MERKUR 2/2023 (eBook)
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12169-8 (ISBN)
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.
Beiträge
DOI 10.21706/mr-77-2-5
Kai Sina
Von der Republik als innerer Tatsache
Nachruf auf Hans Magnus Enzensberger
Hans Magnus Enzensberger, der notorische Trickster und Renegat unter den Intellektuellen, der verspielte Ironiker und nie wirklich greifbare Metamorph – es ist diese oft erzählte Legende, die noch seinen Tod überdauern wird. In vielen Nachrufen, die in den deutschsprachigen Medien, aber auch in vielen internationalen Blättern erschienen sind, wird der wendige und schnelle Positionswechsel als hervorstechendes Charakteristikum seiner Autorschaft beschrieben. Die Bezugsgrößen Enzensbergers, deren Erwähnung ebenfalls nur selten versäumt wird, fügen sich mehr oder weniger bruchlos in dieses Bild. Es sind Denis Diderot und Heinrich Heine, die Aufklärer und Ironiker, die als historische Gewährsleute die gedanklichen Kapriolen des Fliegenden Robert – so Enzensbergers dem Struwwelpeter entnommenes Totem und lyrisches Selbstbild – in der europäischen Tradition verankern sollen.
Und es ist ja auch naheliegend. Wie sonst ließe sich ein derart vielstimmiges und formenreiches Werk, das ja gerade kein Werk im klassischen, also geschlossenen und einheitlichen Sinn mehr sein will, auf zumindest einen, wenn auch vergleichsweise schwachen Nenner bringen? Aus dieser Sicht erscheint es unmittelbar einleuchtend, das Prozesshafte und Diskontinuierliche im programmatischen Sinn zu deuten. Außerdem war es Enzensberger selbst, der an dieser Legende mitgestrickt hat, indem er – etwa mit dem Prosaband Diderots Schatten von 1994 oder mit der 1997 erschienenen Aufsatzsammlung Zickzack – die entsprechenden Referenzen und Schlagworte ins Spiel gebracht hatte.
Trotzdem ist diese Würdigung nicht ganz ohne Tücken. Zum einen erweckt die Betonung des Federnden, Leichtfüßigen, geradezu Schwebenden einen allzu relativistischen Eindruck. Der agonale Zug, die Schärfe und Intensität, auch die Provokationslust, die Enzensbergers essayistische Interventionen, aber auch viele seiner Gedichte auszeichnen, zumal in den ersten beiden Jahrzehnten seines Schaffens, geraten dadurch in den Hintergrund. Zum anderen – und wahrscheinlich noch folgenreicher – geht die Akzentuierung des Spielerischen oft damit einher, die Frage nach Zusammenhängen und Entwicklungen gar nicht mehr zu stellen. Die schiere Bewunderung der enzensbergerischen Flugkünste tritt an die Stelle einer differenzierten Würdigung seiner Autorschaft im ideen- und literaturhistorischen Kontext.
Dabei gibt es durchaus eine Grundbewegung, die seinem Lebenswerk eine gewisse elastische Kohärenz verleiht. Es ist ein zwar ungerader, aber doch klar nachvollziehbarer Weg, der allerdings weniger einem Spielverlauf folgt, als dass er einem Lernprozess entspricht. Er führt – in freier Anlehnung an Odo Marquard, der in den achtziger Jahren neben Niklas Luhmann zu einem wichtigen Impulsgeber Enzensbergers wurde – vom »großen Neinsagen« zum »kleinen Jasagen«, und das heißt von der entschlossenen Ablehnung der gesellschaftlichen Zustände hin zur unemphatischen Bejahung der offenen Gesellschaft und der westlichen Moderne.
Wer verstehen will, inwieweit gerade dieses charakteristische Zusammenspiel von Lernen und Liberalisierung Enzensberger zum eigentlichen repräsentativen Autor der Bundesrepublik macht, was sich ausgerechnet darin zum Ausdruck bringt, dass er im Gegensatz zu anderen Schriftstellern auf jeden staatstragenden Habitus gelassen zu verzichten wusste – wer dies verstehen will, muss sich sein literarisches und intellektuelles Leben zumindest in den wichtigsten Stationen noch einmal vergegenwärtigen.
Draußensein und mittendrin
Von ausdrücklichem Parteiergreifen, von unzweideutigem Engagement sind Enzensbergers frühe Gedichte nicht gekennzeichnet. Dass ihm die Zustände der Nachkriegsgesellschaft in hohem Maße verdächtig sind, daran lassen seine oft in expressionistischer Tradition stehenden Verse (»ich habe ein herz aus koks || naß von wasser und blut«) allerdings nirgendwo einen Zweifel: »makers of history!«, so etwa macht er sich über die Vertreter der Vorgängergeneration in seinem ersten Lyrikband verteidigung der wölfe von 1957 lustig, »geschminkte keiler, kastraten || mit herzklaps, affensaft || in der welken milz, eine hutzel || zwischen den beinen. […] steigt aus! ohne fallschirm! || sterbt! kein weib weint || hinter euch eine träne«. Anlass zu derlei Tiraden bieten die gesellschaftlichen Umstände mehr als genug, zugleich ist aber unübersehbar, dass sich der junge Enzensberger in der zornigen Pose gefällt – und in der lustvollen Abgrenzung seiner Bildung und worldliness von der stickigen Provinzialität seiner Zeitgenossen: Nichts könnte dem stiernackigen, übelriechenden »mann in der trambahn« mit seinem »scheitel aus fett und stroh« fremder sein als der »duft der scala« und »mein alter lucrez || mit marginalien von der hand diderots«. Das Gute, Wahre, Schöne sind nichts anderes als Perlen vor diese Sau: »vergebens zubereitet für dich, die welt«.
Mit der behaupteten Kulturlosigkeit des trambahnfahrenden, Bild-Zeitung lesenden Massenmenschen verbindet sich allerdings auch eine politische Gefahr, schließlich steht zu befürchten, dass Typen wie er schon bald wieder »das koppel || schnallen«, »zackig grüßen« und mit dem Kolben ihrer Maschinenpistole an die Türe schlagen. Der nur oberflächlich überwundene Faschismus lauert allerorten, so die sichere Annahme, und vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis er wieder hinter der dekorativen Kleinbürgerfassade hervorkriechen wird. Der Schoß ist fruchtbar noch, auch darin erweist sich Enzensberger als Schüler Brechts. Seine Gedichte, deren poetische Kraft einer immensen Negationslust entspringt, an der man als Leser noch heute seine Freude haben kann, beschreiben ziemlich präzise das, was der Ideenhistoriker Philipp Felsch und der Schriftsteller Frank Witzel vor einigen Jahren als »BRD noir« bezeichnet haben.
Die von geschichtswissenschaftlicher Seite gut erkundete Janusköpfigkeit der Nachkriegsjahre dringt derweil kaum durch die »Ritzen zwischen den Worten« (so beschreibt Enzensberger zu dieser Zeit die Beziehung zwischen dem Lyrischen und dem Politischen). In Jörg Laus Biografie, die ein ausgezeichneter Wegführer durch Enzensbergers Welt ist, wenngleich sie leider nur den Zeitraum bis in die späten neunziger Jahre abdeckt –, bei Lau wird dieser blinde Fleck unmissverständlich benannt: Während Enzensberger »Kraft aus dem zu saugen scheint, was ihn anwidert«, während er aufs immer Neue beklagt, »man lebe in einer korrumpierten, verlogenen und selbstzerstörerischen Welt«, gerät die »entschlossene Verwestlichung, die Abkehr von politischen und geistigen Sonderwegen, die Installation einer hochrespektablen Opposition als festes Element zunächst des kulturellen, dann auch des politischen Lebens«, nirgendwo in den Blick. Rundheraus bezeichnet er die Bundesrepublik in seinem zweiten Gedichtband von 1960, landessprache betitelt, als »arischen schrotthaufen«, als »nacht- und nebelland«, dessen Insignien »bockbier und blut« seien.
Einlässlicher auch gegenüber den niedrigen Erscheinungsformen der kulturellen Gegenwart erweisen sich dagegen die frühen Essays, die sich unter anderem dem Massentourismus, der Taschenbuchproduktion oder dem Versandhauskatalog widmen. Fraglos erweiterten sie das Spektrum dessen, was fortan überhaupt ins Blickfeld der kritischen Analyse geraten konnte, zumal sie darauf angelegt sind, die eingespielten Muster der Kulturkritik zu durchkreuzen. Trotzdem erweckt die Lektüre der streng an der Kritischen Theorie geschulten Texte den Eindruck, sie dienten letztlich nur der Bestätigung dessen, was im Vorhinein bereits festgestanden hat. Der Tourismus etwa, mit dem sich Enzensberger 1958 im Merkur befasst, sei »Freiheit als Massenbetrug«, den zu durchschauen die Menschen nicht daran hindere, sich ihm dennoch anzuvertrauen: »Indem wir auf die Rückfahrkarte in unserer Tasche pochen, gestehen wir ein, daß Freiheit nicht unser Ziel ist, daß wir schon vergessen haben, was sie ist.«
Die Fluchtbewegungen, die Enzensberger in diesen Jahren biografisch vollzieht, vor allem sein Rückzug auf eine Insel im Oslofjord im Jahr 1961, sind auch vor diesem Hintergrund zu lesen. Es sind Versuche, sich der »Ewigkeit der Hölle« zu entziehen, wie er beispielsweise über die verspießerten Kaffeehäuser von Düsseldorf schreibt. ...
Erscheint lt. Verlag | 1.2.2023 |
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Reihe/Serie | MERKUR |
MERKUR | MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Debatte • Essay • Geschichte • Gesellschaft • Kultur • Kunst • Politik |
ISBN-10 | 3-608-12169-2 / 3608121692 |
ISBN-13 | 978-3-608-12169-8 / 9783608121698 |
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Größe: 1,4 MB
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