Winteraustreiben -  Jasper Nicolaisen

Winteraustreiben (eBook)

Phantastischer Jugendroman
eBook Download: EPUB
2022 | 2. Auflage
564 Seiten
Amrûn Verlag
978-3-95869-513-9 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
2,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Je näher Weihnachten rückt, desto mehr geht in Mikas Leben schief: Ihre Eltern zicken sich an, in der Schule wird sie gedisst, und jetzt spioniert ihr auch noch ein unsichtbares Krokodil hinterher. Dann steht plötzlich Santa Claus, der Weihnachtsmann persönlich, vor der Tür, mit einer unheimlichen Plastikmaske vor dem Gesicht und einer Zigarre zwischen den Zähnen, und fällt sein Urteil: Gar nicht brav war sie! Fortan soll Mika zusammen mit Hunderten anderen Kindern in Santas Spielzeugfabrik schuften. Schon bald schmiedet sie Fluchtpläne - aber wie soll man aus einem versteckten Dschungeltal am Nordpol entkommen, das nur auf dem Luftweg per Rentierschlitten erreichbar ist? Und will sie überhaupt fliehen? Denn eigentlich könnte sie diesen ganzen schlecht organisierten Weihnachtsladen in die Tasche stecken, wenn es ihr nur gelänge, die Stelle von Santas grausamem Handlanger Knecht Ruprecht einzunehmen. Dummerweise funkt ihr dabei dauernd der blöde Nerd Sam aus ihrer Klasse dazwischen, der ebenfalls zu Weihnachten geholt worden ist ...

Jasper Nicolaisen (1979) ist Übersetzer, Autor und arbeitet mit Kindern und deren Eltern. Er mag Boxen, Spiele mit Elfen und Zwergen und Cowboylieder. Mit einem Mann und einem Kind lebt er in Berlin.

Jasper Nicolaisen (1979) ist Übersetzer, Autor und arbeitet mit Kindern und deren Eltern. Er mag Boxen, Spiele mit Elfen und Zwergen und Cowboylieder. Mit einem Mann und einem Kind lebt er in Berlin.

Kapitel 1

Als Mikas Handywecker loslegte, war es draußen noch dunkel. Das perlende Intro von Muses »New Born« schreckte sie auf, und wie jeden Morgen wusste sie einen Moment lang nicht, wo sie war. Kaum war der Klingelton am Ende der Schleife angekommen, fing er wieder von vorne an. Ich bleibe einfach noch hier im Warmen liegen, bis das Handy von selber aufhört.

Es klopfte. Ohne auf Antwort zu warten, öffnete Mikas Mutter die Tür, einen Spalt breit nur, das hielt sie wohl für diskret. »Mika, Schatz, bist du wach? Dein Wecker klingelt ja schon ewig.« Mein Wecker klingelt seit genau dreißig Sekunden, so lange dauert nämlich die Schleife. Bestimmt hatte ihre Mutter schon vor der Tür gewartet, bevor das Handy überhaupt angesprungen war. »Ist okay, Mam.« Mika richtete sich auf und drückte den Weckton aus. Sie warf die Decke beiseite, schwang die Beine aus dem Bett und war auch schon am Kleiderschrank. Wenn ihre Mutter sah, dass sie fröhlich in den Tag startete, ließ sie sie am ehesten in Ruhe.

»Na, ich will mal nicht zu viel verraten, aber ich sehe hier draußen schon Einiges.« Als sie die Tür zuzog, wehte auch schon ein Hauch vom Nikolausfrühstück ins Zimmer: Butter, Zimt, Kerzen, Kaffee und der Tannennadelduft, der sich bereits seit Ende November im ganzen Haus eingenistet hatte. Zwanzig Minuten. Wir sitzen zwanzig Minuten zusammen, und sie macht so einen Aufstand. Dass ihre Mutter die Welt auf Teufel komm raus schön finden wollte, auch wenn es gar nichts Schönes gab, machte sie rasend.

Mika öffnete den Kleiderschrank und tippte sich nachdenklich auf die Unterlippe. Ihr Outfit musste drei Bedingungen erfüllen: Flauschig-festlich, damit sich keiner beschweren konnte, dass sie das besondere Frühstück absichtlich kaputt machen wollte. Das große Young-Miss-Special für die schönste Zeit im Jahr: Jetzt wird’s kuschlig! Rollkragenpullover, türkis, Silberfäden, das passte doch. Zweite Bedingung für das Outfit: Es musste gerade so verboten aussehen, dass ihre Mutter sich ärgerte, aber nicht wirklich etwas einwenden konnte. Der Rock? Mika schlüpfte hinein und musterte sich kritisch. Ich bin ein japanisches Schulmädchen, bitte sabbern Sie mich an. Das war ein Tick zu viel. Also Cordhose, Salz-und-Pfeffer-Optik, seriös, aber machte ein paar Jahre älter. Diese schreckliche Cordhose! Findest du die nicht zu eng? Ja, Mam, ich finde die auch zu eng, aber dass du »arschbetont« nicht über die Lippen bringst, ist die Sache wert. Fehlte nur noch Bedingung Nummer drei: Es durfte in der Schule nicht peinlich aussehen. Mika seufzte. Das mussten dann wohl Jacke, Stiefel und Schminke richten. Sie checkte noch mal extra, ob sie sich mit der Unterwäsche in der Umkleide blicken lassen konnte, heute war Handball-AG. Nichts mit Pferdchen, nichts mit Spitze.

Sie überlegte, ob sie vor dem Frühstück nicht noch etwas Zeit schinden konnte. Den Rucksack mit den Schulsachen hatte sie gestern Abend schon gepackt, genau wie die Sporttasche. Mika wog das Buch für die Busfahrt unschlüssig in den Händen. Stephen King. Coole Geschichten. Und sie konnte es in der Pause vor Deutsch noch mal rausholen, damit Herr Funke es sah und sich ärgerte, dass eine so gute Schülerin so einen Mist las. Und die anderen würden mitkriegen, dass es ihr gar nichts ausmachte, mit so einem Buch von einem Lehrer gesehen zu werden. Sie schob das Buch in den Rucksack. Jetzt blieb ihr kein anderer Ausweg mehr und sie bereitete sich innerlich auf den Nikolauswahn vor. Oooh, was ist denn das? Ein Stiefel voller klebriger Süßigkeiten und ein angesagtes Geschenk, das ich meiner alten Mutter überhaupt nicht zugetraut hätte. Ich bin ganz platt vor Weihnachtsstimmung.

Sie hielt die Luft an und öffnete die Zimmertür weit. Hätte sie nicht eben auf Vorrat geatmet, hätte sie jetzt die volle Zimt-und-Tannennadel-Keule erwischt.

Auf dem Fliesenboden stand ihr Stiefel, voll mit Süßigkeiten. Bärks. Daneben ein quadratisches Geschenk. Das Papier ist bestimmt von so Ökotussis handgebatikt. Mit spitzen Fingern griff sie danach. Eine CD. Oooh, ist das etwa ein Buch? Haha. War ich eigentlich so blöd, einen von den Stiefeln vor die Tür zu stellen, die ich heute anziehen wollte? Weiß, Pelz, geschnürt, halbhoher Absatz, schick-sind-sie-ja-aber-bist-du-für-so-was-nicht-noch-ein-bisschen-jung. Offenbar war sie wirklich so blöd gewesen. Fröhlichen Nikolaustag auch, Mika. Als sie sich daran machte, den Stiefel auszuräumen, stutzte sie. Die oberste Schicht Süßigkeiten war eine einzige verklebte Masse aus Stanniolpapier, Schokolade und Marzipanbrocken. Obenauf steckten die beiden Äuglein eines im Schokobrei abgesoffenen Marzipanschweinchens und guckten sie traurig an. Schlampig. Das sah ihrer Mutter gar nicht ähnlich. Dann bemerkte Mika noch etwas, und jetzt hätte sie beinahe laut geflucht. Auf dem hart erbettelten weißen Stiefel prangte seitlich ein fetter bräunlich-schwarzer Handabdruck. Mit zusammengepressten Lippen rubbelte Mika auf dem Fleck herum. Keine Chance. Sieht aus wie ... eingebrannt! Ob ihre Mutter das mit Absicht gemacht hatte? Nein, die würde sich hüten, Spuren zu hinterlassen, die darauf hindeuteten, dass sie selbst die Geschenke brachte.

Ihr fiel ein, dass sie die Stiefel gestern Morgen noch eingesprüht hatte. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter in der Nacht den Hefezopf für das Frühstück gebacken, dann irgendwie am heißen Backofen die Schokolade schmelzen lassen und später im dunklen Flur nicht gemerkt, das alles ruiniert war. Und der Handabdruck? Vor Mikas geistigem Augen tauchten irgendwelche neuen Weltraum-Kunststoff-Ofenhandschuhe auf, die sich beim Backen mit Hitze vollgesogen und dann das Stiefelleder versengt hatten. Klingt idiotisch. Ist auch idiotisch. Sieht ihr wirklich gar nicht ähnlich. Mika war wütend, und wenn sie wütend war, wurde alles in ihr ganz kalt. Ihre Gedanken verlangsamten sich und wurden zu einem Strom sanfter, aber bestimmter Anweisungen, wie bei der Sicherheitsbelehrung im Flugzeug. Sammel alles wieder ein. Sieh dir jetzt die CD an, du musst dich gleich dafür bedanken, auch wenn heute keine Sau mehr CDs verschenkt. Hopp, wir haben nicht mehr viel Zeit. Die Treppe runter, ein bisschen freudig hüpfen, dann kann sie sich auch gleich beschweren, das freut sie und wiegt sie in Sicherheit.

»Na, Mika, musst du denn so die Treppe runterpoltern?« Ihre Mutter trug Kaffee von der Küchenzeile zum Tisch hinüber.

»Wenn die Treppe unter dir zusammenbricht, fahr ich dich nicht ins Krankenhaus«, sagte ihr Vater.

Glaub ich dir sofort.

»Guten Morgen, Herr Vater. Sie haben ja gute Laune.« Sie deutete einen Knicks an und drückte ihm einen Kuss auf.

»Sehr witzig«, sagte ihr Vater und wischte sich über die glatt rasierte Wange, während er die Zeitung aufschlug. »Ich hab nicht gut geschlafen. Ist einer von euch heute Nacht andauernd aufs Klo? Ich hab heute Meeting, da kann ich so was echt nicht gebrauchen.«

Mikas Mutter hielt ihrem Vater den Brötchenkorb hin. Goldgelb, selbst gebacken.

»Nur weil du schlecht geschlafen hast, müssen wir ja nicht alle schlechte Laune haben«, sagte sie.

Ihr Vater sah von der Zeitung auf. »Nein, natürlich nicht. Entschuldigung.« Er raschelte mit den Zeitungsseiten. »Du hast ja auch viel zu tun mit deinen Duftgestecken und so. Das vergesse ich immer.«

Heißt übersetzt: Ohne mein Geld würdet ihr alle auf der Straße sitzen. Aber so was sagen wir ja nicht, wie?

»Ja, du hast recht, Papa. Mam hat das echt alles toll hergerichtet.«

Mikas Mutter setzte die Kaffeekanne so hart auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte. Die einsame Kerze im Adventskranz flackerte, und das Räuchermännchen schien sich an seinem Qualm zu verschlucken.

»Wenigstens eine, die das bemerkt.«

Mikas Vater faltete die Zeitung zusammen und legte sie sorgfältig vor sich auf den Tisch. »Musst du nicht heute ein Referat halten?«, fragte er, während er langsam ein Messer ins Brötchen stieß. »Gemeinschaftskunde, oder? Ich hoffe, du hast dich gut vorbereitet.«

»Na klar.« Mika setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. »Ich mach was mit dieser Interaktionsmethode, über die du mir den Artikel gegeben hast. Guter Tipp übrigens.«

Ihr Vater hob den Blick und lächelte ihr kurz zu, was gar nicht so leicht war, bei all dem Tannengrün und den Strohtierchen, die um den gusseisernen Kerzenleuchter über dem Esstisch drapiert waren. Freche Teenagertochter angetäuscht und jetzt nachstoßen. Obwohl sie wegen dem ruinierten Stiefel immer noch sauer war, fing die Sache beinahe an, ihr Spaß zu machen. Ihr beide seid aber auch so leicht zu spielen. Große rote Knöpfe, die man bloß zu drücken braucht.

»Mam, ich glaube, du hast heute Nacht irgendwie so einen Abdruck an meinen neuen Stiefel gemacht, als du die Süßigkeiten reingetan hast. Danke für die CD übrigens, hast du echt super ausgesucht.«

Jetzt nicht hochgucken. Der Kinderchor aus der Stereoanlage säuselte in den höchsten Tönen. Mika drückte das stumpfe Frühstücksmesser durchs Brötchen und riss die beiden dampfenden Hälften schließlich auseinander.

Schnief. Schnief-Schnief. Dann ein leises Schluchzen. Das war überraschend schnell gegangen.

»Ach Mika«, sagte ihr Vater und schob den Stuhl zurück. »Du weißt doch, wie empfindlich deine Mutter da ist.«

Mika spürte, wie sie die Zähne zusammenbiss. In ihrem Bauch ballte...

Erscheint lt. Verlag 23.12.2022
Verlagsort Traunstein
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte Arbeitslager • Coming of Age • Drama • Fantastischer Roman • Jugendroman • Straflager • Weihnachten • Weihnachtsbezug • Weihnachtsmann
ISBN-10 3-95869-513-2 / 3958695132
ISBN-13 978-3-95869-513-9 / 9783958695139
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Ohne DRM)

Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopier­schutz. Eine Weiter­gabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persön­lichen Nutzung erwerben.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich