst getrübten Sinne. Annie beobachtete schlammverkrustete Stiefel, die eilig am Fenster über ihr vorbei stapften. Kaum jemand verbrachte mehr Zeit als nötig in der Dorset Street, der schlimmsten Straße Londons, wie man sagte. Erst recht nicht kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Ein tonloses Seufzen entwich ihr. Es würde wohl niemand mehr kommen. Zeit heimzugehen. Sie hob den Schleier ein Stück an und beugte sich über die Kerze, die vor ihr auf dem Tischlein flackerte. Heute war ein jämmerlicher Tag gewesen. Insgesamt hatte sie kaum mehr als einen Sixpence verdient und davon musste sie das meiste an Odette abtreten. Die Schreckschraube erhöhte beinahe täglich die Zinsen auf Annies Schulden. Es klopfte. Sie hielt den Atem an und schaute hoch zum Ausstieg, der auf die Straße führte. Kundschaft? Ein weiteres Pochen. Es war harsch und ungeduldig. Annie wusste nun, mit wem sie es zu tun hatte. Sie ließ ihren Schleier sinken und die Kerze weiterbrennen, erhob sich mit einem theatralischen Stöhnen und humpelte – um sich auf ihre Rolle einzustimmen – unter Ächzen und kratzigem Gemurmel die Stufen zur Tür hoch. Diese hatte sie, wie es jede vernünftige Person getan hätte, mit mehreren Riegeln verrammelt. Nachdem sie einen prüfenden Blick durch das Guckloch geworfen hatte, brauchte es eine Weile, bis die Scharniere gequält jaulten und die Tür zur Straße hin aufschwang. „Madame Gwendolyn. So beeilen Sie sich doch“, hörte sie eine vertraute Stimme brummen. Die Worte klangen rau und herb, nach kaltem Zigarrenrauch. „Hier draußen stinkt es wie in einer Senkgrube.“ Ein Grinsen umspielte Annies Mundwinkel, als sie den wohlgekleideten Gentleman im Schlamm der Dorset Street stehen sah. „Bursche“, krächzte sie. „Stell dich nicht an wie einer, der mit ’nem Silberlöffel im Maul geboren wurde.“ Es verschaffte ihr eine diebische Freude, auf diese Weise mit Inspector Turner zu reden. Annie war die einzige Person in ganz London, die sich das erlauben konnte. „Darf ich reinkommen?“, raunte er. „Die Leute starren mich an.“ „Was kreuzt du hier auch in Frack und Zylinder auf, gekleidet wie’n feiner Pinkel! Haste vergessen, wo du herkommst?“ Es war allgemein bekannt, dass Theodore Turner sich aus ärmlichsten Verhältnissen in den Polizeidienst hochgekämpft hatte. Annie brachte ihm dafür eine gehörige Portion Respekt entgegen, doch er selbst wurde nicht gern daran erinnert. Ein Glanz der Bitterkeit huschte über seine Augen, als er sich an ihr vorbeischob und die Treppe herunter humpelte. Der polierte Gehstock verursachte ein dumpfes Geräusch auf dem Lehmboden. Das Bein schien ihm heute zu schaffen zu machen. „Hab dich früher erwartet“, behauptete Annie, die in Wahrheit überhaupt nicht mehr mit einem Besuch des Inspectors gerechnet hatte, und verriegelte die Tür. Er war offensichtlich verspätet und in Eile. Ein Mann wie er plante einen Ausflug in die Dorset Street nicht zu so später Stunde. „Ich bin aufgehalten worden. Hatte keine Zeit mehr, mich umzuziehen“, bestätigte Turner. Annie hievte sich die Treppe herunter und achtete darauf, nicht über ihr Gewand aus bunten Stoffstücken zu stolpern. „Na, immerhin biste nicht in Uniform hier. Wie beim ersten Mal.“ Damals hatte der Inspector ihr das Geschäft für mehrere Wochen verdorben. Die Menschen in Whitechapel waren nachtragend, und sie hielten sich fern von denen, die mit den Peelern sprachen. „Madame Gwendolyn“, begann Turner, noch bevor Annie mit geduckter Haltung wieder auf ihrem Schemel Platz genommen hatte. „Es geht um die Vermisstenfälle.“ „Welche?“, lachte sie gallig auf. „Die Stadt verschlingt täglich Dutzende von Menschen, Bursche. Und sie spuckt die meisten nicht mehr aus. Heute waren die Eltern eines Mädchens bei mir, das hier ganz in der Nähe –“ „Sie wissen, von welchen Fällen ich spreche.“ „Natürlich.“ Annie verdrehte hinter ihrem Schleier die Augen. Wegen einer verschwundenen Näherin hatte Turner den Weg sicherlich nicht auf sich genommen. „Letzte Woche sind wieder drei verschollen. Ein Arzt, ein Advokat und ein Journalist. Immer Herren.“ „Herren mit Geld.“ Sie verkniff sich einen Kommentar über die Prioritäten von Scotland Yard und dachte stattdessen an die Belohnung, die es zweifelsohne geben würde. Annie hatte darauf spekuliert, dass Turner sich in diesem Fall früher oder später an sie wenden würde. Nun wollte sie sich nicht darüber beklagen. „Das kostet, Bursche. Eine Krone.“ Turner gab ein trockenes Lachen von sich. „Zwei Shilling.“ „Eine Krone“, beharrte sie. „Eine halbe Krone“, schlug er vor. „Eine Krone.“ Ein aberwitziger Preis, das war ihr klar. Doch Annie gab sich für einen Moment dem Tagtraum hin, die Summe durchzusetzen. Das Geld würde beinahe genügen, um Odette auszubezahlen! Turner schüttelte den Kopf. „Drei Shilling.“ „Drei Shilling und ’n Tanner!“ Der Inspector rang sich ein Nicken ab. Annie entzündete ein Räucherstäbchen an der Kerze. Dann hob sie die behandschuhten Hände und zeichnete mit dem würzigen Rauch Muster in die Luft. Ihre Bewegungen waren fließend, routiniert. In grauen Runen, die nichts bedeuteten, hingen die Schwaden zwischen ihr und Turner, bevor sie sich auflösten und die Sicht in der Kammer eintrübten. Summend und murmelnd schunkelte sie vor und zurück, als erwartete sie eine Eingebung des Himmels. Dabei trat ein seliger Ausdruck auf das Gesicht hinter dem Schleier. Annies Alltag kannte nicht viele Freuden, doch diese Darbietungen waren der Teil ihres Geschäftes, der ihr das meiste Vergnügen bereitete. Unvermittelt zuckte sie und stieß ein Röcheln des Entsetzens aus. „Ich höre sie.“ Madame Gwendolyns Stimme nahm einen noch tieferen, noch borstigeren Tonfall an. Annie schüttelte sich unter dem Gewand, so als würde sie von angstvollem Schaudern ergriffen. „Ihre Gebeine klimpern. Es ist das Lied des Todes!“ Sie musste sich nicht bemühen, um ihre Hand mit dem Räucherstäbchen zittern zu lassen. War sie erst einmal in die Rolle der Wahrsagerin eingetaucht, glaubte sie fast selbst an das Schauspiel. Eine morbide Aufregung ließ Annies Glieder erbeben. Ihre Augen verdrehten sich von ganz allein und die Lider begannen zu flattern. „Dort! Das Himmelszelt … färbt sich … scharlachrot“, presste sie hervor, wie unter großer Anstrengung. Mittlerweile hatte sich jeder Muskel in ihrem Körper verkrampft und Hitze stieg ihr ins Gesicht. „Die Klinge der Verdammnis … zerschneidet ihre Lebensfäden.“ Annie schnappte nach Luft und ließ das Räucherstäbchen fallen. „Ein Feuerrost … ein Höllenschlund … ein pulsierendes Herz. Es ist im Herzen der Stadt geschehen!“ Sie sackte ein Stück in sich zusammen und gab vor, nach Atem zu ringen. Bei dieser Gelegenheit wagte sie es, Turners Mimik auszuspähen. Der Inspector blinzelte, dann fixierte er sie mit seinem wässrig blauen Blick. Die Augenbrauen wanderten ein Stück nach oben, sodass sich Falten in seine Stirn gruben. Er strich sich über den Kinnbart, der wie sein Schnauzer und das Haupthaar einen dunklen Silberton besaß. Noch immer schwer atmend wandte Annie das Gesicht ab, um es in ehrfurchtsvoller Manier emporzurichten. „Ihr unheilvollen Seelen“, sprach sie heiser. „Berichtet mir, was euch zugestoßen ist. Wo hat euch das Schicksal ereilt? Gebt mir ein Zeichen.“ Einige Atemzüge lang sagte sie nichts und genoss die erwartungsvolle Spannung, die in der Stille lag. „Gebt mir ein Zeichen!“, wiederholte sie. Ein lüsterner Aufschrei drang durch die Dielen über ihrem Kopf. Annie verzog den Mund. Im oberen Stockwerk knarzte ein Bett und gedämpftes Stöhnen erklang. Sie räusperte sich und richtete den Blick wieder auf Turner, der betreten zur Seite schaute. Es war beileibe nicht einfach, die zeremonielle Stimmung zu wahren, wenn man Séancen im Keller von Odettes L’hostellerie abhielt, einem Gasthaus, das sich nur wenig von den umliegenden Bordellen unterschied. Die Opium-Höhle nebenan war Annies geringstes Problem. Um die Atmosphäre zu retten, verfiel sie in einen brummenden Singsang aus wahllos aneinandergereihten Silben. „Tuh-Ma-Ke-Loh-Wi-Zu-Bah …“ Sie zog ein Stück Kohle aus ihrer Rocktasche und schrappte damit im Rhythmus des Gesangs über das Tischlein. Kreuz und quer wanden sich die Striche auf dem Holz, überschnitten und verzweigten sich und bildeten zusehends ein Netz aus Straßen. „Die Vermissten wurden zuletzt in der City of London gesehen.“ Sie wischte mit der linken Hand über den entsprechenden Stadtbezirk, während die rechte noch immer zeichnete. Annie schickte sich an, weitere Details zu nennen, die sie aus der Zeitung erfahren hatte. Anders als ihr Alter Ego Madame Gwendolyn konnte sie hervorragend lesen. Zumindest für Whitechapel-Verhältnisse. Doch der Inspector winkte ab. „Ich weiß, ich weiß. Haben Sie keine neuen Erkenntnisse für mich, Madame? Haben wir es mit Verschleppung zu tun? Mit Raubüberfällen? Mord?“ „Mord.“ Sie legte das Kohlestück beiseite und blickte den Inspector eindringlich an, auch wenn er das nicht sehen konnte. Annie hatte früh gelernt, dass sich die Lösung der meisten Rätsel in der Schnittmenge verschiedener Perspektiven verbarg. Je mehr Menschen man befragte und je vielfältiger ihre Blickwinkel waren, desto schneller stieß man auf die Wahrheit. Turner war ein jovialer Mann. Er verstand es, mit reichen Schnöseln wie mit armen Schluckern zu reden, denn er kam ja selbst aus der Gosse. Doch Polizist blieb Polizist. Annie hingegen schlüpfte in die unterschiedlichsten Rollen, wenn sie nur passende Kostüme dafür auftrieb. Und jeder sprach nun einmal mit irgendwem. Sie hatte alle Zeitungsberichte zu den Fällen gelesen, hatte das Straßennetzwerk der City of London studiert und war die Routen abgelaufen, auf denen man die Unglückseligen zuletzt gesehen hatte. Die Straßenverkäufer dort waren geschwätzig und hatten Annie von schnellen Schritten und Blicken auf die Taschenuhr berichtet, als seien die Männer zu einer Verabredung geeilt. Die Dienstmädchen der Verschwundenen hatten ebenfalls schniefend mit ihr geredet und das Pflichtbewusstsein sowie die gepflegte Erscheinung ihrer Herren gelobt. Kurz darauf hatte Annie einen jungen Kanaljäger in die Mangel genommen, als er ihr den Manschettenknopf eines der Vermissten zum Kauf angeboten hatte. Dadurch wiederum war sie auf dem Schwarzmarkt auf die Schuhe, Uhren und sogar die Goldzähne der Männer gestoßen. Dank beiläufiger Fragen hatte sie die unterirdischen Fundorte der Habseligkeiten bald ermittelt und den Tatort unter Berücksichtigung der Gezeiten und Regenfälle immer weiter eingegrenzt. „Die Geister der Verstorbenen rufen … aus der Fleet Street“, zischte sie und verschmierte mit dem Zeigefinger den Kohlestrich, der von der City of London zur City of Westminster verlief. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob Turner ihr den Hokuspokus überhaupt abkaufte. Er wirkte wie ein rationaler Mann, dennoch suchte er Madame Gwendolyns Rat immer wieder und stellte die Quellen ihrer Erkenntnisse niemals in Frage. Steckte doch ein Funke Aberglaube in dem Inspector oder lag es an seinem Pragmatismus? „Wo in der Fleet Street?“ Seine Augen wurden schmal und er beugte sich zu ihr nach vorn. Annie lehnte sich etwas zurück, damit er dem Schleier nicht zu nahekam. Seine Reaktion zeigte ihr, dass er auf einer ähnlichen Spur war. „Ich habe die Nachtwache dort längst verstärkt, aber denen ist nichts aufgefallen.“ Das bezweifelte sie. Sicher hatten die Wächter sehr wohl etwas bemerkt. Sie hatten es nur nicht mit dem Fall in Verbindung gebracht. Es war eine zerlumpte Bettlerin gewesen, die Annie mit einer Beschwerde über den nächtlichen Gestank in der Fleet Street letztendlich zur Lösung des Falles verholfen hatte. Bei all den Dämpfen, die von den Gerbereien, den Fleisch- und Fischmärkten, den Leimsiedereien und nicht zuletzt den Kloaken und Abwasserkanälen durch London zogen, war es der gehobenen Klasse, die ohnehin gerne durch parfümierte Tücher atmete, nicht aufgefallen. Aber das Straßengesindel kannte die Ausdünstungen der Stadt und ein neuer Gestank wurde bemerkt. „Sie sind tagsüber verschwunden. Auf kleinen Spaziergängen und in den Mittagspausen.“ Annie hätte den Inspector gerne noch weiter auf die Folter gespannt, doch das bläulich-trübe Licht oben auf der Straße wurde mit jeder Minute finsterer. Sie beendete die Séance, indem sie wieder in Madame Gwendolyns Gossenjargon verfiel. „Kennste den Bartschneider Todd, Bursche?“ „Den über der Bäckerei?“ Sie nickte. Es schien ihr kein Zufall zu sein, dass das Pastetengeschäft in der Fleet Street florierte, seit der Barbier darüber seinen Salon eröffnet hatte. Doch den Rest des blutigen Geheimnisses würde Turner selbst lösen müssen. „Sweeney Todd? Nun gut, ich werde diesem Hinweis nachgehen.“ „Und das Geld?“ Obwohl sie es besser wusste, streckte sie ihm ihre Hand hin. Turner musterte den besudelten Stoff des Handschuhs. „Madame Gwendolyn, das Geld bekommen Sie, sobald der Täter hinter Gittern ist. Wie immer.“ Annie schnaubte. „Na meinetwegen, Bursche. Aber jetzt, wo ich dir die ganze Arbeit abgenommen hab, kannste dich doch um die verschwundene Mary Jane aus der Berners Street kümmern, nich?“ Sie fühlte sich verpflichtet, ihn erneut auf diesen Fall hinzuweisen. Turner hob eine Augenbraue. „Wenn die Eltern des Mädchens schon bei Ihnen waren, ist die Sache dann nicht in den besten Händen?“ Annie ignorierte den Stich der Schuld, den sein Kommentar durch ihre Brust jagte. Sie hatte die verzweifelten Eheleute fortgeschickt. Zwar, ohne ihnen Geld abzuknüpfen, aber auch ohne jede Hilfe. „Nicht alle Rätsel lassen sich durch Wahrsagerei lösen, Bursche. Manche Probleme erfordern simple, solide Polizeiarbeit.“ Die Berners Street war zu nah, Mary Jane genau in ihrem Alter. Annie konnte es sich nicht erlauben, in einer solchen Angelegenheit zu ermitteln. Turner hob die Schultern. „Sicher hat sie London verlassen. Irgendwo anders ihr Glück gesucht.“ Er rümpfte die Nase. „Keine junge Frau will in so einem Drecksloch leben.“ Was Sie nicht sagen, Herr Inspector, dachte Annie. „Das haste bei der letzten Vermissten schon geglaubt. Und das Mädchen davor ist aus dem Hospital verschwunden. Kannste mir erklären, wie –“ „WIR SIND VERDAMMT!“, grölte eine gurgelnde Stimme. „DAS ENDE NAHT!“ Turner war mit einem Satz aufgesprungen und hatte unter seinen Frack gegriffen, wo er zweifelsohne eine Pistole verbarg. „Ist nur der rotzende Sam.“ Annie deutete auf die verkrusteten Schuhe, die vor der Luke auf- und abtorkelten. „HÖRT MICH AN! WIR SIND DEM TODE GEWEIHT! DIE REITER –“ „Schnauze!“, keifte jemand in der Etage über ihnen. „Scher dich weg, nutzloser Säufer!“ Der rotzende Sam fuhr nun in gedämpfterem Ton fort, vor sich hinzubrabbeln: „Der Rabe kreist über unseren Köpfen. Die Sonne sinkt gen Horizont. Das Ende der Menschheit wird die Welt ereilen, wenn …“ Annie stieg auf eine Holzkiste, um an die Luke zu kommen, und knallte den Fensterladen zu. Wenn hier jemand hellseherisches Geschwätz von sich gab, dann war sie das. Beim Herunterklettern fiel ihr wieder ein, dass sie eine Greisin war, und sie stöhnte und ächzte so überzeugend, dass Turner sie stützte. „Wenn es so leicht wäre, von hier fortzukommen, Bursche, dann wären wir alle längst weg. Verstehste? Das Drecksloch ist tief, da steigt ein Mädchen nicht einfach raus.“ Annie sprach aus eigener Erfahrung. Ihr war klar, dass Turner dieser Umstand durchaus bekannt war. Er wollte schlichtweg keinen Staub im Elendsviertel aufwirbeln. „Wie wäre es mit einem Handel, Madame? Sie verraten mir, wer nachts die Blumengestecke von den Gräbern der Kensal Green Cemetery stiehlt. Dafür setze ich einen erfahrenen Constable auf die Vermisstenfälle in Whitechapel an.“ Annie biss sich auf die Unterlippe. Junge Frauen wurden aus dem Hospital verschleppt und die Peeler sorgten sich um verschwundenen Grabschmuck? Vielleicht hatte Turner doch vergessen, wo er herkam. Oder er hatte es verdrängt. Mit einem leidvollen Ächzen bückte sie sich nach dem Räucherstäbchen, das zu Boden gefallen war. Sie entzündete es von Neuem an der Kerze, um weitere Runen in die Luft zu malen. Dieses Mal waren ihre Gesten abgehackter, die Muster aus Rauch weniger kunstvoll. Draußen krochen bereits die Schatten der Nacht über die Straße, und sie musste zusehen, dass sie nach Hause kam. Annie fuhr mit den Fingerspitzen durch die trübe Luft, als könnte sie die Antwort auf Turners Frage darin ertasten. Sie summte eine Melodie, die aus einer eingängigen und traurigen Tonfolge bestand. Dann gab sie ein kleines, kratziges Lachen von sich und beugte sich über die Kerze. „Ist es wahr?“, fragte sie die Flamme und bildete mit den Händen einen Hohlraum hinter dem brennenden Docht. „Ahhh … Ich kann sie sehen. Die Lady Maria Callcott.“ Mit einem belustigten Raunen richtete sie sich an Turner und erklärte: „Sie steigt des Nachts aus ihrem Grab.“ „So? Die Blumen werden also von dem Geist einer toten Botanikerin gestohlen.“ Der Inspector klang unbeeindruckt. In solchen Momenten war Annie fast sicher, dass er nicht an das Übernatürliche glaubte. Doch womöglich hatte der Mann auch nur ein ausgeprägtes Gespür für Wahrheit und Lüge. „Gewiss, Bursche. Du solltest dich beeilen und sie verhaften“, spöttelte sie. Natürlich hätte Annie ihm die wahre Täterin nennen können. Fast jeder in Whitechapel kannte sie. Es handelte sich um eine Alte, die von allen nur Missus Bloom genannt wurde. Ihre Haut war ledrig und von Falten und Pockennarben entstellt. Sie besaß nur noch einen einzigen Zahn, verstand es aber, mit den Augen zu lächeln. Missus Bloom schlich nachts über die Friedhöfe Londons und ließ die teuersten und hübschesten Gestecke unter ihrem Lumpenmantel verschwinden. Bis in die Morgenstunden zerlegte sie die Kränze in ihre Einzelteile und band liebliche Sträuße daraus, die sie den Tag über in den gehobeneren Vierteln an promenierende Damen verkaufte. Die Frau tat niemandem etwas zuleide. Sie arbeitete hart für die paar Pence, die sie verdiente, und Annie sah keinen Grund, Missus Bloom ans Messer zu liefern. Turner musste seinen Teil der Abmachung so oder so erfüllen, denn er hatte eine Antwort erhalten, die schwerlich zu widerlegen war. Der Inspector seufzte ergeben. „Ich schicke jemanden ins London Hospital, um Befragungen zu unternehmen.“ „Recht so, Bursche. Und vergiss nicht, die arme alte Madame Gwendolyn zu bezahlen, sobald du Lady Callcotts Geist in den Dungeon geworfen hast.“ Turner lachte leise. „Wenn Sie Geld verdienen wollen, Madame, habe ich einen lohnenderen Fall für Sie. Der dürfte Ihren speziellen Fähigkeiten durchaus entgegenkommen.“ Annie, die sich schon halb zur Verabschiedung erhoben hatte, horchte auf. „Der Antiquar Abraham Stern suchte mich eben in meinen Privaträumen auf. Er war völlig außer sich und redete unentwegt auf mich ein. Ihm sei ein unbezahlbares Familienerbstück gestohlen worden. Ein babylonisches Pendel, wie er sagt.“ „Hat er eine Belohnung ausgesetzt?“ Annie wusste, dass das Geld dort, wo der ideelle Wert mit dem materiellen wetteiferte, ausgesprochen locker saß. „Fünf Kronen für jeden Hinweis, der zum Fund des Pendels führt.“ Sie musste sich an der Tischkante festkrallen, um nicht hinten über zu kippen. „Potz Blitz“, entfuhr es ihr. Ein Vermögen! Mit dem Geld konnte sie Odette dreimal abspeisen und sich obendrein die Verschwiegenheit der Schrulle erkaufen. Sie konnte das Armenhaus verlassen und sich ein Zimmer in einer besseren Gegend Londons suchen. Es würde endlich etwas zu Essen geben, das nicht halb verdorben war. Und sie würde sicher eine anständige Anstellung finden, sobald sie den Gestank Whitechapels von ihrem Körper geschrubbt und sich in ordentliche Kleider gehüllt hatte. Diese fünf Kronen würden ihr Leben verändern. Mehr brauchte sie nicht, um sich aus dem Schlamm dieser Jauchegrube zu erheben. Vor Aufregung waren Annies Handflächen feucht und ihr Mund staubtrocken geworden. Sie wollte nachhaken und fragen, was Stern erzählt und ob er etwas beobachtet hatte. Doch sie war immer noch Madame Gwendolyn, eine gesetzte Frau, die darauf vertraute, dass die Informationen zu ihr kamen. Annie pustete sich eine schwitzige Strähne aus dem Gesicht und wartete, dass Turner endlich weitererzählte. „Bekommen Sie genügend Luft hinter dem Stoff?“ Sie gab einen verächtlichen Laut von sich und winkte ab. Turners neugierigem Blick wich sie aus. „Wissen Sie, manchmal frage ich mich, ob es überhaupt jemanden gibt, der Ihr Gesicht kennt. Ist es nicht einsam, sein Dasein verhüllt vor der Welt zu fristen?“ „Red keinen Stuss, Bursche.“ Weil ihr die fortgeschrittene Uhrzeit wieder in den Sinn kam, meinte Annie: „Abraham Stern hat also mit dir geredet …“ „Jawohl. Er hat allerdings nichts gesagt, was in meinen Ohren sonderlich logisch klang. In der vergangenen Nacht hat ihn ein Geräusch geweckt und er ist von seiner Schlafkammer hinten im Laden in den Verkaufsraum getreten. Dort hat er angeblich einen Echsenmenschen dabei erwischt, wie er das besagte Pendel stahl.“ „’Nen Echsenmenschen?“ „Ja, ein Monster. Es bewegte sich wie ein Mensch, trug aber den Kopf einer Echse. Es hat ihn niedergeschlagen. Als man Stern am nächsten Morgen bewusstlos fand, brachte man ihn in ein Spital. Er war nachhaltig verwirrt, konnte sich an nichts erinnern. Erst als er am Abend mit verbundenem Kopf zurück nach Hause kam, fiel ihm der Vorfall wieder ein und er rannte auf direktem Wege zu mir. Ich wohne unweit des Antiquariats.“ „Verflucht noch eins, dass ich das erlebe … Die Peeler jagen ein Echsenmonster.“ Turner brummte. Annie wusste, dass er nicht gerne als Peeler bezeichnet wurde. Er hatte einige Jahre unter Sir Robert Peel höchstpersönlich gearbeitet und sich Gerüchten zufolge nie gut mit dem Gründer von Scotland Yard verstanden. „Für das Monster sind Sie zuständig, Madame. Befragen Sie die Geister – oder welche Mächte auch immer – zu dieser Kreatur. Ich suche derweil nach einem Dieb in Verkleidung. Wenn Sie mich fragen, haben der Schlag auf den Kopf und die Schmerzmittel Sterns Verstand benebelt.“ Der Inspector erhob sich und tippte an seinen Zylinder. „Mal sehen, wer von uns beiden das Rätsel zuerst löst.“ Annie grinste. Diese Herausforderung nahm sie selbstredend an. Turner nickte und erklomm humpelnden Schrittes die Treppe. „Es ist spät geworden“, sagte er, als er die Tür zur dunklen Straße hin öffnete. Musik und dreckiges Gelächter hallten durch das Viertel. Die Zeit der Dirnen und Trinker war längst angebrochen. Kalte feuchte Herbstluft fiel an Turners Beinen vorbei die Stufen herunter und ließ die Kerze flackern. „Ich geleite Sie nach Hause“, bot der Inspector an. „Eine wehrlose Alte sollte zu dieser Zeit nicht allein durch Whitechapel laufen.“ „Dummes Gewäsch!“, widersprach Annie knapp. Sie nahm niemals etwas an, für das sie nicht bezahlte. Die Bekanntschaft mit Odette hatte sie gelehrt, nie wieder in jemandes Schuld zu treten. „Aber wenn man Sie überfällt –“ „Dann wüsste ich das wohl. Ich bin Wahrsagerin, Bursche.“

Annies Augen waren an den Schleier gewöhnt. Durch den Stoff vor ihrem Gesicht sah sie zu, wie der Londoner Nebel gelblich wabernd durch die Luke kroch. Er war heute besonders schwer und glitt an der mit Tüchern behangenen Wand herunter, um sich in der Kammer der Wahrsagerin Madame Gwendolyn mit dem Dunst von nebenan zu vermischen.Der Qualm, der durch den Türspalt aus Odettes Opiumkeller hierher strömte, war klebrig und süß. Er ließ Annies Schläfen pochen und ihren Magen flau werden, verursachte einen tauben Geschmack auf ihrer Zunge. Sie hasste das Zeug.Der Nebel von draußen hingegen triefte vor den Ausdünstungen Whitechapels - er stank nach Fäkalien und Fäulnis, trug den Verwesungsgeruch des Fleischmarktes und die beißenden Dämpfe der Gerbereien mit sich. Doch er klärte ihren Kopf und weckte die vom Drogendunst getrübten Sinne. Annie beobachtete schlammverkrustete Stiefel, die eilig am Fenster über ihr vorbei stapften. Kaum jemand verbrachte mehr Zeit als nötig in der Dorset Street, der schlimmsten Straße Londons, wie man sagte. Erst recht nicht kurz vor Einbruch der Dunkelheit.Ein tonloses Seufzen entwich ihr. Es würde wohl niemand mehr kommen. Zeit heimzugehen. Sie hob den Schleier ein Stück an und beugte sich über die Kerze, die vor ihr auf dem Tischlein flackerte.Heute war ein jämmerlicher Tag gewesen. Insgesamt hatte sie kaum mehr als einen Sixpence verdient und davon musste sie das meiste an Odette abtreten. Die Schreckschraube erhöhte beinahe täglich die Zinsen auf Annies Schulden.Es klopfte.Sie hielt den Atem an und schaute hoch zum Ausstieg, der auf die Straße führte. Kundschaft?Ein weiteres Pochen. Es war harsch und ungeduldig.Annie wusste nun, mit wem sie es zu tun hatte.Sie ließ ihren Schleier sinken und die Kerze weiterbrennen, erhob sich mit einem theatralischen Stöhnen und humpelte - um sich auf ihre Rolle einzustimmen - unter Ächzen und kratzigem Gemurmel die Stufen zur Tür hoch. Diese hatte sie, wie es jede vernünftige Person getan hätte, mit mehreren Riegeln verrammelt.Nachdem sie einen prüfenden Blick durch das Guckloch geworfen hatte, brauchte es eine Weile, bis die Scharniere gequält jaulten und die Tür zur Straße hin aufschwang."Madame Gwendolyn. So beeilen Sie sich doch", hörte sie eine vertraute Stimme brummen. Die Worte klangen rau und herb, nach kaltem Zigarrenrauch. "Hier draußen stinkt es wie in einer Senkgrube."Ein Grinsen umspielte Annies Mundwinkel, als sie den wohlgekleideten Gentleman im Schlamm der Dorset Street stehen sah. "Bursche", krächzte sie. "Stell dich nicht an wie einer, der mit 'nem Silberlöffel im Maul geboren wurde."Es verschaffte ihr eine diebische Freude, auf diese Weise mit Inspector Turner zu reden. Annie war die einzige Person in ganz London, die sich das erlauben konnte."Darf ich reinkommen?", raunte er. "Die Leute starren mich an.""Was kreuzt du hier auch in Frack und Zylinder auf, gekleidet wie'n feiner Pinkel! Haste vergessen, wo du herkommst?"Es war allgemein bekannt, dass Theodore Turner sich aus ärmlichsten Verhältnissen in den Polizeidienst hochgekämpft hatte. Annie brachte ihm dafür eine gehörige Portion Respekt entgegen, doch er selbst wurde nicht gern daran erinnert. Ein Glanz der Bitterkeit huschte über seine Augen, als er sich an ihr vorbeischob und die Treppe herunter humpelte.Der polierte Gehstock verursachte ein dumpfes Geräusch auf dem Lehmboden. Das Bein schien ihm heute zu schaffen zu machen."Hab dich früher erwartet", behauptete Annie, die in Wahrheit überhaupt nicht mehr mit einem Besuch des Inspectors gerechnet hatte, und verriegelte die Tür.Er war offensichtlich verspätet und in Eile. Ein Mann wie er plante einen Ausflug in die Dorset Street nicht zu so später Stunde."Ich bin aufgehalten worden. Hatte keine Zeit mehr, mich umzuziehen", bestätigte Turner.Annie hievte sich die Treppe herunter und achtete darauf, nicht über ihr Gewand aus bunten Stoffstücken zu stolpern. "Na, immerhin biste nicht in Uniform hier. Wie beim ersten Mal."

Erscheinungsdatum
Verlagsort Deutschland
Sprache deutsch
Maße 148 x 210 mm
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Kinder- / Jugendbuch Jugendbücher ab 12 Jahre
Schlagworte 1851 • 19. Jahrhundert • Apokalypse • Apokalyptische Reiter • Armenviertel • Artefakt • Constable • Detektivin • Eis • Elementmagie • Ermittlung • Erscheinung • fantastisch • Fantasy • Feuer • Flamme • Friedhof • Frost • Fuchsjäger • Gabe • Gegenwart • Geheimbündnis • Glut • historisch • Humor • Inspektor • Kombinationsgabe • Kriminalfall • Liebe • London • Mädchen • Magie • magische Verbindung • Mord • Mordserie • Nebel • Pendel • Prophezeiung • Raben • Recherche • Reinkarnation • Reiter • Romantik • romantische Spannung • rotes Haar • Rothaarig • Sasha • Schicksal • Schlange • Schulalltag • Schülerin • Schulwettbewerb • Sekte • Spannung • Symbolik • Urban Fantasy • Verbrechen • Vergangenheit • Verkleidung • Verschwörung • Vision • Wahrsagerin • Weltuntergang • Whitechapel • Wiedergeburt • Wolf • Zeitreise • Zeitung
ISBN-10 3-98595-554-9 / 3985955549
ISBN-13 978-3-98595-554-1 / 9783985955541
Zustand Neuware
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