Im Schatten des Vaters (eBook)
425 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-79140-6 (ISBN)
Stephan Oswald hat an verschiedenen italienischen Universitäten deutsche Sprache und Literatur gelehrt. Schwerpunkte seiner Forschung sind u. a. die Geschichte des deutschen Italienbildes und der kulturellen Beziehungen beider Länder sowie das Werk Johann Wolfgang von Goethers.
1
WAS BLIEB:
DER RÖMISCHE NACHLASS
August von Goethes Hinterlassenschaft war so bescheiden, dass sie in zwei Gepäckstücken Platz fand. Nach seinem Tod war ein genaues «Verzeichniß der von dem am 27sten October 1830, zu Rom verstorbenen Herrn Baron, August von Goethe, hinterlassenen Effecten»[1] angefertigt worden. Sie wurden später der Gräfin Julie von Egloffstein, einer Freundin aus Weimarer Jugendtagen, ausgehändigt. Die Malerin war nach längerem Studienaufenthalt in Italien auf dem Rückweg nach Deutschland und hatte sich erboten, die Habseligkeiten mitzunehmen. So kam anderthalb Jahre nach Augusts Tod sein römischer Nachlass in die Hände der Hinterbliebenen.
Da waren zunächst die üblichen Reiseutensilien: zwei Necessaires mit Schere und anderen Instrumenten, eine Tabakdose aus gelbem Holz, Rasierzeug, ein Feuerzeug, ein Geldbeutel, und sogar die Stiefelhaken waren nicht vergessen worden. Johann Wolfgang von Goethe und Augusts Witwe Ottilie wünschten nur die persönlichen Gegenstände zurückzuerhalten. Die gesamte Garderobe und Wäsche dagegen wurde – neben der silbernen Uhr – dem Maler Friedrich Preller vermacht, in dessen Armen August gestorben war, «zum Andenken und als Anerkennung seiner für den Verblichenen bewiesene schätzbare Teilnahme, zu beliebigen Gebrauch überlassen und verehrt».[2]
Dank der vollständigen Auflistung aller Kleidungsstücke können wir uns ein Bild von Augusts äußerem Erscheinungsbild machen. Für einen Reisenden war er erstaunlich gut ausgestattet, zwar kein Herr von Stand, aber doch ein typischer Vertreter des gehobenen Bürgertums. Nicht weniger als vierzehn Hemden hatte er im Gepäck, nebst zugehörigen Kragen, dazu Halstücher und Halsbinden. Außerdem vier Hosen, zwei davon schwarze «Tuchpantalons», passend zum Frack für offizielle Gelegenheiten. Ansonsten trug er Westen, einen preußischblauen Militärmantel mit rotem Kragen und einen – in der Liste nicht aufgeführten – grauen Tuchmantel mit passender Hose und Mütze, die er sich in Mailand hatte anfertigen lassen, weil die deutsche Kleidung im italienischen Sommer viel zu schwer war. Das war eine kleine Gemeinsamkeit von Vater und Sohn, denn auch Goethe hatte sich zu Beginn seiner italienischen Reise in Oberitalien landestypisch eingekleidet. Zwei Paar Stiefel, ein Paar «Stiefletten» und mehrere Hüte vervollständigten Augusts Garderobe. Nimmt man noch eine gelblederne Brieftasche, einen goldenen Siegelring und ein Petschaft aus Messing hinzu, ist klar, dass es sich um einen Mann von gewissem Wohlstand handelte, auch wenn außer einem silbernen Becher und zwei einfachen goldenen Ringen keine anderen Wertgegenstände vorhanden waren.
Des Weiteren führte der Reisende nicht nur ein, sondern gleich zwei Ferngläser mit sich. Er war ein aufmerksamer Beobachter und liebte es, sich das Entfernte näherzurücken. Neben einem einfachen Taschenfernglas hatte er auch ein Dollond im Gepäck: Das waren die besten und teuersten Fernrohre aus England, professionelle optische Geräte, deren Messingbeschläge die Solidität der Verarbeitung verrieten. Natürlich konnte August sich ein solches Stück nicht leisten. Goethe hatte ihm sein eigenes für die Reise geliehen.
Die Selbstverständlichkeit, mit der er sich unterwegs in den gehobenen gesellschaftlichen Kreisen bewegte, bezeugen fünfzig Visitenkarten, auf denen er sich übrigens nicht als Geheimer Kammerrat, sondern als Sächsischer Kammerherr präsentierte und sich damit über seinen höfisch-aristokratischen Rang definierte, eine Skala, die in ganz Europa Geltung hatte. Zur Sicherheit hatte er sogar die kupferne Druckmatrix mitgenommen, um bei Bedarf weitere Karten nachdrucken zu lassen.
Wie schon das Briefsiegel verrät, führte der Reisende eine Korrespondenz. Auch sonst hielt er seine Eindrücke in schriftlicher Form fest, wovon ein Portefeuille aus grünem Leder mit Aufzeichnungen Zeugnis gibt. Vermutlich hat er das Reiseutensil gehasst, denn es erinnerte ihn an die tägliche Pflicht, für seinen Vater ein minutiöses Reisetagebuch zu führen und darin alles festzuhalten, was er unterwegs sah und erlebte. Nach seinem überraschenden Tod befanden sich in der Mappe Augusts letzte Tagebuchaufzeichnungen, die er nicht mehr hatte abschicken können, daneben an ihn gerichtete Briefe und das unterwegs entstandene Erzählfragment Das Kind Eugen. Entgegen der herrschenden Meinung hat August nämlich sehr wohl eigene literarische Versuche unternommen, von denen sich drei bislang unbekannte Fragmente erhalten haben, die hier erstmals veröffentlicht werden (s.S. 369–84).
Was sich im Einzelnen in der Mappe befand, lässt sich nicht mehr ermitteln. Sie muss früher als der übrige Nachlass nach Weimar gekommen sein. Gelegenheit dazu gab es mehrfach, denn Goethe verzeichnete wiederholt die Ankunft von Sendungen aus Italien. Am 7. Oktober 1831 notierte er im Tagebuch: «Die Briefschaften des grünen Portefeuilles besichtet und einen Theil verbrannt.» So ist nur das auf uns gekommen, was der väterlichen Kontrolle nicht zum Opfer fiel.
Die wenigen Bücher, die August mit sich führte, lassen ihn als gebildeten Zeitgenossen erkennen: zunächst ein Nouveau Dictionnaire de Poche, um sich in der damaligen europäischen Verkehrssprache Französisch ausdrücken zu können. Er sprach es so schlecht, dass er sich über sein gebrochenes «Kosaken-Französisch» selbst lustig machte. Zur Erlernung der italienischen Sprache, bei der er gleichfalls nur geringe Erfolge erzielte, diente ein Schul- und Reisetaschenbuch der italianischen und deutschen Sprache.
Der obligate Italienführer war Ferdinand Neigebaurs Handbuch für Reisende in Italien, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts den legendären «Volkmann» abgelöst hatte, den Goethe seinerzeit im Gepäck hatte. Die auffälligste Neuigkeit bestand im Aufbau des Buches, das jede Ähnlichkeit mit einer Reisebeschreibung aufgegeben hatte und die italienischen Städte und Ortschaften nicht nach historischen oder geographischen Kriterien, sondern mechanisch nach dem Alphabet auflistete wie ein Katalog; sozusagen Italien à la carte. In solcher freien Verfügbarkeit über das Land und seine Sehenswürdigkeiten kündigt sich der künftige Massentourismus an.
Zu Augusts Reiseunterlagen gehörte außerdem eine Italienkarte des bekannten Kartographen Rizzi Zannoni – vermutlich handelte es sich um das Exemplar, in das Goethe seinem Sohn die Reiseroute eingezeichnet hatte. Daneben ein Stadtplan von Rom, die verkleinerte Version der berühmten Nuova topografia di Roma von Giovanni Battista Nolli, an der auch Piranesi als Stecher mitgewirkt hatte. Es war ein Faltplan, der zur leichteren Handhabung in zwanzig Segmenten auf Leinen aufgezogen war. Dadurch konnte er in ein sehr kleines Format zusammengelegt und in einen Schuber gesteckt werden, so dass er in jede Tasche passte und sich leicht bei Besichtigungstouren durch Rom mitführen ließ.
Da weder Fotografien noch Ansichtskarten existierten und die Sehenswürdigkeiten Roms nur in Stichen oder ersten Lithographien reproduziert zur Verfügung standen, hatte sich August ein Bändchen von Veduten und Ansichten angeschafft, die Nuova Raccolta delle più interessanti Vedute di Roma e sue vicinanze. Diese Sammlung von etwa fünfzig kleinen Kupferstichtafeln (7 × 11 cm) im Querformat erschien ab 1810 in verschiedenen Ausgaben, mit und ohne erläuternden Text und mit wechselnder Auswahl von Tafeln, und war das typische Reise-Mitbringsel. Wegen der kleinformatigen Darstellungen und der hohen Auflagenzahlen muss sie durchaus erschwinglich gewesen sein; auch heute noch ist der Band auf dem antiquarischen Markt zu einem niedrigen Preis zu finden.
Wesentlich aufwendiger dagegen war der letzte Titel in Augusts Gepäck, Catalogo dei Monumenti Egiziani che formano la raccolta di Demetrio Papandriopulo. Dabei handelte es sich um einen 1828 erschienenen Verkaufskatalog von altägyptischen Antiquitäten, die auf vierzehn Platten im größten Royal-Folio-Format abgebildet waren. Dieses Werk war wohl zur Ergänzung und Vervollständigung der väterlichen Antikensammlung gedacht.
Neben diesen bei einem damaligen Italienreisenden üblichen und weitgehend anonymen Reiseutensilien gibt es eine Reihe weiterer Gegenstände, die deutlich persönlichere Züge tragen. In dem besagten «Verzeichniß» werden zunächst ein Korkenzieher und ein Taschenmesser mit Korkenzieher genannt. Sie erscheinen selbstverständlich auf einer Reise, doch in diesem Falle handelte es sich um unverzichtbare Utensilien. August litt am Ende seines Lebens an schwerer Alkoholabhängigkeit, die Korkenzieher stellten für ihn...
Erscheint lt. Verlag | 26.1.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
ISBN-10 | 3-406-79140-9 / 3406791409 |
ISBN-13 | 978-3-406-79140-6 / 9783406791406 |
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