Damals im Tessin (eBook)

Der erste Fall für Elia Contini
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
368 Seiten
Atlantis Literatur (Verlag)
978-3-7152-7515-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Damals im Tessin -  Andrea Fazioli
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Zwanzig Jahre sind vergangen, seit Malvaglia, ein kleines Dorf in den Tessiner Bergen, geflutet wurde, um auf dem Gelände einen Stausee entstehen zu lassen. Beinahe haben die einstigen Bewohner, deren Häuser damals unter Wasser gesetzt wurden, das Unrecht vergessen. Besonders der verschlossene Privatdetektiv Elia Contini, der zurückgezogen in einem Häuschen in den Bergen wohnt und am liebsten durch die Wälder streift, um Füchse zu fotografieren, denkt ungern an die Zeit zurück, in der sein Vater unter ungeklärten Umständen verschwand. Doch jetzt soll der Stausee erweitert und jener Teil des Sees trockengelegt werden, auf dem auch das Haus seiner Kindheit stand. Alte Wunden brechen auf. Als kurz hintereinander der Bürgermeister und ein Ingenieur ermordet werden, gerät Contini ins Fadenkreuz der Ermittler. Um sich selbst zu entlasten, muss er sich endlich der Vergangenheit stellen und herausfinden, was damals wirklich geschah ...

Andrea Fazioli, geboren 1978, studierte in Mailand und Zürich Romanistik und arbeitete als Radio- und Fernsehjournalist. Er ist leidenschaftlicher Saxophonspieler und Pfeifenraucher. Für seine Tessiner Kriminalromane um den eigenbrötlerischen Privatdetektiv Elia Contini wurde er mehrfach ausgezeichnet. Andrea Fazioli lebt in Bellinzona. Im Atlantis Verlag ist erschienen: Wachtmeister Studers Ferien, Faziolis Roman um Friedrich Glausers Ascona-Fragment.

Andrea Fazioli, geboren 1978, studierte in Mailand und Zürich Romanistik und arbeitete als Radio- und Fernsehjournalist. Er ist leidenschaftlicher Saxophonspieler und Pfeifenraucher. Für seine Tessiner Kriminalromane um den eigenbrötlerischen Privatdetektiv Elia Contini wurde er mehrfach ausgezeichnet. Andrea Fazioli lebt in Bellinzona. Im Atlantis Verlag ist erschienen: Wachtmeister Studers Ferien, Faziolis Roman um Friedrich Glausers Ascona-Fragment.

1 Das Fotozimmer


An einem Tag im Sommer beschloss Tommi, als er morgens aufwachte, jemanden umzubringen. Er hatte am Abend die Fensterläden offen gelassen, und ein Sonnenstrahl hatte ihn noch vor dem Wecker aus dem Schlaf gerissen. Eigentlich war es kein richtiger Entschluss, nur eine unbestimmte Idee, die sich zwischen Halbschlaf und dem ersten bewussten Gedanken breitmachte.

Nach so vielen Jahren war allmählich die Normalität zurückgekehrt. Auch Tommi war fast so weit gewesen, das Unrecht zu vergessen. Aber jetzt wollten sie das Becken des Stausees verbreitern und die Orte seiner Kindheit noch tiefer unter Wasser setzen. Jetzt musste er reagieren und war sogar bereit, Gewalt anzuwenden, um der Welt zu zeigen, was Unrecht und was Recht war. Das empfand er wie eine Pflicht, eine Schuld gegenüber dem Andenken seines Vaters und seines Elternhauses.

Er schälte sich aus dem Bett. Normalerweise brauchte er eine gute halbe Stunde, bis er vollständig wach war, an diesem Morgen aber rüttelte ihn die Wut binnen Minuten auf. Er schlüpfte in seine Pantoffeln und riss mit nacktem Oberkörper das Fenster auf. Die Sonne blendete ihn, und er kniff die Augen zusammen.

Auf den Kaffee verzichtete er. Er schenkte sich ein Glas Milch ein und trat damit vors Haus. Es war ein Dienstag im August, Viertel nach sieben, und draußen war es kühl. Auf der Straße nach Malvaglia, zwei Meter von ihm entfernt, fuhr der alte Toyota der Signora Bionda vorbei. Da schau her, dachte Tommi, die sitzt sogar im August um Punkt acht an ihrem Schreibtisch. Signora Bionda arbeitete in Bellinzona in der Bank und nahm morgens und abends eine halbe Stunde Fahrt in Kauf, weil sie nicht aus dem Bleniotal fortwollte. Verständlich; auch Tommi wäre nie von Malvaglia, nie von dem Staudamm weggezogen.

Er reckte sich und dachte an den Tag, der vor ihm lag. Gegen halb neun musste er sich auf den Weg machen, damit er um neun in Lodrino war, im Autohaus Barenco. Hoffentlich hatte sich das Ehepaar Barenco inzwischen versöhnt. In letzter Zeit herrschte dicke Luft. Am Vortag hatte Tommi das Büro als verlassenes Schlachtfeld vorgefunden: verstreute Papiere, die Kundenkartei umgekippt, die Kaffeemaschine auf dem Fußboden. Blass und ohne ihm in die Augen zu schauen, hatte ihn Signor Barenco empfangen.

»Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meiner Frau …«

»So kann ich nicht arbeiten«, hatte Tommi geantwortet.

»Du musst entschuldigen, Tommaso, es ist so, dass …«

»Ich fahr wieder heim«, hatte Tommi entgegnet und war, ohne auf Barencos Beteuerungen einzugehen, in seinen brandneuen Honda Civic gestiegen und nach Malvaglia zurückgekehrt. Schließlich war er Büroangestellter und kein Hanswurst, mit dem man umspringen konnte, wie es einem passte.

Dabei gefiel ihm sein Job. Besonders anstrengend war er nicht: Er kümmerte sich um die Buchhaltung, erledigte die Korrespondenz und hielt die Kundenkartei auf aktuellem Stand. Interessant fand er, wie die Leute mit ihren Autos umgingen. Da gab es die Pedanten, die den Versicherungsvertrag bis zum letzten Komma auswendig kannten und jeden Monat eine »Generalüberholung« machen ließen, wie Signor Barenco das nannte. Und es gab andere, denen alles egal war und die ihr Auto behandelten wie … na, eben wie ein Auto. Dabei müssten Autos eigentlich wie Menschen behandelt werden, an ihnen ist genauso viel Unvorhersehbares und Geheimnisvolles wie beispielsweise an einer faszinierenden Frau.

Aber faszinierende Frauen gibt es wenige, dachte Tommi, während er sich vor dem Spiegel rasierte. Wenig faszinierende Frauen und noch weniger phantastische Autos.

An diesem Morgen empfand er beim Blick auf den Staudamm nicht die gewohnte Bitterkeit, sondern beinahe Euphorie. Die Zeit der Trauer war vorbei. Jetzt würde er kämpfen, endlich. Man hatte ihn seiner Kindheit beraubt, und das forderte Strafe.

Im Büro war nicht viel zu tun. Die Barencos hatten offenbar einen Waffenstillstand geschlossen, zum Glück, und dass Tommi sie tags zuvor einfach hatte sitzen lassen, wurde mit keinem Wort erwähnt. Außer an Signor Costantini zu schreiben und ihn daran zu erinnern, dass in der kommenden Woche die Motorfahrzeugkontrolle für seinen alten Accord fällig war, tat Tommi bis zum Mittag praktisch nichts. Er hatte also Zeit zum Nachdenken. Irgendwann zog er den Brief wieder hervor, den er kürzlich erhalten hatte.

Sehr geehrter Signor Porta,

hiermit setzen wir Sie in Kenntnis, dass im Rahmen des Verfahrens zum Ausbau des Staudamms der Tessiner Elektrizitätsgesellschaft (SET) in Malvaglia, welche der Erhöhung der Speicherkapazität des Stausees dient, die Unterlagen über die zur Enteignung vorgesehenen Flächen in der Gemeindeverwaltung ausliegen; sollte sich eine der genannten Flächen am Nordufer des Stausees in Ihrem Eigentum befinden, bringen wir Ihnen hiermit zur Kenntnis, dass in nächster Zeit auf Kosten des Kantons eine Schätzung des Grundstückswerts vorgenommen wird.

Für die Gemeinde Malvaglia:

Der Bürgermeister

Giovanni Pellanda.

Ein einziger langer Satz, eine Verurteilung. Sie fühlten sich sicher, das war klar. Zusammen mit dem Brief hatten sie ihm eine Landkarte geschickt: Auf dem Gelände, das geflutet werden sollte, stand kein einziges Wohnhaus, nur ein paar Stadel. Es würde also niemand protestieren. Schon damals, vor zwanzig Jahren, war jeder Protest sinnlos gewesen. Damals hatten auf dem Gelände, das dem Ausbau des Stausees zum Opfer fallen sollte, eine Handvoll Häuser gestanden. Eine Handvoll Häuser, die trotz der Beschwerden der Bewohner unter Wasser gesetzt worden waren. Erbarmungslos ausgelöscht.

Er legte die Hände flach auf den Schreibtisch, seufzte und schloss sekundenlang die Augen. Denk jetzt nicht mehr dran. Denk an die MFK am Wagen von Signor Costantini.

Er stand auf und trat an den Schreibtisch seines Chefs.

»Diesmal schafft er’s nicht mehr«, sagte er.

»Wie bitte?«, fragte Barenco, der noch immer ein wenig mitgenommen wirkte.

»Der Accord von Signor Costantini. Er möchte, dass wir es noch mal versuchen, aber schon beim letzten Mal hat er’s nur mit Müh und Not geschafft.«

»Hm … tatsächlich? Weiß ich gar nicht mehr.«

»Es war das reinste Wunder, dass sie ihn noch mal durchgelassen haben, und Sie hatten eine ganze Woche dran gearbeitet. Ich weiß ja nicht, wie viel Signor Costantini in das Auto noch reinstecken will, aber …«

»Er wird es auf jeden Fall versuchen. Er liebt diese alte Kiste. Und wenn nur noch ein einziger Reifen übrig ist, wird er sagen, ich soll ihn gut aufpumpen und es versuchen.«

Tommi missbilligte diese Sentimentalität gegenüber Autos. Das Gesetz sieht alle zwei Jahre eine Fahrzeugkontrolle vor, deren Zweck es ist, nicht mehr funktionstüchtige Gefährte zur Verschrottung zu schicken. Und das war richtig so.

Im Lauf des Nachmittags las er den Brief der Gemeinde noch ein paar Mal. Ohne einen Anflug von Zweifel und ohne Taktgefühl: Sie fassten einen Beschluss und teilten ihn dem Volk mit, Punkt. Schweizer Effizienz. Es brauchte mehr Strom? Wurden eben ein paar Dörfer geflutet. Malvaglia war ein kleines Gebirgskaff in einem der touristisch besterschlossenen Täler des Kantons Tessin. Tommi war Mitte dreißig und bestimmt nicht menschenscheu. Aber wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam, liebte er die Stille, den Dialekt der Leute, die dunklen Straßen im Winter. Die Touristen liebte er nicht, und in der Stadt hielt er es nicht länger als einen Monat aus: Nach kurzer Zeit ergriff ihn eine Schwermut, die ihn niederdrückte, ihm nachts den Schlaf raubte und ihn nervös machte, ja aggressiv.

An diesem Abend schlenderte er den Staudamm entlang. Er hatte versucht, an etwas anderes zu denken. An Mathematik: Er betrieb sie im Selbststudium, das war sein Freizeitvergnügen, mit Begeisterung löste er Gleichungen und Rätsel, und momentan las er eine Abhandlung über Realanalyse. Aber jetzt gelang es ihm nicht, sich zu konzentrieren.

Diese Sache macht mich fertig, dachte er. Sein morgendlicher Entschluss war fast vergessen. Statt gleich Gewalt anzuwenden, sollte er sich vielleicht lieber an die Justiz wenden. Erst einmal abwarten, beschloss er. Vor dem Herbst konnte er sowieso keinen konkreten Schritt unternehmen.

 

Die nächsten Monate zogen sich hin wie Sekunden für einen, der die Luft anhält. Tommi hatte das Gefühl, er sei unter Wasser und halte mit geschlossenen Augen den Atem an. Er fuhr zur Arbeit, abends ging er manchmal in die Disco oder trank ein Bier in einem Pub. Er nahm eine Woche Urlaub und fuhr mit einem Freund fünf Tage nach Amsterdam.

Aber vergessen konnte er nicht.

Im Lauf der Wochen sammelte Tommi methodisch und geduldig die Fotos. Er sagte sich, das sei nichts als ein harmloses Hobby, genau wie die Mathematik. Manche Fotos fand er im Haus, in einem alten Album, auf andere stieß er in den Zeitungen oder im Internet. Am Ende warf er die hässlichsten weg, die restlichen unterzog er einer strengen Auswahl. Fünf Bilder blieben übrig. Sorgfältig ausgesuchte Porträts.

Als ein zweiter Brief eintraf, war Tommi bereit. Er hatte in seinem Gästezimmer, oben unter dem Dach, eine Wand frei gemacht. Jetzt schaffte er sämtliche Möbel hinaus, montierte sogar die Deckenlampe ab. Zurück blieben eine nackte Glühbirne, drei weiße Wände mit den Schmutzrändern der abgehängten Bilder und eine vierte Wand – die mit dem Fenster zum Staudamm –, an der er die Fotos befestigte.

Ein paar Tage lang hielt er sich immer nur wenige Minuten im Dachzimmer auf. Jeden Abend, wenn er von der Arbeit heimkam, ging er...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2023
Reihe/Serie Ein Fall für Elia Contini
Übersetzer Barbara Schaden
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Bau • Berge • Dorf • Mord • Natur • Politik • Stausee • Verschwinden
ISBN-10 3-7152-7515-4 / 3715275154
ISBN-13 978-3-7152-7515-4 / 9783715275154
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