Aus dem Nebel (eBook)

Roman

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
496 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-29482-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aus dem Nebel -  Scott Carson
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Journalist Nick Bishop soll einen Artikel über das Startup Clarity, Inc. schreiben, das eine Mindfulness-App veröffentlichen will. Er kehrt in seine Heimatstadt in Maine zurück und quartiert sich im Sommerhaus seiner Familie ein. Beim Interview lässt sich Nick von Firmengründer Bryce überreden, die App zu testen. Nach Atemübungen und weißem Rauschen kommen die Schlaflieder: eine traurige Frauenstimme singt eine verstörende Ballade. Das Lied funktioniert, Nick fällt sofort in einen tiefen Schlaf. Doch mit dem Schlaf kommen die Albträume, und schon bald kann Nick nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden. Ihm wird klar, dass Clarity, Inc. ihn gezielt als Testperson ausgewählt hat - und dass er das Geheimnis des Gesangs ergründen muss, wenn er sein Leben retten will ...

Scott Carson ist das Pseudonym eines »New York Times«-Bestsellerautors und Drehbuchschreibers. Er lebt in New England an den Ufern eines Stausees.

1

Ein Träumer war ich nie.

Ich meine, im allerbuchstäblichsten Sinne. Bildlich gesprochen habe ich natürlich Träume. Ehrgeiz zumindest. Bin ich Optimist? Bis zu einem gewissen Grad, auch wenn in meinem Beruf – Journalismus – eher ein gewisser Zynismus hilfreich ist. Wenn ich sage, dass ich nie ein Träumer war, dann meine ich damit nachts, in den Tiefen des Schlafs.

Keine Träume. Ich hatte schlicht keine. Weder schöne noch schlechte, weder glückliche noch traurige.

Ich schlief trotzdem gut. Ja, ich habe gut geschlafen. Schwer vorstellbar heutzutage, aber ich weiß, dass es einmal so war.

Die Leute reden ständig über ihre Träume. Ich war ein paar Jahre mit einer Frau zusammen, die morgens aufwachte und mir die seltsamen, abenteuerlichen Geschichten erzählte, die sie nachts erlebt hatte. Manchmal war ich in Versuchung, so zu tun, als ob ich wüsste, wovon sie sprach. Träumen scheint doch etwas ganz Normales zu sein, oder? Etwas, das wir eigentlich alle tun sollten. Und doch wissen wir trotz all unserer Forschungen und psychologischen Theorien wenig über die Mechanik der Träume. Wir vermuten, dass Träume mit dem Gedächtnis zusammenhängen, dass wir im REM-Schlaf unsere Erinnerungen archivieren. Wir glauben, dass Träume auf verdrängte Gefühle hinweisen oder vielleicht Krankheiten ankündigen, die noch keine körperlichen Symptome ausgebildet haben. Warnungen. Botschaften von den Toten. Von Gott. Wir glauben all diese Dinge und noch mehr, aber das Einzige, was wir sicher wissen, ist: Bis heute haben wir nicht vollständig verstanden, was Träume sind. Sie kommen und gehen.

Bei den meisten Menschen zumindest.

Bis ich in jenem Herbst nach Hammel, Maine, zurückkehrte, nachdem ich bei meiner Zeitung entlassen worden war, schlief ich tief und ungestört. Vielleicht nicht lang, aber genug. Fünf oder sechs Stunden waren schon eine Menge.

Whitney, meine Ex, träumte jede Nacht, und mein traumloser Schlaf schien sie zu beunruhigen. Als ich damals aus Afghanistan zurückkehrte, wo ich eine Zeit lang als eingebetteter Korrespondent unsere Truppen bei Rückzugsbewegungen begleitet hatte, erwartete sie, glaube ich, Albträume, eine posttraumatische Belastungsstörung, Schweißausbrüche. Nichts dergleichen stellte sich ein. Die Bilder aus dem Kriegsgebiet, die mich heimsuchten, waren – und sind – schlicht und einfach Erinnerungen.

Einmal bat sie mich, ihr zu erklären, wie sich ein Schlaf ohne Träume anfühlt. Wir lagen im Bett in unserer Wohnung in Tampa, das Fenster stand offen, und ein schwüler Frühlingswind wehte durch die Insektengitter herein. Auf den Nachttischen wurden die Kaffeetassen kalt: ein geruhsamer Samstagmorgen. Sie hatte mir gerade von dem letzten Traumspektakel berichtet, das sie Schlaf nannte, und kam zu der Frage zurück, ob ich in jener Nacht auch geträumt hätte.

»Möglicherweise«, antwortete ich. »Ich erinnere mich bloß nicht an meine Träume, das ist alles. Ich bin nicht wie du.«

»Jeder Mensch erinnert sich an irgendetwas aus seinen Träumen«, erwiderte sie und strich das dunkelblonde Haar zurück, das ihr übers Gesicht gefallen war.

»Frag mich das nächste Mal vor dem Aufwachen«, sagte ich. Ein fader Witz, den ich nur machte, um das Thema zu wechseln. Sie hatte im Nebenfach Psychologie studiert und spekulierte gern über die Bedeutung von Träumen, hörte gern meine Meinung darüber, was ihr Unterbewusstsein oder ihr Unbewusstes ihr mitteilen wollte. Ich glaube, das war einer der Gründe, warum sie sich nicht mit der Leere in den Archiven meiner Nächte abfinden konnte – es gab darin nichts zu analysieren.

»Also, wie fühlt es sich an?«, fragte sie.

»Wie es sich anfühlt, nicht zu träumen?«

Sie nickte. Wieder fiel das Haar über ihr Gesicht, wieder strich sie es zurück. Whitney und ihr Haar führten jeden Morgen Krieg und sie kapitulierte stets als Erste. Aber am Samstagmorgen wogte die Schlacht oft eine ganze Weile hin und her.

»Es fühlt sich überhaupt nicht wie irgendwas an«, sagte ich.

»Komm schon, Schreiberling. Das kannst du besser. Du schläfst ein, du wachst auf, und es fühlt sich an wie …«

Sie ließ den unvollendeten Satz in der Luft stehen und wartete darauf, dass ich ihn mit etwas ergänzte, was die Sache erklärte. Ich merkte, dass sie es ernst meinte, also versuchte ich, eine ehrliche Antwort zu geben.

»Schwärze«, sagte ich. »So einfach ist das. Die Welt ist schwarz, und dann krieche ich aus der Schwärze heraus – gleite heraus, wenn kein Wecker klingelt –, und die Welt ist wieder hell.« Ich spürte ihre Enttäuschung und zuckte die Achseln. »Ich habe mein Bestes gegeben. Tut mir leid.«

»Das hört sich traurig an«, sagte sie und klang dabei so unglücklich, dass ich lachen musste.

»Wenigstens wache ich wieder auf«, sagte ich und beugte mich zu ihr hinüber, um sie zu küssen. »Besser als die Alternative.«

Sie zog eine Augenbraue hoch und sah mich mit einem ironisch prüfenden Blick an. »Irgendetwas muss doch nachts hinter dieser Stirn vorgehen. Es muss einfach.«

»Tagsüber meinst du dasselbe und auch da irrst du dich.«

»Falsch. Ich habe nie behauptet, dass dein Gehirn tagsüber aktiv ist.« Sie stützte sich auf einen Ellenbogen auf und sah mich forschend an. »Versprichst du mir, dass du sie mir nicht verschweigst?«

»Dass ich meine Träume nicht verschweige?«

Sie nickte. »Ich will wissen, was du träumst. Selbst wenn du jede Nacht von der Zicke aus Chicago träumst, mit der du damals zusammen warst …«

»Das ist jetzt nicht nett.«

»Ich will es wissen. Oder nein, sag mir nicht, wenn du von ihr träumst. Mach irgendetwas Interessanteres aus ihr, bitte.«

Ich lachte, und sie stimmte in das Lachen ein, aber dann erlosch ihr Lächeln. »Wenn du dich erinnerst, sagst du es mir, ja, Nick? Selbst wenn es schlechte Träume sind.«

»Ich werde es dir sagen«, antwortete ich, und in jenem Moment meinte ich es so.

Wirklich.

Und mir war auch klar, dass es nicht meine buchstäbliche Unfähigkeit zu träumen war, die sich wie eine Mauer zwischen uns schob. Doch als der Moment kam und wir uns trennten, musste ich unwillkürlich daran denken. Ich erinnerte mich an die Mischung aus Misstrauen und Besorgnis in ihrem Blick, als sie jene Fragen stellte, erinnerte mich, wie nachdrücklich sie darauf bestanden hatte, dass jeder Mensch irgendwann irgendetwas träumt, und ich fragte mich, was sie in meinen Augen gesehen hatte, als ich darauf beharrte, dass ich eine Ausnahme sei. Ob sie dort etwas gesehen hatte, das ihr Angst einflößte.

Unsinn, oder? Es war gedankenloses Geplauder gewesen, in einer Liebesbeziehung, die schlicht an ihr Ende gelangt war. Zwischen uns war eine Kluft entstanden, und dann tut man das, was man in einer festen Beziehung in einer solchen Situation tut: Man geht auf den Abgrund zu, wägt ab zwischen dem Risiko und dem, was einen auf der anderen Seite erwartet, und dann trifft man seine Entscheidung: Springt man oder tritt man den Rückzug an?

Sie hatte sich zurückgezogen und war andere Wege gegangen. Als ich das letzte Mal etwas von ihr hörte, war sie mit einem Mann zusammen, der ein Segelboot besaß, und sie überlegten, ein Jahr frei zu nehmen und die Welt zu umsegeln, ganz ungebunden.

Vermutlich hatte der Typ Träume, die einen ergiebigen Gesprächsstoff abgaben.

Jedenfalls besser als Schwärze.

Ich weiß nicht, ob das glückliche Paar je die Anker gelichtet hat. Whitney und ich verloren uns aus den Augen, wie das so geht. Nur, dass ich mir nicht sicher bin, ob das überhaupt geht. »Was macht deine Ex? Keine Ahnung. Hab seit Jahren nichts von ihr gehört.« Aber es gibt Tage, da denke ich an Leute, mit denen ich seit langer Zeit keinen Kontakt mehr hatte, und habe die beinahe körperliche Gewissheit, dass sie ebenfalls an mich denken, genau in diesem Moment, als ob ein elektrischer Strom durch die Luft fließt und sich zwischen uns ein Stromkreis schließt. Das ist immer ein gutes Gefühl, wie eine sanfte Berührung.

Nicht schlecht für jemanden, der nicht träumen kann, oder?

Ich kehrte aus dem gleichen Grund nach Hause zurück wie die meisten Leute: Weil mir nichts anderes übrig blieb.

Es war kein offizieller Umzug. Bloß ein Besuch. Die Art von Besuch mit offenem Ende, die man nur machen kann, wenn man viel Zeit hat. Ich war arbeitslos und tat, was man als Arbeitsloser so tut – Leute um einen Gefallen bitten, denen man selbst mal einen getan hat, Tipps nachgehen. Netzwerken, vornehm ausgedrückt. Anfühlen tut es sich wie betteln.

Ich fing mit den Chefredakteuren an und durchkämmte dann meine Kontakte in einer Branche, die am Boden war. Selbst die optimistischeren Kollegen, mit denen ich sprach, machten mir wenig Hoffnung. Ich arbeitete mich in der Hierarchie weiter nach unten, von den Auslandsbüros über die Redaktionsleiter bei den großen Tageszeitungen bis zu Patrick Ryan, meinem ältesten Freund, der im weitesten Sinne etwas mit Journalismus zu tun hatte. Pat war für die Öffentlichkeitsarbeit am Hammel College zuständig, einem jener kleinen, noblen Colleges in Neuengland, die ihre schwindelerregenden Studiengebühren mit ihrer altehrwürdigen Geschichte begründen.

Ich hatte damals für mein Studium in Hammel eine Ermäßigung erhalten, weil meine Mutter dort unterrichtete. Die Raten für den Studienkredit entsprachen trotzdem noch denen für ein Einfamilienhaus, aber immerhin hatte ich einen Abschluss in Journalismus auf der Habenseite – nicht nur ein aussterbender Beruf,...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2023
Übersetzer Andreas Fliedner
Sprache deutsch
Original-Titel Where they Wait
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Fantasy
Schlagworte 2023 • Akadier • Albträume • Amerikanische Ureinwohner • eBooks • Familiensaga • für Fans von Stephen King • Geschichte • Horror • Kolonialgeschichte • Kolonialismus • Maine • Mindfulness • Neuerscheinung • Startup • The Chill - Sie warten auf dich • Vertreibung
ISBN-10 3-641-29482-7 / 3641294827
ISBN-13 978-3-641-29482-3 / 9783641294823
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