Schärensturm (eBook)
528 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-27482-5 (ISBN)
In einer verschneiten Winternacht verschwindet an der schwedischen Schärenküste ein vierjähriges Mädchen spurlos aus dem Ferienhaus ihrer Familie. Die Eltern der kleinen Ellie Svensson sind außer sich vor Sorge, Polizei und Einwohner des Ortes organisieren sofort die Suche. Auch für Kommissarin Sofia Hjortén wird der Fall zur emotionalen Zerreißprobe, ist sie doch selbst hochschwanger. Kurz darauf verschwindet ein weiteres Mitglied der Familie Svensson. Während der nordische Winter unbarmherzig tobt, ermittelt Sofia fieberhaft und stößt auf eine düstere Wahrheit ...
Lina Areklew, geboren 1979 in Stockholm, wuchs an der schwedischen Höga Kusten auf und kennt die Küstenregion, die als Schauplatz ihrer Krimireihe um die Kommissarin Sofia Hjortén dient, wie ihre Westentasche. Sie lebt auf einem kleinen Bauernhof in Örnsköldsvik und in Stockholm.
1.
Fredrik sah auf seinen Teller und stellte dankbar fest, dass Inga, die im Laufe der Jahre wie eine Ersatzmutter für ihn geworden war, sich wieder sehr bemüht hatte, um alle seine Bedürfnisse zu erfüllen. Kartoffel- und Topinamburpüree mit Elchsteak. Fredriks Stück war bereits kaufreundlich in dünne Streifen geschnitten, obwohl die Kieferverletzung, die er erlitten hatte, seit Langem geheilt war. Von außen konnte man fast nichts mehr erkennen, nur noch eine undeutliche Narbe unterhalb des einen Ohres. Er hatte eigentlich vor langer Zeit aufgehört, etwas zu essen, das auf vier Beinen lief, doch Inga ignorierte das und behauptete mit Entschlossenheit, ein erwachsener Mann bräuchte anderes Protein als nur Bohnen und ab und an irgendwelche armen Fische.
Sie saßen in Ingas und Hans’ Küche in der Ålstensgata, nur einen Katzensprung von dem Haus entfernt, in dem Fredrik zusammen mit Mama, Papa und Niklas gelebt hatte. Jetzt wohnte eine andere Familie dort. Der kleine Vorgarten stand voller Schlitten und Porutscher. Irgendwie fühlte sich das gut an. Als hätte sich das Glück, das er empfunden hatte, als er dort lebte, auf die nächste Familie vererbt.
Er war zu der neuen Wohnung seines besten Freundes Philip in Bromma gefahren, um sein Auto abzuholen, doch weder Philip noch das Auto waren dort gewesen. Als er dann bei Philips Eltern Hans und Inga reinschaute, um zu sehen, ob sein Freund vielleicht dort war, hatten sie ihn sofort eingefangen. Inga verpasste niemals eine Gelegenheit, ihn zu einer Mahlzeit einzuladen. Das Abendessen sei schon fertig, und er müsse ja sowieso etwas essen, hatte sie argumentiert. Und so saß er jetzt hier.
Hans nickte vielsagend in die Richtung von Fredriks Teller und wandte sich dann seinem eigenen Steak zu.
»Du solltest mal mit auf die Jagd gehen, Fredrik«, verkündete er und strahlte über das ganze Gesicht. »Nichts fühlt sich so gut an, wie die Spannung im Körper, wenn man an einem frühen Morgen da draußen sitzt und wartet. Der Nebel liegt wie eine milchige Wolke über den Wiesen, alle Laute des Waldes sind zwischen den Bäumen glasklar zu hören, und dann jeden Moment …«
Hans schwang die Gabel über den Esstisch, blickte in die Ferne und verlor sich in seiner eigenen poetischen Beschreibung der Wunder der Jagd.
»Jeden Moment kann ein Dreihundert-Kilo-Tier auf seinen majestätisch langen Beinen zwischen den Bäumen auftauchen.«
Inga streckte sich genervt über den Tisch und wischte ein paar Tropfen Pfifferlingssoße weg, die von der Gabel ihres Mannes getropft waren.
»Ich glaube nicht, dass sich Fredrik für die Jagd interessiert«, sagte sie mit milder Schärfe in der Stimme, um Hans von seiner mentalen Waldwanderung zurückzuholen.
»Nein, das ist nicht für jeden was, das steht fest. Man darf nicht nervenschwach sein, wenn man dasitzt und wartet, auf keinen Fall.«
Inga sah ihn streng an.
»Also, so meinte ich das nicht. Ich weiß, dass du nicht nervenschwach bist, wenn man bedenkt, was du alles durchgemacht hast. Und Waffen verlocken dich wahrscheinlich auch nicht so sehr, oder?«
Fredrik lachte freudlos und kratzte sich die Bartstoppeln. Sein dunkelbraunes Haar war frisch geschnitten, aber er hatte heute Morgen vergessen, sich zu rasieren.
»Nein, Waffen verlocken mich nicht.«
Nach der Katastrophe im letzten Sommer war das so ziemlich das Letzte, was ihn verlockte. Die Schusswunde im Bauch war zwar ebenso gut geheilt wie der Kiefer, doch die seelischen Narben würden für immer bleiben. Er hatte Schlafstörungen, und die meisten Nächte schlief er gar nicht. Zu den Albträumen, unter denen er bereits vorher gelitten hatte, hatten sich nun Rückblenden gesellt, die ihm immer wieder in Erinnerung riefen, wie ihn ein Schuss genau über dem Blinddarm getroffen hatte. Hätte ihn der Helikopter nicht zur Not-Operation ins Krankenhaus von Örnsköldsvik geflogen, dann wäre er gestorben. Fredriks Gedanken wanderten zu Sofia Hjortén. Sie war eine von denen, die dort gewesen waren und sich um ihn gekümmert hatten. Ohne sie hätte er nicht überlebt.
»Wie läuft es mit Ida?«
»Gut.«
Inga zog die Augenbrauen hoch, und ihm wurde klar, dass sie auf mehr Informationen wartete.
Die Logopädin Ida Niemi, die ihm nach dem Hammerschlag gegen den Kiefer geholfen hatte, wieder sprechen zu lernen, hatte Wunder vollbracht. Er konnte kauen und lächeln, und die steife Gesichtsmuskulatur und das lallende Sprechen hatten sich nach unzähligen Artikulations- und Kieferübungen verbessert. Er selbst war es bereits nach ein paar Malen leid gewesen, aber Ida hatte ihn stetig ermahnt. Ein motivierter Patient hat die größten Chancen auf Erfolg, das war ihr Motto, und sie hatte alles getan, was in ihrer Macht stand, um ihn zu motivieren. Jetzt war er im Prinzip völlig wiederhergestellt. Einziges Überbleibsel war ein knackendes Geräusch im Kiefer, wenn er gähnte.
Ida war als emotionale Unterstützung auf der ganzen langen Reise zurück in ein normales Leben für ihn da gewesen. Sie waren Freunde geworden, und als er nicht mehr ihr Patient war, hatte sich die Freundschaft zu Ingas und Hans’ unverhohlener Freude zu etwas mehr entwickelt.
Hans hob die Gabel vielsagend in seine Richtung, was noch mehr Flecken auf dem Tischtuch verursachte.
»Sie ist eine Tolle, die Ida. Eine richtige Perle. Auf die musst du aufpassen.« Er stopfte das Kartoffelstück, das auf der Gabel saß, in den Mund und sprach ungeniert kauend weiter.
»Wir wollen Enkelkinder, Fredrik. Und unser eigener Sohn wird wahrscheinlich keine produzieren.«
Inga runzelte skeptisch die Augenbrauen, wandte sich dann aber Fredrik zu und lächelte. Enkelkinder waren kein neues Gesprächsthema, und Fredrik wusste, dass es etwas war, dass auf Ingas Wunschliste ganz weit oben stand. Dennoch war ihm das Thema unangenehm. Er und Ida hatten noch nicht einmal Sex gehabt. Sie umarmten sich, saßen umschlungen auf dem Sofa, hatten den letzten Schritt zu vollkommener körperlicher Nähe aber noch nicht getan, von dem er wusste, dass sie sich danach sehnte. Er war noch nicht bereit. Weder körperlich noch gefühlsmäßig.
Er war Ida dankbar, weil sie ihn nicht drängte. Sie war eine warmherzige und offene Person. Unkompliziert. Sie hatte es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht zu kontrollieren, dass er seine Übungen machte und dass es ihm gut ging. Sowie sie bei der Arbeit eine Minute Zeit hatte, rief sie an oder schickte eine SMS, um zu hören, wie es ihm ging. Fredrik schätzte diese Zerstreuung. Die Stille in seiner Wohnung ging ihm schon seit Langem auf die Nerven, und jede sich bietende Gelegenheit, die Gedanken abzuschalten, war ihm willkommen.
»Hast du was von der Arbeit gehört?«, fuhr Inga fort und schenkte sich noch etwas Wein nach. Hans, der offensichtlich schon vor Fredriks Ankunft ein Glas getrunken hatte, musste sein hingestrecktes Glas wieder zurückziehen. Fredrik bot sie erst gar keinen Wein an.
»Ja, wir haben eine Menge kommuniziert«, antwortete er ausweichend, doch so leicht ließ sich Inga nicht abschütteln.
»Und?«
Die Ärzte waren mit Krankschreibungen nicht knauserig gewesen. Er musste sich keinen Stress machen, wieder zur Arbeit zurückzukehren. Und worauf sollte er sich dabei auch freuen? Es war nicht gerade sein Traum, Tag um Tag hinter einer Glasscheibe zu sitzen. Einmal da hinstellen bitte, die Füße auf die gelben Markierungen. Jetzt in die Kamera schauen, unterschreiben. Sie können den Pass in einer Woche abholen. Natürlich konnte er so seine Rechnungen bezahlen, aber nachdem er dem Tod zum zweiten Mal nur knapp von der Schippe gesprungen war, hatte Fredrik angefangen, darüber nachzudenken, dass er es sich selbst vielleicht schuldig war, wirklich zu leben und nicht nur zu existieren.
Er wechselte das Thema. »Geht ihr dieses Jahr nicht Skifahren?«
Aber Inga biss nicht an. »Wirst du deinen alten Job zurückbekommen?«
Hans, der eben den letzten Bissen verzehrt hatte, mischte sich in die Diskussion ein.
»Lass ihn in Ruhe, Inga! Um Gottes willen, er ist doch ein erwachsener Mann. Er kann sich selbst versorgen.«
Inga lächelte versöhnend, warf Fredrik aber einen Blick zu, der deutlich machte, dass das nicht das letzte Gespräch zu diesem Thema war.
»Wo wir gerade davon reden«, begann Hans und rülpste diskret in die Serviette. »Hast du was von unserem Sohn gehört?«
Philip klappte die Motorhaube auf und starrte auf die Plastikplatte, die den Motor verschloss. Volvo. Fünf bekannte Buchstaben, aber soweit er sehen konnte, nicht einmal der kleinste Haken zum Öffnen. Wie sollte er den Fehler finden, ohne den Motor sehen zu können? Unter dem Plastik röhrte es beunruhigend. Er wünschte, er wäre einer von denen, die sich auf den Bauch legen und unter das Auto gucken und sofort feststellen, welches von all den Teilen nicht funktioniert. Doch das war nicht der Fall. Er brauchte einen Mechaniker oder im schlimmsten Fall einen Leihwagen.
Zum Glück hatte er es fast bis zur Tankstelle geschafft, die mitten im Ort lag. Jetzt ließ er den Wagen in einer Schneewehe am Straßenrand stehen und kämpfte sich über den nicht geräumten Zebrastreifen. Der Schnee fiel so dicht, dass er kaum etwas sehen konnte, und er musste an Astrid Lindgrens Geschichte von Michels und Alfreds Schneefahrt nach Mariannelund denken. Es war frustrierend, nicht weiterfahren zu können, da es nur noch anderthalb Stunden bis zu seinem Ziel waren.
Er hoffte, dass sie sich freuen und sie beide sich wieder vertragen würden. Dass sie die Geste romantisch finden würde, auch wenn er...
Erscheint lt. Verlag | 20.4.2023 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Sofia Hjortén | Ein Fall für Sofia Hjortén |
Übersetzer | Susanne Dahmann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | I mörkret |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • eBooks • I mörkret • Johanna Mo • Krimi • Kriminalromane • Krimi neuerscheinung 2023 • Krimis • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Nordische Krimis • Schweden • Sofia Hjortén • Viveca Sten |
ISBN-10 | 3-641-27482-6 / 3641274826 |
ISBN-13 | 978-3-641-27482-5 / 9783641274825 |
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