Lichtermeer -  Lars van Keuk

Lichtermeer (eBook)

Kurzgeschichten und Gedichte
eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
444 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-3272-8 (ISBN)
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»Und während du dich ausruhst, tritt das Leben vor dich und erzählt dir eine Geschichte. Sie ist unterhaltsam und voller Bilder. Und während du über die Geschichte nachdenkst, geht das Leben weiter und lässt dich zurück mit deinen Gedanken und deiner Fantasie« Lyrik in Zeiten von TikTok und Spotify

Lars van Keuk, geboren 1970, wohnhaft in Düsseldorf.

VERWIRRTE WELT

Die Geschichte von Adis

Und plötzlich stand Adis in einer veränderten Welt. Die Welt, die ihn umgab war jetzt eckig, kalt und grau. Kahl und unberechenbar. Als sei ein Blitz in sie eingeschlagen, als habe dieser zerrissene und grelle Pfeil aus dem Himmel alles für immer verändert. Die Mauern waren jetzt schief und die Farbe blätterte von den Wänden wie alter Lack, alles brach in Stücke und sackte herab wie ein klebriger und zäher Wasserfall. Und jetzt stand die brüchige und blasse Welt vor Adis. Zerstört und zusammengehalten von Klebstoff, der die Risse nicht ertragen konnte.

Dabei hatte der Morgen so schön begonnen. Alles lief rund und glatt, Adis hatte sich auf den Tag gefreut. Und dann änderte sich alles schlagartig, plötzlich stand Adis in dieser grauen und fremden Welt. Hinter jeder Ecke begann ein Irrgarten, ein Labyrinth, in dem sich jeder Weg verlor. Ständig traf Adis auf eine Weggabelung. Links oder rechts und beiden Richtungen war nicht zu trauen. Sie wirkten verlässlich und führten doch in den Abgrund. Sie versicherten Adis, sicher zu sein, sie seien fester Boden und dann betrat er ihn und spürte den schwingenden Grund, das grobmaschige Netz, auf dem er stand.

Heute sagt Adis, dass in diesem Moment die Reise begonnen habe. Die Reise in einsame Leere. Heute weiß er, dass sie nicht so lange gedauert hat, dass sie irgendwann zu Ende ging aber damals war sie ewig. Eine Reise durch viele Tage und sie begann, als Adis spürte, dass sich unter seinen Füßen Gummi befand, tauende Erde, Boden, wie dünner Stoff, der sich dehnte und langsam riss.

Und die eckige Welt schwankte hin und her, sie verlor ihre graue Form und sackte in sich zusammen wie ein schmelzender Berg. Ein Strom aus flüssigem Stein, der Adis mitriss und fortgetragen hat. Adis trieb in grauen und staubigen Wellen und sie nahmen ihn mit zu einem offenen Meer. Und dort ließen die Wellen ihn zurück und das Meer zeigte, wie unendlich es ist. Über ihm der Himmel und unter ihm die dunkle Tiefe. Und der Himmel drohte und die Tiefe zog und nichts war mehr eckig oder weich. Nichts war dort außer grauem Wasser, überall war Wasser und seine Farbe war grau. Als schwämme Adis in flüssigem Asphalt und der Asphalt reichte bis zum Horizont. Das bleierne Meer bewegte sich auf und ab, als sei es gefroren, als hebe und senke sich seine gesamte Oberfläche. Als würde das Meer atmen.

Adis schwamm orientierungslos durch diese Welt aus Wasser, die in seiner Erinnerung irgendwann einmal eine bunte Stadt gewesen war. Lebensfroh und voller Farben. Er fragte sich, wie lange das her gewesen ist, dass er durch Straßen ging und sich dabei wohl gefühlt hat, leicht und sorgenfrei.

Adis schwamm durch ein Meer, durch seine Wellen aus flüssigem grauen Stein, die in einer weit entfernten Zeit sein Zuhause waren und fühlte sich verlassen und allein. Er wollte um Hilfe rufen. Er sehnte sie herbei wie ausgedörrter Boden, der nur noch an Regen denkt. Aber er ließ es bleiben, denn wie sollte diese Hilfe aussehen, wenn der ganze Planet aus grauem Wasser besteht.

Heute sagt Adis, er habe damals gedacht, sein Leben schubse und stoße ihn hin und her, als spiele es ein böses Spiel mit ihm.Wie eine außer Kontrolle geratene Macht, die ihn unter Wasser zieht oder die ihn aus dem Meer hinauskatapultiert, durch den Himmel in das Universum. Oder beides zur selben Zeit. Gewaltige Kräfte hätten an ihm gezerrt. Sie zogen in gegensätzliche Richtungen und er empfand dabei ein nie gekanntes Gefühl. Heute nennt er es Trauer oder Verlust.

Und er erinnert sich, wie allein er war, wie verloren und hilflos. Wie er nach Hilfe rufen wollte und er sich dann vorgestellt habe, ein Wal tauche neben ihm auf. Ein gewaltiger Körper mit Kiemen und Flossen erhebt sich aus dem Wasser wie eine Insel, eine Insel, die atmet, die warm ist und die lebt. Die im Sonnenlicht schimmert und glänzt und der Wal schießt seine Fontäne aus Wasser in den Himmel. Wie ein Geschoss, wie eine Drohung an die Mächte über und unter ihm, die sagt, sie sollen Adis in Ruhe lassen.

›Lasst die Finger von ihm.‹

Und in diesem Augenblick hätte der Himmel und das Meer friedlich gewirkt. Hoffnung sei aufgetaucht aber sofort wieder ertrunken. Wie ein letzter Atemzug oder ein letzter Blick durch müde Augen. Und der Wal tauchte wieder ab und mit ihm die Aussicht auf Hilfe.

Aber Hilfe kam. Sie schwamm auf Adis zu und blieb an seiner Seite. Sie war nicht zu sehen aber er spürte sie und er vernahm ihre Stimme. Die Stimme hielt ihn über Wasser und er musste sich nicht mehr gegen die Tiefe wehren, sich nicht mehr gegen sie stemmen wie im Zweikampf. Die Stimme sprach, dass er allein aber nicht verloren sei. Dass ihn Einsamkeit und Trauer umgäben. Aber sie würden enden, irgendwann. An einem Tag, der kommen werde, ein Tag, der sich schon auf den Weg gemacht habe zu ihm. Und der ihn finden wird. Und die Stimme fuhr fort, dass er in einem Meer aus Trauer unter einem Himmel aus Blei schwimme. Er könnte im Meer der Tränen versinken oder erdrückt werden von Wolken, die herabsinken wie erstickender, schwerer Schnee. Kalt und schwer. Es sei möglich, aber das glaube die Stimme nicht.

Denn Schnee sei weiß und schön. Er schwebe vom Himmel herab wie gute Wünsche aus Kristall. Der Schnee sinkt leise zu Boden, legt sich langsam ab und bildet Hügel, Hügel aus weißer Hoffnung. Eine reine und geschwungene Landschaft, harmonisch und sanft. Aus der Luft sieht sie aus wie ein leuchtendes Meer, ein Meer, das weiß ist und ruhig, als schlafe es langsam ein.

Die Stimme beschrieb das Meer, in dem Adis stundenlang verloren im Wasser trieb. Vielleicht waren es auch Tage oder Wochen. Aber Zeit dehne und strecke sich und dieses Meer sei freundlich, ein stiller und sicherer Ort.

Ein Ort, der mächtig und frei sei. Er habe eine unerschöpfliche Kraft, er bleibe immer in Bewegung, er sei dynamisch und stark. Er verändere sich ständig und er passe sich an alles an.

Und irgendwann fragte Adis sich, von wem die Stimme sprach. Von ihm oder dem stillen Ort, durch den er schwamm. Und er hörte weiter zu, aufmerksam und konzentriert, denn die Stimme wurde leiser, als entfernte sie sich. Als ginge sie über das Wasser fort von ihm. Und seine Augen folgten ihr über weiße Wellen, die aussahen wie Schnee und irgendwann verstummte die Stimme, sie ließ ihn zurück und er merkte, er brauchte sie nicht mehr.

Und auch sie spürte es, auch sie nahm es wahr. Und dann flog sie leise davon, erhob sich über das Wasser und irgendwann sah sie sich um, zurück zu ihm. Als traue sie dem Meer und dem Himmel nicht, als wolle sie sich überzeugen, dass beide friedlich blieben. Dass sie Adis freigeben und dass die Botschaft verstanden worden ist.

Und die Botschaft blieb, sie war eindeutig und klar.

Und plötzlich ging Adis über Schnee. Er tauchte auf aus einem einsamen Meer und kehrte zurück in eine verschneite Welt. Schnee knirschte unter seinen Schuhen und der Schnee lag auf Asphalt. Auf den Straßen seiner Heimatstadt.

Er wunderte sich, in welchem Teil der Stadt er war und dass er den Schneefall nicht bemerkt hatte. Als sich die Stadt und ihre Wände in Falten legten und zu Ecken wurden, stand die Sonne vor ihm, sie stand da wie ein Freund, der ihn voller Freude am späten Morgen erwartete. Und nun folgte Adis seinem eigenen Schatten. Er ging ihm nach, hinein in die Abendstunden und er meinte, die Straßen seien enger geworden. Und die Farben wirkten kraftlos und einige Farbtöne schienen zu fehlen. Aber immerhin war die Welt wieder bunt.

Auch der Boden schien sich verändert zu haben, als ginge er nicht über Asphalt sondern auf einem welligen Pfad aus buckligen Steinen. Alles war irgendwie anders. Als seien die Stadt und ihre Straßen alt und runzelig geworden.

Aber warum sollte die Welt sich nicht verändert haben, warum sollte das Leben so weitergehen wie zuvor, als sei nichts geschehen, als sei sein Bruder nicht heute gestorben, als hätte Adis nicht heute Morgen diesen Anruf erhalten, den Anruf und die furchtbare Wahrheit.

Es gab den Anruf und seitdem gab es seinen Bruder nicht mehr, er war nicht mehr Teil dieser Welt und vielleicht spürte auch die Stadt diesen Verlust. Vielleicht verlor sie deswegen ihre Farben, oder der Boden seine Stabilität. Vielleicht wurden auch die Mauern erschüttert von der Nachricht, vielleicht schlug sie ein wie eine Kanonenkugel und seitdem wackelte alles, jeder Stein bebte und stellte sich auf oder woanders hin. Vielleicht war deswegen jede Wand und Mauer krumm und schief. Oder alles näher zusammengerückt. Alles bewegte sich aufeinander zu und stand dann stumm zusammen. Still und taub.

Vielleicht hat sich auch die Sonne schneller über den Himmel bewegt, vielleicht ist sie durch die Wolken getaumelt, durch die Wolken gestolpert und durch sie hindurch gefallen. Vielleicht fiel kein Schnee sondern Wolken, die in kleine Stücke gerissen wurden. Von einer Sonne, die traurig durch die Gegend ging, die fiel und dann weiterzog auf ihrer sinnlosen Runde. Verloren und allein.

Diese Gedanken kamen und gingen während Adis über den Schnee nach Hause ging. Sie schwirrten um ihn herum wie verirrte Vögel und nur einer blieb. Einer flatterte immer über...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Lyrik / Gedichte
ISBN-10 3-7578-3272-8 / 3757832728
ISBN-13 978-3-7578-3272-8 / 9783757832728
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