Sturm (eBook)
336 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70402-7 (ISBN)
Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.
Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern einer armen Bergbauernfamilie in Graubünden geboren und wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Bereits als Jugendlicher verfasste Gurt Kurzgeschichten, mit zwanzig folgte der erste Roman. Schon immer hatte er ein inniges Verhältnis zur Natur, das auch sein hochatmosphärisches Schreiben prägen sollte. Seine Verbundenheit mit dem Kanton Graubünden, wo er noch heute als freier Schriftsteller lebt, ist in jedem seiner Romane spürbar.
2
Am selben Tag, 14:28 Uhr – Kriminalpolizei Chur, Fahndung Hansahof
Giulia de Medici betrat soeben das Gebäude unterhalb des Bahnhofs und stieg die zwei Stockwerke zu ihrem Büro hoch, als ihr Handy surrte. Sie blickte auf das Display: Nadia Caminada (KAPO).
»Nadia, bin in einer Minute im Office …«, sagte die dreiunddreißigjährige Chefermittlerin der Kriminalpolizei und steckte, ohne eine Antwort abzuwarten, das Gerät zurück in die rechte Gesäßtasche ihrer Jeans, während sie das alte Treppenhaus emporstieg, in dem es nach Putzmittel roch.
Nadia saß allein im gemeinsamen Dreierbüro hinter ihrem Schreibtisch, Sigron war im Urlaub. Draußen drückte die Herbstsonne immer wieder zwischen Wolkenlücken durch.
»Was gibt’s?« Giulia legte ihren Schlüsselbund auf den Tisch, stellte danach ihre Tasse unter die Kaffeemaschine, die auf einem niedrigen Aktenschrank stand, und blickte fordernd zu Nadia, während sich die Tasse füllte. Nach dem ersten Schluck lehnte sie sich gegen die Tischkante ihres Schreibtisches, während sie weiter ihrer Ermittlerkollegin und besten Freundin zuhörte.
»Aha?« Giulia stellte die Tasse ab, als Nadia fertig war. »Du verarschst mich doch, oder?« Sie zurrte ihren schwarzen Pferdeschwanz zurecht und öffnete den Reißverschluss ihrer dünnen graublauen Parka, wodurch ihr Waffenholster zum Vorschein kam. Nadia, die im sechsten Monat schwanger war, schüttelte ihren Kopf, lachte verhalten. »Kam tatsächlich genau so vor wenigen Minuten via Einsatzzentrale rein …«
Giulia sah ihr an, dass sie nicht flachste. »Also, Madame Caminada, nur damit ich es richtig verstanden habe; vor einer halben Stunde meldete sich im Polizeiposten Samedan ein gewisser Le-der-ho-sen Djan-go, ein Tiroler, per Telefon während des Aufstiegs zur Chamanna Coaz.« Sie betonte den Namen mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ihm sollen unterwegs zwei holländische Alpinisten den Fund einer Gletscherleiche, die auf dem Roseggletscher liegt, gemeldet haben?«
»Das sagte er, ja.«
»Okay«, sagte Giulia gedehnt. »Nach diesem Hitzesommer und dem damit verbundenen Rekordschwinden der Gletscher wäre dies nicht der erste derartige Fund in diesem Jahr. Doch der Kerl berichtete weiter, dass es sich bei der Toten um eine Frau in einem knallroten Sommerkleid handelte. Ein Sommerkleid auf einem Gletscher?«
»Genau, oder wie mein Neni, der Landjäger Caminada, gesagt hätte: präzis.« Nadia erinnerte sich gerne an ihren legendären Großvater Walter Caminada, der viele Jahre als einfacher Polizist in Graubünden Fälle gelöst hatte.
»Und weiter informierte dieser Le-der-ho-sen Djan-go die Einsatzzentrale auch darüber, dass er den Weg zur Berghütte Chamanna Coaz weiter hochsteige. Doch seither ist weder er noch die Hüttenwartin zu erreichen«, schloss Giulia ihre Zusammenfassung.
»Die Dame hat einhundert Punkte.«
Giulia trank nachdenklich weiter Kaffee. Draußen wehte der aufkommende Herbststurm Blätter an die Scheiben, ein Postauto fuhr brummend über die bogenförmige Tivolibrücke, gedämpft drang der Lärm in den Raum, während die Sonne hinter der nächsten Wolke verschwand. »Ein schlechter Scherz des Anrufers? Wäre ja nicht der erste. Sag Nadia, hat dieser, ähm, Lederhosen-Django wenigstens die ungefähre Position der Gletscherleiche benennen können?« Ihrem spöttischen Ton war zu entnehmen, dass sie die Sache nicht ganz ernst nahm. »Wenn nicht, dann muss sowieso der Heli her. Die abzusuchende Fläche beträgt mehrere Quadratkilometer und ist nicht überall begehbar, ein Gletscher eben, aber das muss ich dir ja nicht erzählen.«
Giulia, die ab ihrem fünften Lebensjahr in Pontresina aufgewachsen war, kannte das Val Roseg und die Engadiner Berge wie ihre eigene Hosentasche. Außerdem hatten sie und Nadia schon so manche anspruchsvolle Bergtour in diesem Gebiet gemeinsam gemeistert.
»Die Verbindung war schlecht. Man hat notiert, dass die Leiche oberhalb der Hütte, am Rand des Gletschers liegen soll.« Nadia drehte den Laptop zu Giulia. »So wurde der Fall rapportiert.«
Giulia beugte sich vor. Nachdem sie quergelesen hatte, fragte sie: »Das liegt auf über zweieinhalbtausend Metern. Warum landet der Fall bei uns? Warum rückt nicht die Alpinpolizei von Samedan aus? Sind ja nur zehn, zwölf Kilometer bis Pontresina, und von dort kann man mit dem Auto ein rechtes Stück ins Val Roseg fahren, bis zum Gasthof Roseggletscher. Aber noch besser wäre, wenn sie gleich den Heli nehmen, um sich aus der Luft ein Bild zu verschaffen.«
»Mag sein. Aber da du in St. Moritz die Ausbildung zur Alpinpolizeibeamtin durchlaufen hast und von uns allen am meisten Erfahrung in den Bergen hast, will man wohl dich. Aber vor allem, falls das stimmt, was der Anrufer sagte, wenn diese Frau tatsächlich im Sommerkleid da oben liegt, dann klingt das eher nach einem Mord als nach einem Unfall. Damit ist das sowieso ein Fall für uns. Außerdem willst du doch immer als Erste vor Ort sein, richtig?«
Giulias Handy klingelte. Major Oliver Peterelli, der Chef der Kriminalpolizei, rief an. »Leutnant de Medici, Sie wissen mittlerweile Bescheid?«, kam er ohne Umschweife auf den Punkt. Er hasste Vorgeplänkel, was wohl das Einzige war, das Giulia mit ihm gemein hatte.
Der groß gewachsene, schlaksige Peterelli war aus dem Kanton Aargau zugezogen. Er hatte sein Amt vor bald einem Jahr angetreten und war noch immer nur mit seinem Chef, dem Kommandanten Erich Hartmann, per Du. Das war bestimmt seiner Militärkarriere geschuldet, wurde gemunkelt, Peterellis Führungsstil war entsprechend gefärbt.
»Ja, Major. Adjutant Caminada hat mich soeben informiert. Falls die ganze Sache kein Scherz ist, was ich noch immer nicht ausschließe, sieht’s nach einem Gewaltdelikt aus, denn welche Frau verirrt sich in einem Sommerkleid auf einem Gletscher? Die Fragen, die sich mir in diesem Fall aufdrängen, sind: Wer ist die Tote, wann und wie kam sie zu Tode? Gibt’s aktuelle Vermisstenmeldungen, die auf ihr Signalement passen?«
»Genau das sollen Sie mit Caminada ermitteln. Klären Sie den Wahrheitsgehalt der Meldung und versuchen Sie die Leiche so schnell wie möglich zu identifizieren.«
»Major, warum überfliegt nicht erst ein Pilot der Air Grischa von Samedan aus den Gletscher, bevor wir uns von Chur aus auf den Weg machen müssen, nur um einem möglichen Scherz aufzusitzen? Vergessen wir nicht, dort oben liegen mehrere Quadratkilometer Eis, und das auf über zweieinhalbtausend Metern. Außerdem zieht ein Sturm auf. Noch ist aber Zeit; der Heli oder eine Drohne könnte ratzfatz den Fund bestätigen oder eben nicht. Hinauf komme ich zu Fuß alleweil auch danach.«
Peterelli ging nicht darauf ein. Mit seiner tiefen Stimme, die so gar nicht zu seinem schmalen Habichtgesicht passte, sagte er trocken: »Auf dem Rossboden wartet in einer halben Stunde der Heli auf Sie, Leutnant de Medici.«
Giulia fragte sich, was der Major wusste, was er ihr nicht sagen wollte, denn dieses Vorgehen nach einer solch vagen Zeugenaussage entsprach nicht dem standardmäßigen Verfahren. Etwas war im Busch, und sie wusste, Peterelli würde damit nicht herausrücken. Noch nicht.
»Verstanden. Doch erst muss ich kurz nach Hause, mich berggerecht umziehen, und ich brauche noch einen Bergretter für eine Seilschaft, falls ich denn wirklich auf den Gletscher muss. Vorzugsweise Erkki Korhonen.«
Giulia war seit Ende Sommer, seit der Hochzeit von Nadia, wieder mit dem Norweger zusammen, der in seinem Heimatland die Polizeischule absolviert und jahrelang im Dienst gestanden hatte, ehe er sich in der Schweiz zum Bergführer ausbilden ließ. Seit dem ersten September arbeitete er zusätzlich in der Bergrettung beim SAC, dem Schweizer Alpenclub.
»Einverstanden«, brummte Peterelli. »Halten Sie mich regelmäßig auf dem Laufenden. Und zwar ausschließlich mich und Kommandant Hartmann!«
»Nadia und ich sind ein Team!«, konterte Giulia.
Peterelli musste an ihrem Tonfall erkannt haben, dass er diese Weisung nicht durchsetzen konnte. Er ergänzte: »… und Caminada, einverstanden.«
Erkki war zu Hause, erledigte ungeliebten Bürokram und besprach mit einer IT-Spezialistin seinen neuen Webauftritt als Bergführer, als Giulia ihre Dachwohnung oberhalb von Chur betrat, in die Erkki erst vor wenigen Wochen wieder eingezogen war.
Die kupferblonde Webdesignerin sah unverschämt gut aus, fand Giulia, als diese mit einem etwas gar charmanten Lächeln in Erkkis Richtung aufstand und sagte, dass sie gerne ein andermal wiederkäme. Dann musterte sie Giulia mit einem aufgesetzten Lächeln, ehe sie ging und nur den Geruch ihres süßlichen Parfüms zurückließ. Erkki reagierte darauf mit einem trockenen »Okay«. Giulia war es gewohnt, dass andere Frauen Erkki schöne Augen machten, jedoch noch nie so unverblümt wie eben. Doch sie wusste, Erkkis Blicke galten nur ihr.
Erkki, der in sich ruhende Nordländer, mit den markanten Gesichtszügen, dem dunkelbraunen Haar und den warmen blauen Augen, hatte alles Nötige für den bevorstehenden Einsatz griffbereit, da er oft auf Abruf bereitstehen musste. Deshalb hatte Giulia ihn auf der wenige Minuten dauernden Heimfahrt auch nicht angerufen, sie musste ihren Kram ja erst selbst aus dem großen Schrank im Flur zusammensuchen: Steigeisen, Seil, Eispickel und der Bergfunk waren rasch eingepackt, dazu Notproviant. Sie pflegte vor Einsätzen im hochalpinen Gelände zu sagen: »In den Bergen weißt du nie, was dich erwartet. Sei auf alles gefasst, denn es...
Erscheint lt. Verlag | 23.3.2023 |
---|---|
Reihe/Serie | Ein Fall für Giulia de Medici | Ein Fall für Giulia de Medici |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Berg • Gletscher • Graubünden • Hütte • Leiche • Mord • Polizei |
ISBN-10 | 3-311-70402-9 / 3311704029 |
ISBN-13 | 978-3-311-70402-7 / 9783311704027 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 858 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich