Kapitel 1
Wilde Jagd
Die Straßen der feindseligen Stadt liegen dunkel und menschenleer vor mir. Es nieselt leicht. Ich ziehe die Kapuze meines Hoodies ins Gesicht und halte mich in der Deckung der Häuser. In diesem Stadtteil bin ich nicht gern gesehen, schon gar nicht nach Einbruch der Dämmerung. Und das nicht, weil ich mit meinen sechzehn Jahren zu jung für diese Gegend bin.
Der Grund, warum ich hier lieber niemandem begegnen sollte, ist einfach: Mein Blut ist dunkel. Das heißt nicht, dass es schwarz ist. Nein, es ist normales Blut, wie es jeder Mensch einmal gehabt hat. Aber seit SoMa den Welthunger besiegt hat, ist es selten geworden. Die meisten Leute ernähren sich jetzt von diesem künstlichen Zeug aus Soja und Mais und besitzen deshalb helles Blut, das an Kupfer erinnert.
SoMa spaltet die Gesellschaft in gut und schlecht. In lebenswert und Abschaum. In Somas, die von SoMa-Produkten leben, und Dunkelblüter wie mich, meine Eltern und eine Handvoll anderer Menschen dieser Stadt, die ihre Emotionen behalten wollen. Denn mit den Empfindungen ist das so eine Sache: Entweder ist man Soma und hat kaum welche, oder man ist Dunkelblut und Gefühle sind das Einzige, was einem bleibt. Sie machen uns letztendlich zu Ausgestoßenen, weil wir damit eine unberechenbare Bedrohung des gesellschaftlichen Lebens darstellen.
Was ich hier treibe? Ich bin auf dem Weg zu Eric, meinem Liebsten. Wir sind vor knapp drei Jahren ein Paar geworden, kurz bevor SoMa die Welt erobert hat. Er wohnt in einem schicken Viertel, weil er der Sohn des Bürgermeisters ist. Und der ist natürlich Soma.
Dadurch ist mein Vorhaben umso gefährlicher, denn das Bürgermeisteramt lenkt in diesen Tagen nicht nur die Geschicke einer einzelnen Stadt, sondern bedeutet viel Macht. Niemand steht mehr über dem Stadtoberhaupt. Das Land ist zersplittert in seine Städte und umliegenden Regionen, und deren jeweilige Regierungen bestimmen in ihren Gebieten.
Ich schleiche an einem kleinen, um diese Uhrzeit geschlossenen Lebensmittelladen vorbei, an dessen Eingangstür ein Schild hängt, wie es hier zuhauf zu finden ist: »Zutritt nur für Hellblüter«. An diesen Anblick habe ich mich schon gewöhnt, und er stört mich nicht, denn in den gängigen Supermärkten werden ohnehin bloß Lebensmittel aus SoMa angeboten.
Wir Dunkelblüter beziehen unsere Nahrung deshalb längst nicht mehr aus dem Handel. Wie andere auch ist meine Familie in den letzten Jahren zum Selbstversorger geworden. Wir wühlen in der toten Erde und versuchen, sie teilweise zu regenerieren, um uns von der mageren Ernte zu ernähren.
Während ich weiter an den Häuserwänden entlangschleiche, bleibt mein Blick an einem Zettel kleben, der an dem Laternenpfahl vor mir leicht im Wind flattert. Neugier treibt mich aus der Sicherheit der Häuserschatten zu dem Papier:
Die dunkle Seite erhebt sich! Der Untergrund schlägt zu.
Ich starre auf den Zettel und verliere mich einen Augenblick in meinen Gedanken. Der Untergrund. Davon habe ich gehört. Es gibt Gerüchte über diese Vereinigung von Dunkelblütern, die sich zusammengeschlossen haben, um gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu rebellieren. Dafür, dass bisher noch nichts geschehen ist, wird sie häufig in den Medien thematisiert und bringt den Unmut der Somas gegenüber uns Dunkelblütern so stark zum Schwelen, wie es ihr helles Blut zulässt. Doch bestimmt lauert der Untergrund in seinem Versteck und holt bei einer günstigen Gelegenheit zum Schlag aus. Ich weiß aber nicht, ob ich das gut finden soll. Vielleicht fehlt nur noch die gewisse Zutat, um das brodelnde Fass der Abneigung zum Überlaufen zu bringen. Andererseits wünsche ich mir, dass es mal so richtig knallt und wir den Somas zeigen, dass wir dieselben Rechte verdienen wie sie.
»Hey, du!«, hallt eine männliche Stimme hart und unfreundlich einige Meter hinter mir durch die dunkle, leere Straße.
Verdammt. Scheinbar habe ich meinen Gedanken zu lange außerhalb der sicheren Gebäudeschatten nachgehangen. Vielleicht habe ich mich auch zu auffällig verhalten, schließlich starre ich schon eine ganze Weile dieses Flugblatt an. Ich ziehe die Schultern hoch und setze mich in Bewegung. Bloß nicht reagieren.
»Hey!«, ertönt es wieder, diesmal dichter hinter mir. Ich höre Schritte, die sich eilig nähern. Trotzdem gehe ich einfach weiter und drehe mich nicht um. Ich tue so, als würde der Soma nicht mich meinen. Vielleicht lässt er mich dann in Ruhe, auch wenn die Chancen dafür eher schlecht stehen.
»Stehen bleiben!« Jetzt ist er nur noch ein paar Schritte von mir entfernt. »Wohnst du hier? Halte an, oder bist du ein Dunkelblut?«
Verflucht. Was nun? Stoppe ich, wird er mich ausfragen und meinen Blutnachweis verlangen. Und weil ich den nicht habe, kann ich mich darauf gefasst machen, von ihm zur nächsten Wache geschleppt zu werden. Was dann geschieht, mag ich mir gar nicht vorstellen. Nachweis fälschen? Unmöglich, denn der besteht nicht aus einem Fetzen Papier, sondern erfolgt mit kleinen Blutmessgeräten über die Haut, die an jeden Schlüsselbund passen. Einige Somas tragen so eines bei sich.
Ich könnte mich natürlich wehren, doch das hätte noch schlimmere Folgen, die wahrscheinlich sogar Familie und Freunde treffen würden. Ich könnte versuchen zu flüchten, aber eine Chance hätte ich nur dann, wenn kein weiterer Soma auftaucht.
Ich frage mich, ob er zu den SoMa-Schutz-Truppen gehört oder lediglich ein äußerst gewissenhafter Soma ist. Die Polizei, wie sie es früher einmal gegeben hat, ist durch die sogenannte SoMa-Sicherheit abgelöst worden. Ist es nicht irre, eine militärische Sicherheitseinrichtung nach einem Lebensmittel zu benennen? Doch ob SoMa-Sicherheit oder nicht macht am Ende keinen Unterschied. Die Situation kann für mich brenzlig werden.
Ich höre, wie die Schritte des Mannes hinter mir beschleunigen. Mist. Instinktiv fange ich an zu rennen. Damit ist ihm natürlich klar, was ich bin.
Dunkelblut!
Ich haste um die nächste Straßenecke und laufe ziellos weiter. Doch ich bin nicht schnell genug. Ein Stoß trifft mich von hinten, ich verliere den Halt und stürze auf den Boden.
»Aaaah!« Meine Wange streift den Asphalt und ich stöhne leise auf.
Die Eier, verdammt. Eric braucht die Nährstoffe. In diesem Augenblick bin ich froh, sie hart gekocht zu haben, denn dann sind Risse in der Schale nicht von Bedeutung. Trotzdem hoffe ich, dass die wertvollen Hühnereier in dem kleinen Rucksack auf meinem Rücken keinen allzu großen Schaden genommen haben. Ich rapple mich auf und stehe jetzt dem Mann gegenüber, dem es so wichtig gewesen ist, ein einzelnes Dunkelblut zu stellen.
»Was machst du hier, Mädchen? Hast du einen Passierschein? Komm mir nicht zu nahe, vielleicht bist du verseucht!« Der Soma wischt sich die Hände mit einem Desinfektionstuch sauber. Dabei sieht er mich nicht mal an.
Dunkles Blut gilt gemeinhin als unrein. Wir sind Krankheitsüberträger und Seuchenherde. Ungeziefer, auch wenn das öffentlich niemand ausspricht. Obwohl das Superfood gegen alle bekannten Erreger schützt und wir den Somas daher eigentlich nichts anhaben können, bleibt die unterschwellige Angst vor neuen Krankheiten, die das genmanipulierte Zeug vielleicht doch nicht beherrscht. Das wird zumindest gern in den Medien verbreitet und ist ein Grund, warum sie uns meiden, verabscheuen und zu bekehren versuchen.
»Ja«, stottere ich und fummle an meiner Hosentasche. Natürlich hab ich keinen Schein, aber ich brauche Zeit, um mir etwas einfallen zu lassen. Dann werfe ich einen Blick an dem Typen vorbei, mache ein bis ins Mark erschüttertes Gesicht und rufe laut: »Oh, verdammt! Da drüben braut sich was zusammen!«
Was auch immer sich da zusammenbrauen könnte, es funktioniert. Der Mann dreht sich tatsächlich um und ich sehe zu, dass ich Land gewinne. Somas sind so leicht zu beeinflussen. Ich höre noch sein Fluchen, nachdem er den Bluff durchschaut hat,...