Das Haus Zamis 57 (eBook)
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-4121-7 (ISBN)
Das Schiff kam eine Viertelstunde zu spät. Die widrigen Windverhältnisse an diesem Morgen hatten es aufgehalten.
Thekla Zamis ging sie an Bord, und das Schiff legte wieder ab. Sie stand an der Reling und sah zu, wie sich das Festland immer weiter entfernte. Noch eine Stunde, und sie würde das Ziel ihrer Reise erreicht haben.
Die Hallig Nordig präsentierte sich ihr so, wie sie es sich vorgestellt hatte: nebelumhüllt und frostig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass hier jemals die Sonne schien. Umso besser. Ihre Schwester Carola schien sich genau den richtigen Ort ausgesucht zu haben! Ein paar Möwen kreischten, das Nebelhorn der Fähre heulte ein paarmal auf, dann herrschte Totenstille. Die anderen Passagiere waren entweder abgeholt worden oder zielstrebig in dem Nebel verschwunden. Sie alle schienen zu wissen, wo sie hingehörten.
Nur sie nicht.
Selten hatte sich Thekla verlassener gefühlt. Aber sie hatte es so gewollt. Sie war am Ende der Welt angelangt ...
1. Kapitel
»Die ist schon alt«, sagte er schließlich. »Wer weiß, wie lange sie vorher im Schlick gelegen hat. Der Schmuckring könnte kostbar sein – echtes schweres Silber.«
Er rieb daran. »Der Ring ist sogar verziert. Warte mal ... Hier sind Schriftzeichen drauf ...« Sven beugte sich vor. »Sieht aus wie eine Zeichnung von einem Fisch oder so.«
Ein plötzlicher Windstoß ließ Meike frösteln. »Lass uns das Ding wieder wegwerfen!«, sagte sie zweifelnd.
Sven sah sie erstaunt an. »Was ist denn los mit dir?«
»Ich weiß auch nicht, irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl ...«
»Kommt nicht infrage.« Mit einer raschen Bewegung steckte Sven die Pfeife in seine Jackentasche. Fast, als wollte er ganz sichergehen, dass Meike sie ihm nicht wieder entriss.
Am Abend überraschte Meike Sven, wie er in der Gästeküche saß und den Fund vorsichtig mit Wasser und Wattestäbchen säuberte. Sie setzte sich zu ihm und sah ihm unbehaglich zu. Den Pfeifenkopf hatte er inzwischen so weit von Schlick gesäubert, dass die Schnitzereien darauf besser zu sehen waren.
»Was stellen sie eigentlich dar?«, fragte Meike und kämpfte gegen ihren Widerwillen an. Entfernt erinnerten sie die Schnitzereien an polynesische Statuen, wie sie sie von Aufnahmen kannte, die man auf den Osterinseln gemacht hatte. Außerdem glaubte sie einige Tentakel zu erkennen.
»Keine Ahnung, vielleicht irgendwelche heidnischen Fischgötter«, mutmaßte Sven. »Die Arbeit ist recht grob ausgeführt – fast wie ein Holzschnitt. Interessanter erscheinen mir die Zeichen auf dem Silberring. Einige davon könnte man als Buchstaben deuten, andere sind nur verschlungene Hieroglyphen ...«
»Glaubst du denn, dass sie schon lange dort im Schilf lag?«
Sven runzelte die Stirn. »Ihr Zustand lässt jedenfalls darauf schließen. Möglicherweise ist sie freigespült worden, oder irgendein Vogel ist auf das Glitzern des Silberrings aufmerksam geworden und hat sie in das Schilf transportiert.«
»Hi Mom, hi Paps!«, ließ sich plötzlich eine Stimme hören. Tanja, ihre dreizehnjährige Tochter kam mit langen, wehenden Haaren ins Zimmer gestürmt. Ihre Backen glänzten rot.
»Na, wie war's heute im Pferdestall?«, fragte Meike. Irgendwie ahnte sie, dass etwas Besonderes vorgefallen war.
»Ich glaube, ich habe mich heute zum ersten Mal verliebt«, sagte Tanja. »Ich meine, richtig verliebt!«
»Erzähl schon!«, drängte Meike. Die Idee, hier Urlaub zu machen, schien sich zumindest für Tanja auszuzahlen. Während sie und Sven tagsüber endlich mal wieder Zeit zum Lesen hatten und bei langen Spaziergängen rund um die Hallig seit Langem wieder ernsthaft miteinander ins Gespräch kamen, konnte Tanja ihrem Hobby – Pferde – frönen.
»Er heißt Ole, ist sechzehn und gestern hier angekommen.«
»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte Sven und wandte sich wieder seinem Fundstück zu.
Nachts kam Sturm auf. Er rüttelte an den Fensterläden des kleinen Zimmers, das Sven und Meike für eine Woche gemietet hatten. Tanja schlief gleich nebenan in einem Einzelzimmer. Einmal krachte etwas so laut von draußen gegen das Fenster, dass beide kerzengerade in ihren Betten standen. Als Sven das Fenster öffnete und draußen nachschaute, war nichts zu sehen. Selbst der Sturm hatte sich gelegt.
Am nächsten Morgen fühlten sich beide wie gerädert. Tanja hatte nichts gehört. Sie hatte wie ein Stein geschlafen, wie sie behauptete. Erst der Kaffee brachte Sven und Meike wieder auf die Beine. Sie nahmen das üppige Frühstück wie jeden Morgen in dem gemütlichen Café ein, das gleich gegenüber ihrer Pension auf sie wartete.
Meike gönnte sich einen Extralöffel der köstlichen, hausgemachten Erdbeerkonfitüre, die sie auf dem ofenwarmen Brötchen verteilte, während sie auf den Sturm zu sprechen kam. »Ist doch komisch«, sagte sie zwischen zwei Bissen, »dass dieser Sturm so plötzlich wieder aufhörte diese Nacht.«
»Was ist daran merkwürdig? Auf einer Hallig schlägt das Wetter öfter Kapriolen.« Mit der Messerspitze köpfte Sven geschickt sein Frühstücksei und gab einen zufriedenen Laut von sich. Es hatte genau die richtige Konsistenz – nicht zu weich und nicht zu hart. »Unsere Zimmerwirtin ist wirklich ein Genie.«
»Lenk nicht ab, Sven. Dieser Lärm heute Nacht war ebenso merkwürdig.« Plötzlich fiel ihr etwas ein: »Wenn es ein Ast gewesen ist, der gegen das Fenster geknallt ist, müsste er doch noch dort draußen liegen. Wir könnten nachsehen und ...«
»Wollten wir nicht heute Morgen nach Landsende wandern?«, unterbrach sie Sven, und irgendwie vergaßen sie beide darüber, sich weiterhin über die vergangene Nacht den Kopf zu zerbrechen.
Wer auf einer Hallig spazieren geht, der hat immer einen herrlichen Rundumblick. Die langen Wege führen geradeaus, das Meer ist meistens in Sichtweite und ein paar der Warften ebenfalls. Bei guter Sicht sieht man andere Spaziergänger schon kilometerweit. Manchmal täuscht man sich: Dann entpuppen sich die vermeintlichen Menschen als Pfähle in der Landschaft. Starr und knorrig gen Himmel gerichtet wie mahnende Zeigefinger.
An dem Spätnachmittag, an dem Sven und Meike den unheimlichen Spaziergänger das erste Mal bemerkten, zogen bereits die ersten Nebelschwaden über die Hallig hinweg. Der Fußgänger war vielleicht einen Kilometer weit entfernt und stand regungslos da. »Was der wohl da macht«, wunderte sich Meike. Irgendetwas an seiner Gestalt flößte ihr einen leichten Schauder ein.
»Was soll er schon machen? Er steht dort und beobachtet ein paar Ringelgänse«, sagte Sven.
Die Gestalt trug einen langen schwarzen Mantel, der im Wind flatterte. Fast wirkte sie wie eine Vogelscheuche. Meike drückte sich enger an Sven. »Lass uns weitergehen. Mir wird kalt!«
Sie eilten ihrer Pension zu.
Als sich Meike noch einmal umdrehte, war die schwarze Gestalt verschwunden.
In dieser Nacht rüttelte der Sturm noch mehr als in der Nacht zuvor an den Fensterläden. Als Meike erwachte und sich an Sven kuscheln wollte, stießen ihre Hände nur auf ein leeres Bett. Irritiert tastete sie nach dem Lichtschalter. Der warme Schein tunkte das kleine Zimmer in rötliches Licht. Von Sven war nichts zu sehen.
Wahrscheinlich ist er nur mal eben zur Toilette, vermutete Meike, und wartete ab. Heftiger Wind ließ die Fensterläden klappern. Etwas strich von draußen darüber – wahrscheinlich die Zweige der Linde, die ihr Astgeflecht direkt bis vors Fenster spann. Meike verglich das Geräusch mit dem Kratzen langer Fingernägel, und eine Gänsehaut zog sich über ihren Körper. Der Sturm orgelte und heulte auf – wie ein Chor schauriger Geisterstimmen, die von der See herübergeweht wurden.
Schließlich hielt es Meike nicht mehr im Bett. Sie stand auf und begab sich auf den Korridor. Sie bemühte sich, sehr leise zu sein, denn es hatte sich noch ein weiteres Ehepaar in der Pension eingemietet. Die Dielen knackten unter ihren nackten Füßen. Jetzt erst fiel ihr auf, wie still es hier war. Von dem Sturm war nichts zu hören. Vor sich sah sie einen schmalen Lichtschlitz. Was machte Sven um diese Zeit in der Küche?
Als sie die Tür aufstieß, machte er ein fast furchterfülltes Gesicht.
»Mein Gott, hast du mich erschreckt!«, fuhr er sie an, nachdem er Meike erkannt hatte. »Was machst du auch mitten in der Nacht hier allein in der Küche?«
»Ich konnte nicht schlafen«, druckste er herum, aber es war offensichtlich, dass es nur eine Ausrede war. Jetzt sah Meike, dass er die Pfeife in der Hand hielt. Er hatte sie instinktiv verbergen wollen. Seine Faust schloss sich um den Pfeifenkopf, sodass nur das Mundstück hervorblickte.
Er sah ihren Blick. Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff er das Wort: »Diese Pfeife lässt mir einfach keine Ruhe. Ich wollte sie mir noch einmal anschauen, weil ich dachte, ich könnte die Schriftzeichen entziffern. Weil ich dich nicht wecken wollte, bin ich in die Küche gegangen.«
Meike kniff die Augen misstrauisch zusammen. »Warum glaubst du, die Schrift auf einmal lesen zu können? Du bist ja völlig vernarrt in dieses widerliche Ding!«
»Nenn es, wie du willst. Jedenfalls ist es schon faszinierend ...«
»Was?«, bohrte Meike nach, als er nicht fortfuhr. »Was ist so faszinierend daran?«
Nachdenklich drehte Sven die Pfeife in den Händen. »Als ich sie vorhin aufnahm, war sie warm – so als hätte vor nicht langer Zeit jemand aus ihr geraucht.«
»Du spinnst!«, entfuhr es Meike.
»Fühl selbst!«
Obwohl Meike einen immer größer werdenden Ekel vor dem Ding verspürte, fasste sie kurz an das schwarze Holz. Es war tatsächlich warm. Ihre Hand zuckte zurück.
»Vielleicht, weil du sie die...
Erscheint lt. Verlag | 20.12.2022 |
---|---|
Reihe/Serie | Das Haus Zamis |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • alfred-bekker • Bastei • Bestseller • Coco Zamis • Dämon • Dämonenjäger • dan-shocker • Deutsch • Dorian Hunter • eBook • E-Book • eBooks • Extrem • Fortsetzungsroman • Frauen • Geisterjäger • grusel-geschichten • Gruselkabinett • Grusel-Krimi • Grusel-Roman • Horror • Horror-Roman • horrorserie • Horror-Thriller • john Sinclair • Julia-meyer • Kindle • Krimi • Kurzgeschichten • larry-brent • Lovecraft • Macabros • Männer • morland • neue-fälle • Paranomal • professor-zamorra • Professor Zamorra • Psycho • Roman-Heft • Serie • Slasher • sonder-edition • spannend • Spin-Off • Splatter • Stephen-King • Terror • Thriller • Tony-Ballard • Top • Zaubermond |
ISBN-10 | 3-7517-4121-6 / 3751741216 |
ISBN-13 | 978-3-7517-4121-7 / 9783751741217 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,4 MB
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich