Kremulator (eBook)

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2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61337-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kremulator -  Sasha Filipenko
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Pjotr Nesterenko ist mit dem Tod auf vertrautem Fuß. Als Direktor des Moskauer Krematoriums in der Stalin-Zeit hat er sie alle eingeäschert: die Abweichler, die angeblichen Spione und die einstigen Revolutionshelden, die den Säuberungen zum Opfer fallen. Er jedoch, davon ist er überzeugt, kann gar nicht sterben. So oft ist er dem Tod schon knapp entronnen. Bis der Tag seiner eigenen Verhaftung kommt. Wird er auch diesmal den Hals aus der Schlinge ziehen?

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman ?Die Jagd? war ein ?Spiegel?-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz.


Hausdurchsuchung und Verhaftung erfolgen am 23. Juni 1941. Alles zusammen dauert sechs Stunden. Ein Routinevorgang, und doch ist die Atmosphäre angespannt – tags zuvor hat Deutschland der Sowjetunion den Krieg erklärt. Während die Brester Festung dem ungeheuerlichen Druck der Faschisten standhält, wird die Hauptstadt der Sowjetunion von einer Welle unauf‌fälliger Beschlagnahmungen überrollt. In Wohnungen und Parks, in Instituten und Volkskommissariaten werden potenzielle Spione gefasst. Trotz des Ausmaßes der Aktion ist die Zahl der Verhaftungen gar nicht so hoch – gerade mal 1077 Personen sind es, in denen die wachsamen sowjetischen Behörden Verräter und Trotzkisten, bakteriologische Saboteure und »Sonstige« erkennen (für die Festnahme genügt auch diese Kategorie). Es sind nur mehr wenige, weil die sowjetischen Beamten den Großteil ihrer Listen schon 1937 abgearbeitet haben, als sie über hunderttausend Menschen wegen des bloßen Verdachts auf pro-polnische Umtriebe zum Tod durch Erschießen verurteilten (111091 Bürger, um genau zu sein). Tatsächlich zählte der polnische Geheimdienst auf der ganzen Welt keine zweihundert Agenten, aber was soll’s, Liebste, du kennst ja den Eifer unserer Behörden, wenn es um Vernichtung geht.

»Wem du’s heute kannst besorgen, den verschone nicht bis morgen«, merkt einer der Tschekisten an, während er meine Bibliothek zerlegt. Von ihrer Grobheit dreht es meiner winzigen Wohnung den Magen um, mich führen sie auf die Straße hinaus.

Zum Zweck der Ermittlungen nehmen sie meinen Wehrpass mit, Notizbücher (sechs Stück) und allerlei Aufzeichnungen (30 Blatt). Außerdem interessieren die Genossen Koslow und Ljagin, die die Durchsuchung leiten, Adressen und Telefonnummern (auf 76 Blättern), persönliche Korrespondenz (fast 200 Seiten) und drei Bücher: über Magie, über die freikirchliche Gemeinschaft der Stundisten und über Karma-Yoga.

Am gleichen Abend bringen sie mich ins Gefängnis des Kommissariats für Staatssicherheit, wo sie mich fotografieren, meine Personalien erfassen und mir meine Sachen wegnehmen:

graue Decke – 1 Stk.

Leintücher bw – 2 Stk.

Handtuch – 2 Stk.

Kissenbezug – 2 Stk.

Taschentücher – 6 Stk.

Hemden div. – 2 Stk.

Unterhose bw – 1 Stk.

Socken div. – 2 Paar

Zahnbürste – 1 Stk.

Seife – 1 Stk.

Serviette – 1 Stk.

Das alles habe ich überstürzt eingepackt, das alles ist jetzt natürlich nutzlos.

 

Später in der Zelle fange ich nicht an zu jammern, ich weine nicht und schlage nicht mit dem Kopf gegen die Wand. »Ein Irrtum!« – oh nein, ich liege den Wächtern nicht mit solchen Dummheiten in den Ohren. Sinnlose, banale Äußerungen menschlicher Emotionen sind meine Sache nicht. Stattdessen setze ich mich auf den kalten Boden und betrachte ohne besonderes Interesse meinen Mithäftling, den Zinker, der den Auf‌trag hat, mich zu verpfeifen:

»Erschießen sie dich?«, fragt er taktlos.

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Weil sie zwar meine sechs französischen Taschentücher konfisziert haben, mir aber trotzdem ein sowjetisches Leintuch aushändigen …«

 

Der Tod ist meine erste Kindheitserinnerung, schreibe ich eines Tages, lange vor meiner Verhaftung, in eins der Tagebücher, die sie jetzt mitgenommen haben.

Jeden Tag, wenn meine Mama und ich zusammen aus dem Haus gehen, egal wohin, führt unser Weg durch den Dorf‌friedhof. Manchmal bleibt Mama bei einem bestimmten Kreuz stehen, meistens geht sie beschleunigten Schrittes daran vorbei. Eins ist gewiss: Auch wenn wir in eine ganz andere Richtung müssen, sind wir jeden Tag kurz hier – wie in einem Bannkreis.

Eines Tages, als ich schon buchstabieren kann, fällt mir auf, dass auf diesem Kreuz mein Name steht.

»Mama, ist das für mich? Legen sie mich da hinein, wenn ich groß bin?«

»Aber nein, du Dummerchen. Hier liegt einer deiner Verwandten. Du wurdest nach ihm benannt.«

Jeden Tag gehen wir an dem Grab mit meinem Namen vorbei, und ich nehme mir fest vor, niemals zu sterben …

 

»Und wisch dir bitte das Blut ab«, sagt Mama liebevoll zu mir. Wie du weißt, hatte ich als Kind schon schwache Gefäße.

 

Das erste Moskauer Verhör verläuft zügig und nicht frei von Komik. Der Ermittler gratuliert mir zum baldigen fünfundfünfzigsten Geburtstag und behauptet, vor ihm sitze ein Spion. Für welchen Geheimdienst ich arbeiten soll, verrät er nicht, dafür schnalzt er, als er, ohne den Blick zu heben, die noch mädchenhaft schlanke Aktenmappe aufschlägt, gekünstelt mit der Zunge und fügt nur hinzu, dass mir, Nesterenko Pjotr Iljitsch, Artikel 58 droht, also eine Anklage als Volksfeind.

»Und?«, frage ich gelassen.

»Ab-füh-ren!«, bellt er plötzlich.

 

Fehlstart. Nächster Versuch.

 

Im Laufe von vier Monaten wiederholt sich diese absurde Szene immer wieder. Wie einen Gymnasiasten heißt mich der Ermittler auf einem Stuhl Platz nehmen, liest mir die Leviten und stellt mir nutzlose Fragen. »Wer? Wozu? Warum?« Dann versucht er mich einzuschüchtern, weil er aber keine Zeit hat für eine richtige Folterung (solche wie mich hat er scharenweise), tut er das immer recht oberflächlich und einfallslos. Jedes Mal, wenn er sich wieder davon überzeugt hat, dass ich mich nicht selbst belasten werde, seufzt der Vernehmungsbeamte schwer und lässt mich abführen.

So was Dummes, wir stecken fest.

 

Der Ermittler ist verärgert – der Ball liegt bei mir. Das mag seltsam klingen, aber im Sommer und Herbst 1941 bin ich leicht im Vorteil. Die Zeiten sind günstig für mich. Das Jahr 1937, in das der Beamte sich zurückzusehnen scheint, ist längst vorbei. Das neue Quasirechtswesen verlangt von ihm, wenn auch nur pro forma, so doch Verhöre, erfordert Zeugenaussagen, zumindest herausgeprügelte (gern auch gelogene). Jammerschade, aber ganz grundlos kann er mich nicht erschießen lassen. Im belagerten Moskau muss der Ermittler so vorgehen wie in jeder anderen sowjetischen Angelegenheit, muss, auch wenn es komplett sinnlos ist, die Norm erfüllen. Dieser unnütze Mensch muss irgendetwas über mich zusammentragen, aber die Begleitumstände sind denkbar hinderlich. Die Deutschen stehen schon vor Moskau. Hitler schickt seinen Soldaten Gala-Uniformen, und die Moskauer lernen ihre ersten deutschen Worte – »Guten Tag!«, »Wie ist Ihr Befinden?«, »Heil Hitler!« – und kippen Porträts von Lenin und Stalin stapelweise auf den Müll. Die hastig verbrannten Dokumente färben alles schwarz, und allenthalben ist das Zerreißen von Parteibüchern zu hören. Mein armer Vernehmer hat jedes Mitleid verdient – unter so widrigen Umständen die nötigen Geständnisse aus jemandem herauszupressen ist wirklich schwierig.

 

»Was bist du denn so fröhlich, hm? Kapierst du nicht, dass wir bald abziehen und die Tschekisten uns alle erschießen werden?« Der feige Schakal, mit dem ich die Zelle teile, springt mir bald hysterisch gestikulierend entgegen, bald weicht er zurück.

»Werden sie nicht …«

»Wieso bist du dir da so sicher?«

»Weil die Deutschen nach der Eroberung Moskaus unsere Leichen zu Propagandazwecken nutzen würden – am Beginn eines Krieges darf man sich keine derartigen Fehler erlauben …«

»Bist du sicher?«

 

Ja, weil die deutschen Faschisten in Lemberg genauso vorgehen. Sie marschieren ein und stoßen auf ein Gefängnis voller Leichen, und statt den Menschen diesen grausigen Anblick zu ersparen, lassen sie die Angehörigen kommen. »Seht!«, sagen die neuen Herren der Stadt. »Das haben die Roten beim Rückzug mit euren Vätern, Brüdern und Söhnen gemacht. Überlegt euch gut, auf welcher Seite ihr jetzt kämpfen wollt …«

Das ist alles sehr nachvollziehbar. Es gibt Spielregeln, die im Frieden gelten, und im Krieg sind es andere. Man muss nur darauf achten, sich rechtzeitig umzustellen und den Mut nicht zu verlieren. Natürlich herrscht Chaos, aber manche Ereignisse sind im Grunde gar nicht so schwer vorhersehbar. Der Krieg folgt keiner Logik – das ist das Erste, was man über ihn wissen muss.

Genau deswegen kaue ich, als ich in einer Septembernacht plötzlich aus der feuchten Zelle geholt werde, nicht auf meiner Lippe herum und streiche auch meine schütteren, seit einigen Jahren immer dünneren Haare nicht zurecht. Zum Abschied denke ich weder an die Lichter des Bosporus (obwohl ich könnte) noch an dein spitzes Kinn, Liebste. Ich weiß, dass sie mich nicht zum Henker führen, und wie so oft im Leben behalte ich...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2023
Übersetzer Ruth Altenhofer
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1. Weltkrieg • 20. Jahrhundert • 2. Weltkrieg • Abenteurer • Archivmaterial • Aufarbeitung • Belarus • Belgrad • Bestattung • Diktatur • dokumentarisch • Erinnerung • Exekution • Exil • Gefängnis • GULAG • Henker • Hinrichtung • Istanbul • Kommunismus • Kommunistische Partei • Krematorium • Krieg • Leichen • Liebe • Luftwaffe • makaber • Massenmord • Memorial • Militär • Moskau • Nesterenko • Nesterenko, Pjotr • Paris • Pilot • Pjotr • Putin • Rote Kreuze • Rückkehr • Russische Literatur • Russischer Bürgerkrieg • Russische Revolution • Russischer Geheimdienst • Russland • Saratow • Schauspielerin • Schwarzer Humor • Sowjetische Geschichte • Sowjetunion • Stalin • Stalin-Terror • Tagebuch • Tod • Totalitarismus • Tscheka • Überleben • Ukraine • Ukrainekonflikt • Verhör • Verrat • Weiße Armee • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-257-61337-7 / 3257613377
ISBN-13 978-3-257-61337-7 / 9783257613377
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