Das Traumtheater (eBook)

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2023 | 1. Auflage
464 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61336-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Traumtheater -  Andrea De Carlo
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Veronica droht in einem Café an einem Stück Brioche zu ersticken. Kaum ist sie wieder zu Atem gekommen, lässt ihr Retter durchblicken, dass er eine wichtige historische Stätte entdeckt hat, gleich hier in der italienischen Stadt Cosmarate - eine willkommene Story für die Fernsehfrau. Die Sensation des antiken Theaters zieht schnell weite Kreise, ruft Politik und Wissenschaft auf den Plan. Bis der Traum vom Theater platzt und alle ihr blaues Wunder erleben.

Andrea De Carlo, geboren 1952 in Mailand, lebte nach einem Literaturstudium längere Zeit in den USA und in Australien. Er war Fotograf, Maler und Rockmusiker, bevor ihm 1981 mit seinem ersten Roman, ?Creamtrain?, der Durchbruch gelang. Acht Jahre später legte er den Roman ?Zwei von zwei? vor, der zum Kultbuch einer ganzen Generation wurde. Andrea De Carlo lebt in Mailand und in Ligurien.

Würde man Veronica Del Muciaro nach ihrer größten Angst fragen, würde sie garantiert sagen, am meisten fürchte sie sich davor, den richtigen Augenblick zu verpassen. Bis Mitte zwanzig hatte sie davon nämlich schon eine Unmenge verpasst: Millionen Momente, die ohne jede Vorwarnung plötzlich wie aus dem Nichts auf‌tauchten und dann so blitzschnell vorbeirauschten, dass sie gar nichts davon mitbekam, geschweige denn sie zu nutzen vermochte.

Aber mit fünfundzwanzig kam dann endlich der Durchbruch. Wann genau, weiß sie gar nicht mehr, sie kann sich an kein spezielles Ereignis mehr erinnern: Irgendwann hatte sie es einfach satt, dauernd fassungslos dazustehen und sich zu grämen, weil sie auf eine Bemerkung, einen Blick, eine sich bietende Gelegenheit wieder einmal nicht schnell genug reagiert hatte. Bis dahin war sie durch tausend Unsicherheiten gehemmt, durch die Erwartungen der Eltern, die Angst, verurteilt zu werden; in der Schule, um nur ein Beispiel zu nennen, stotterte sie. Heute, wo sie in ihren Livereportagen für Tutto qui! losrattert wie ein Maschinengewehr und perfekt artikuliert, kann sich das gar keiner mehr vorstellen. Dennoch war dieses Stottern für sie lange Zeit eine Quelle unsäglicher Erniedrigung. Es reichten wenige Zuhörer, drei oder vier Mitschüler, gar nicht mal die ganze Klasse, und schon verhedderte sie sich, die Worte stockten und kamen nur ruckartig heraus. Deshalb wurde sie nicht nur von ihren Mitschülern aufgezogen, sondern auch von den Lehrerinnen, später auch von den Profs. »D-d-del Mu-mu-mu-cia-ro«, sagten sie. »Mu-mu-mu!« Superwitzig, schallendes Gelächter. Wenn so etwas heute passierte, würden die Eltern gleich zum Anwalt laufen und die Presse einschalten, der Vorfall käme in die Zeitung und ins Fernsehen. Roberta Riscatto beispielsweise würde so einen Fall sofort aufgreifen, sie zu einer Livereportage losschicken und Psychologen, Soziologen und Logopäden ins Studio einladen. Die Schulleitung müsste die Mitschüler rügen, sich von den Lehrern distanzieren und sich öffentlich entschuldigen. Aber damals, kein Gedanke; natürlich war sie auch nicht nach Hause gelaufen, um gleich alles zu erzählen, denn sie schämte sich, als wäre es ihre Schuld. Zum Glück fand sie selbst die Lösung, ohne fremde Hilfe: einfach loslegen, statt wie gelähmt zuzusehen. Die Methode war simpel: Sag einfach, was dir gerade einfällt, nicht lange überlegen, nicht erst nach den richtigen Worten suchen. Die kommen dann von ganz allein. Bloß keine Hemmungen, vergiss, was andere wohl davon halten, pfeif auf die Folgen. Stell einfach eine unbequeme Frage, ein bisschen heikel vielleicht, hau irgendeinen frechen Spruch raus, schneid eine Grimasse, äff jemanden nach, wirf die Haare zurück, ganz egal, Hauptsache Action. Und keine Einstellung länger als ein paar Sekunden: dauernd wechseln, ungeduldig sein, aufdringlich. Lauf herum, beweg dich. Und es funktionierte, wenn auch vielleicht nicht in allen Lebensbereichen; jedenfalls verpasste sie nun keinen Augenblick mehr, so viel war sicher.

Man braucht sie nur anzusehen, wie sie jetzt an diesem kalten Morgen, der so kalt gar nicht ist, schließlich haben wir den ersten Januar, das älteste Café im Zentrum von Suverso betritt, noch halb benommen von dem enttäuschenden Silvesterabend in Mailand und der nächtlichen Rückfahrt in ihrem Mini mit Vollgas. Man braucht nur ihr Spiegelbild an der Wand hinter dem Tresen anzusehen, während sie den Blick über die Auslagen schweifen lässt: Die Haare haben den richtigen Blondton, etwas dunkler am Ansatz und nach unten heller, die Ringe unter den Augen sind angesichts der Umstände minimal, der schwarze Pashmina-Schal ist weich und flauschig, die silberne Daunenjacke schön eng in der Taille, die schwarze Stretchhose umspannt formvollendet die Beine, die Stiefel mit hohen Absätzen machen zwar nicht größer, geben aber Schwung. Natürlich ist sie nicht mehr zwanzig, sieht aber immer noch gut aus, das bestätigen auch die wohlgefälligen Blicke der Männer, als sie sich über die Theke beugt, um der Bedienung mit Schürze und Häubchen die Brioche mit Creme und Puderzucker zu zeigen, die sie sich ausgesucht hat. Dann eine halbe Drehung, um beim Barista einen Cappuccino zu ordern, dabei entgehen ihr auch nicht die Blicke einiger Frauen, die sie erkannt haben, eine unterschiedlich dosierte Mischung aus Bewunderung, krankhafter Neugier, Widerwillen, Neid.

Sie holt das Handy heraus, schaltet die Selfie-Funktion ein, wählt wie immer den Filter soft focus; sie neigt leicht den Kopf, sieht das Lächeln, das bei dieser Beleuchtung fast strahlend wirkt, öffnet ihr Social-Media-Profil. Sie nimmt das Handy in die linke Hand, streckt die rechte aus, um die Brioche zu nehmen, tunkt die Spitze in den Cappuccino, setzt ein komisches Gesicht auf. »Da wären wir also, am ersten Tag des neuen Jahres!« Sie beißt ein ordentliches Stück ab, kaut aber kaum, um auf keinen Fall das Lächeln zu gefährden und womöglich wie ein Mümmelweib auszusehen. Sie hat noch einen weiteren Filter eingeschaltet, der über ihrem Kopf automatisch ein goldenes Krönchen mit dem Schriftzug 2020 einblendet. Na ja, ein bisschen kindisch vielleicht, aber inzwischen machen das alle ihre Kolleginnen und die Hälfte der männlichen Kollegen, sogar ihre Mutter. Na und, was ist denn schon dabei, wenn man sich ein bisschen aufhübscht und die Nachricht ein bisschen witziger macht? Nichts, absolut gar nichts. Aber jetzt ist ihr der unzerkaute Bissen in der Speiseröhre hängen geblieben und rutscht nicht runter, sodass sie kaum noch lächeln kann. Sie versucht ihn runterzuschlucken, aber es geht nicht, sie versucht ihn wieder hochzuholen, aber auch das klappt nicht: Schlagartig wird ihr klar, dass sie im Begriff ist zu ersticken, vor all den Leuten, wie kann man nur so blöd sein.

Erschrocken weicht sie ein paar Schritte zurück, versucht sich zu beruhigen, versucht den Brocken runterzuschlucken oder ihn wieder herauszuwürgen, in die Papierserviette, aber keine Chance, sie bekommt keine Luft mehr, fängt an zu japsen, gerät in Panik. Während ihr Kopf sich mit den Gesichtern all der Menschen füllt, über deren schreckliches Ende sie vom jeweiligen Unfall-, Unglücks- oder Tatort berichtet hat, taumelt sie in Panik durch das älteste Café von Suverso.

Das Schlimmste an der Situation, abgesehen von dem Gefühl zu ersticken und sich schon als Leiche am Boden liegen zu sehen, ist, dass die anderen Gäste reglos dasitzen mit demselben Ausdruck von Bewunderung, krankhafter Neugier, Widerwillen oder Neid wie zuvor. Vielleicht können sie die Verzweif‌lung in ihren Bewegungen und die wachsende Panik in ihren Augen nicht erkennen, vielleicht denken sie aber auch, dass eine Fernsehreporterin, die auf Skandale und Verbrechen spezialisiert ist, mehr oder weniger unsterblich sei.

Veronica lässt Brioche und Handy fallen, reißt sich den Pashmina-Schal vom Hals, torkelt mit den Händen am Hals herum, und noch immer denkt niemand daran, etwas zu unternehmen. Beispielsweise die ältere Dame mit Nerzmantel und bläulich schimmernden Haaren, oder die Fünfzigjährige im Collegelook mit Strassreif im Haar, oder der große dünne Typ mit Brille, der aussieht wie ein Spion aus den Sechzigerjahren, oder der Fettwanst, der seinen Kamelhaarmantel fast zum Platzen bringt, oder die beiden aufgetakelten Freundinnen mit identischen Kaninchenaugen, oder der junge Mann mit Stachelfrisur neben der Mutter in schwarzer Designer-Lederjacke mit Nieten. Mit ihrem beschissenen Anstandsgetue, bigott und voller Argwohn, typisch für das gutbürgerliche Suverso, sitzen alle nur da und glotzen, als würde hier ein Theaterstück aufgeführt, nur für sie. Auch der Barista und die Frau hinter der Theke scheinen eher neugierig als besorgt, während sie verzweifelt nach Luft schnappt, ihr Herz rast und das Blut gefriert, ihr die Tränen in die Augen steigen, angesichts dieses bevorstehenden unglaublich dämlichen und erniedrigenden Endes vor einem Dutzend Unbekannter, die glauben, sie zu kennen, weil sie ihre Berichte auf Tutto qui! gesehen haben.

Plötzlich spürt sie einen heftigen Stoß im Rücken, einen Griff um die Taille und einen Druck auf das untere Ende des Brustbeins, dabei wird sie so heftig geschüttelt, dass die Füße vom Boden abheben. Am liebsten würde sie laut protestieren, um das demütigende Schauspiel nicht noch schlimmer zu machen, aber es geht nicht, und wer immer es ist, der sie packt, schüttelt und hochhebt, macht energisch weiter, bis sie spürt, wie das festsitzende Stück Brioche wundersamerweise freikommt, durch die Kehle nach oben rutscht und aus dem Mund herausschießt. Unglaublich, aber plötzlich kann sie wieder atmen, die Lunge mit Luft füllen! Sie hustet, schluckt, bewegt sich mit einem berauschenden Gefühl der Erleichterung, das durch den ganzen Körper fließt und in den Kopf steigt wie Alkohol. Sie dreht sich um, kann endlich ihrem Retter ins Gesicht sehen.

Der Mann hat einen eindringlichen Blick, graugesprenkelte unordentliche Locken, trägt einen herrlich weich fließenden schwarzen Mantel, einen Seidenschal in Violett und Orange, verschmutzte Reitstiefel. Eine eigentümliche Mischung aus Eleganz und Härte, Ruhe und Spannung: ziemlich verwirrend, in diesem ohnehin schon reichlich unsicheren Moment.

»Da-da-danke!« Veronica Del Muciaro merkt, wie sie sich wieder verhaspelt, aber ihr Atem geht immer noch schwer und das Herz klopft heftig, auch wenn sich beides langsam normalisiert. Sie setzt ein Lächeln auf, dreht sich zu den anderen Gästen um, auch die Koordination der Bewegung läuft nicht optimal, und zeigt ihren Retter diesen ignoranten Gaffern, die ihr gerade noch tatenlos beim...

Erscheint lt. Verlag 21.6.2023
Übersetzer Petra Kaiser
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel Il teatro dei sogni
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Cappuccino • Gegenwart • Italianità • Italien • Medien • Mediensatire • Norditalien • Politik • Politische Satire • Politsatire • Schmöker • Social Media • Theater
ISBN-10 3-257-61336-9 / 3257613369
ISBN-13 978-3-257-61336-0 / 9783257613360
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