Das Schloss der Schriftsteller (eBook)

Spiegel-Bestseller
Nürnberg '46

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
305 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-79146-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Schloss der Schriftsteller -  Uwe Neumahr
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Wohl nie waren so viele berühmte Schriftsteller und Reporterinnen aus aller Welt unter einem Dach versammelt wie in Nürnberg 1946. John Dos Passos und Erika Mann, Erich Kästner und Martha Gellhorn, Willy Brandt und Markus Wolf: Sie kamen, um zu berichten - von den Gräueln des Krieges und des Holocaust, die dort vor Gericht verhandelt wurden. Sie wohnten und schrieben auf Schloss Faber-Castell, diskutierten, tanzten, verzweifelten, tranken. Uwe Neumahr erzählt ihre Geschichte in seinem aufregenden und bewegenden Buch. Nürnberg 1946: Es war eine einzigartige Versammlung von weltberühmten Schriftstellern, Journalistinnen, Reportern und solchen, die später einmal die Berühmtheit erlangten. Erich Kästner war dort und Erika Mann, John Dos Passos und Martha Gellhorn. Augusto Roa Bastos kam aus Paraguay, Xiao Qian aus China. Im Gerichtssaal blickten sie den Verbrechern ins Angesicht, die sich für den Krieg und den Holocaust verantworten mussten. Im Press Camp auf dem Schloss Faber-Castell versuchten sie, das Unfassbare in Worte zu fassen, damit die Welt davon erfahren konnte. Dabei trafen im Mikrokosmos des Faber-Schlosses Exil-Rückkehrer auf Überlebende des Holocaust, Kommunisten auf Vertreter westlicher Medienkonzerne, Frontberichterstatter auf extravagante Starreporter. Man schlief auf Feldbetten und begegnete sich in der Bar, im Salon, im Spielzimmer und im Kino, die die Alliierten in der globalen Herberge eingerichtet hatten. Und während die Schlossbewohner in den Abgrund der Geschichte sahen, während sie über Schuld, Sühne und Gerechtigkeit nachdachten, veränderten sich nicht nur sie, sondern auch die Art, wie sie schrieben.

Uwe Neumahr ist promovierter Romanist und Germanist. Er arbeitet als Literaturagent und freier Autor. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: "Miguel de Cervantes. Ein wildes Leben. Biografie" (2015).

VORWORT


Xiao Qian war erstaunt. Als er im Oktober 1945 das erste Mal durch das zerstörte Nürnberg lief, erinnerte ihn die Stadt als einzige von allen europäischen Städten an Peking. Nicht nur der alten Stadtmauer wegen, des Flusses, der sich hindurchschlängelte, oder der Trauerweiden, sondern auch wegen der Ruhe, die die Stadt ausstrahlte. Als chinesischer Kriegsberichterstatter während des Zweiten Weltkriegs hatte Xiao Qian (1910–1999) mit der britischen Armee 1945 den Rhein überquert. Nach einem Aufenthalt im eroberten Berlin erreichte er im Herbst Nürnberg. Die touristische Bedeutung der einstigen Reichsstadt war ihm bekannt, doch «heutzutage», so Xiao Qian in seiner Reportage vom 9. Oktober 1945, «kommen die Touristen nicht wegen kultureller und historischer Sehenswürdigkeiten nach Nürnberg (die finden sich jetzt unter Schutt und Asche), auch nicht wegen der berühmten Nürnberger Lebkuchen. Heute steht Nürnberg im Mittelpunkt weltweiter Aufmerksamkeit, weil hier 23 Hauptverbrecher des Nazi-Regimes vor Gericht stehen. […] Es ist ein großes Ereignis.»[1]

Was Xiao Qian seiner Leserschaft in China in einführenden Worten als «großes Ereignis» beschrieb, war die internationale Antwort auf unvorstellbare Gräuel: der Nürnberger Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher, mit dem der Moment der Sühne kam. Weltweit wollten Menschen miterleben, wie die Gesichter der NS-Diktatur demaskiert wurden. Einige Beobachter sahen in dem Prozess den Grundstein für die Umsetzung eines modernen Völkerstrafrechts. Die Anwesenheit von NS-Prominenz im Gerichtssaal, das juristische Novum eines von vier Siegermächten durchgeführten Tribunals, dazu die Neugier auf ein Land, das in der Wahrnehmung vieler rätselhaft war, machten den Prozess tatsächlich zu einem Großereignis. Eine entsprechende Anzahl an Journalisten wurde nach Nürnberg geschickt, darunter, als einziger Chinese, Xiao Qian, der spätere Vorsitzende der chinesischen Schriftstellervereinigung. Die Berichterstatter sollten gleichsam das Fenster in einer abgeschotteten Enklave bilden, durch das die Außenwelt das Geschehen verfolgen konnte.

Unter Führung der amerikanischen Besatzungsbehörde wurde ein Presselager gesucht, das den Ansturm bewältigte. Doch ein Gebäude zu finden, das groß genug war, um mehrere hundert Pressevertreter aufzunehmen, stellte in einer Stadt, die während des Zweiten Weltkriegs häufig bombardiert worden war, ein schwieriges Unterfangen dar. Schließlich wurde man in der nahegelegenen Ortschaft Stein fündig. Das beschlagnahmte Schloss der Schreibwarenfabrikanten Faber-Castell, ein im Stil des Historismus erbauter burgartiger Komplex, der den Krieg ohne nennenswerten Schaden überstanden hatte, wurde in ein internationales Press Camp umgewandelt. Das Faberschloss, wie man das Press Camp auch nannte, diente als Herberge und Arbeitsstätte zugleich.[2] Die Korrespondenten wohnten dort in Zimmern mit bis zu zehn Betten und fingen die Ereignisse wie Seismografen ein, während nur ein paar Kilometer entfernt in den Gefängniszellen in Nürnberg Männer wie Göring oder Ribbentrop, Streicher oder Heß auf die Urteile des internationalen Militärtribunals warteten.

Einige der wichtigsten Journalisten und bekanntesten Schriftsteller wurden nach Nürnberg geschickt, damit sie für Zeitungen, Agenturen und Radiosender über die Verhandlungen berichteten. Die Liste liest sich teils wie die Crème de la Crème der damaligen Presse- und Literaturszene. Sie reicht von Berühmtheiten wie Erika Mann, Erich Kästner, John Dos Passos, Ilja Ehrenburg, Elsa Triolet, Rebecca West und Martha Gellhorn bis zu Persönlichkeiten, die damals noch weitgehend unbekannt waren, aber später literarischen, medialen oder politischen Ruhm erlangten. Zu letzteren zählen Wolfgang Hildesheimer, der als Dolmetscher bei den Nürnberger Nachfolgeprozessen arbeitete, Augusto Roa Bastos, der als bedeutendster Autor Paraguays gilt, Robert Jungk, Zukunftsforscher und Träger des «Alternativen Nobelpreises», die amerikanische Fernsehlegende Walter Cronkite oder Walter Lippmann, der in den USA als einflussreichster politischer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts betrachtet wird. Ganz zu schweigen von Willy Brandt, dem späteren Bundeskanzler, Markus Wolf oder Autoren wie Joseph Kessel, Peter de Mendelssohn und Gregor von Rezzori. Bis heute waren wohl nie mehr so viele prominente Schriftsteller aus aller Welt unter einem Dach versammelt wie zu dieser «Stunde null» auf Schloss Faber-Castell, als Weltliteratur auf Weltgeschichte traf. Rückkehrer aus der inneren Emigration oder dem Exil begegneten kriegserfahrenen Offizieren, Résistance-Kämpfer Überlebenden des Holocaust, Kommunisten Vertretern westlicher Medienkonzerne, Frontberichterstatter extravaganten Starreportern. Sie alle einte die Suche nach Antworten, wie diese Katastrophe geschehen konnte, was die Angeklagten für Menschen waren und was sie zu ihrer Verteidigung vorbringen würden.

Das Press Camp in Stein, wo buchstäblich Geschichte geschrieben wurde, war ein Ort der Gegensätze. Erika Mann, offiziell Angehörige des US-Militärs, lebte im Presselager mit ihrer Partnerin zusammen, einer amerikanischen Journalistin, obwohl homosexuelle Beziehungen im Militär verboten waren. Willy Brandt, damals Korrespondent der skandinavischen Arbeiterpresse, traf dort Markus Wolf, jenen Mann, der ihn später als Chef des DDR-Auslandsnachrichtendienstes über einen Kanzleramtsspion stürzte. Ray D’Addario, der als amerikanischer Militärfotograf legendäre Prozessfotos machte und bis 1949 in Nürnberg blieb, wurde auf seiner Hochzeit im Schloss von Hitlers Hausintendanten verköstigt. Wie Der Spiegel im September 1948 berichtete, war Arthur Kannenberg, ehemaliger Organisationschef für den Haushalt in Hitlers Reichskanzlei, nach seiner Entnazifizierung Küchenchef auf Schloss Faber-Castell geworden. Vor dem Krieg hatte ein Bekannter Kannenberg, der Hitler auch mit Akkordeonspiel und Gesang unterhalten hatte, um seine Nähe zu Hitler beneidet: «Was wenigen Sterblichen ist beschieden, was der sehnlichste Wunsch von Millionen ist», hatte er Kannenberg hymnisch geschrieben, «dieses grosse Glück hast du hienieden, der Du alltäglich um Ihn bist.»[3] Hitlers «Hofnarr an der Quetschkommode», wie Wolfgang Wagner Kannenberg spöttisch nannte,[4] war nun aber nicht mehr vom «Führer» und dessen Entourage umgeben, sondern von internationalen Pressevertretern.

Das Press Camp, das bis zum Ende der Nürnberger Nachfolgeprozesse 1949 aufrechterhalten wurde, war ein Ort hektischer journalistischer Betriebsamkeit, aber auch künstlerischer Kreativität. Neben unzähligen Artikeln, Prozessreportagen und Radiobeiträgen entstanden dort Zeichnungen, Karikaturen, Romane und Erzählungen. Die Romanvorlage für Sergei Prokofjews Oper Die Geschichte vom wahren Menschen, Boris Polewois Der wahre Mensch, wurde im Presselager geschrieben. Prokofjew wollte unbedingt jene «intensivste Literaturerfahrung der letzten Zeit» vertonen. Wolfgang Hildesheimer, der ursprünglich plante, bildender Künstler zu werden, malte im Schloss abstrakte Bilder.

Eigene, eigenartige Sitten und Gebräuche hatten sich in der globalen Herberge herausgebildet, bemerkte ein Prawda-Korrespondent in seinem Tagebuch. Auf engstem Raum zusammenlebend, waren die Korrespondenten enormen Spannungen ausgesetzt. Der Konkurrenzdruck war groß, insbesondere unter den amerikanischen Berichterstattern. Reporter, die sich gerade noch freundlich beim Frühstück unterhalten hatten, konnten wenig später erbitterte Widersacher werden. Viele waren auf der Jagd nach einer exklusiven Geschichte, wollten einen Scoop landen. Emmy Göring, die Frau von Hermann Göring, wurde mit Interviewanfragen überschüttet, und aufdringliche Pressefotografen stellten den Ehefrauen der Angeklagten nach. Ein AP-Foto zeigt den Journalisten Wes Gallagher, wie er nach der Urteilsverkündung aus dem Gerichtssaal rennt, um als Erster ein Überseetelefon zu erreichen. Die Konkurrenz hatte zur Folge, dass einige Berichterstatter in ihren Beiträgen heftig übertrieben. Vorgetäuschte Nachrichten, um der höheren Auflage oder der Propaganda willen, gelangten immer wieder an die Öffentlichkeit. Selbst ein Autor wie Alfred Döblin, der unter Pseudonym für die französische Besatzungsbehörde über den Prozess schrieb, gab gegenüber seinen Lesern vor, er sei im Gericht anwesend, obwohl er 1945/46 nicht in Nürnberg war.

Wes Gallagher rennt nach der Urteilsverkündung aus dem Gerichtssaal, 1. Oktober 1946

Das internationale Großereignis zog auch Geschäftemacher an, Verleger anglo-amerikanischer Medienunternehmen...

Erscheint lt. Verlag 16.2.2023
Zusatzinfo mit 31 Abbildungen
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
Schlagworte 1945 • Augusto Roa Bastos • Berichterstattung • Erich Kästner • Erika Mann • Gerechtigkeit • Holocaust • John Dos Passos • Journalismus • Kommunisten • Kriegsgräuel • Kriegsverbrechen • Markus Wolf • Martha Gellhorn • Nürnberg • Nürnberger Prozesse • Schloss • Schloss Faber-Castell • Schriftsteller • Schuld • Sühne • Willy Brandt • Xiao Qian
ISBN-10 3-406-79146-8 / 3406791468
ISBN-13 978-3-406-79146-8 / 9783406791468
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