Matthias Wittekindt, geboren 1958 in Bonn, aufgewachsen in Hamburg, ist Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Kriminalromanen. Seine Werke wurden mit dem Kurd-Lasswitz-Preis, dem Berliner Architektenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Matthias Wittekindt lebt in Berlin.
1
(Erster Tag – Schießerei im Zoo)
Fjodor Judin hatte Angst.
Als er und seine Genossen die Lichtensteinbrücke überquerten, waren seine Augen immerzu in Bewegung. Das Gleiche galt für Fjodors Gedanken.
Sie könnten eine Frau schicken.
Die Eingebung war neu. Sie kam ihm erst jetzt, auf der Brücke. Ein schrecklicher Einfall, der aber zu seiner Gemütsverfassung passte. In Fjodors Geist war eine Art Drehbewegung entstanden, ähnlich einem Strudel. Und der zog auch noch die unbedeutendste Beobachtung zu einem Zentrum hin, wo sie ihm nichts als Angst und Sorge gebar. So kam ihm beim Anblick einer Passantin in einem gelben Kleid die geradezu absurde Vorstellung … Sie könnte einen Auftrag haben.
Einige Genossen, so ging das Gerücht, hatte die Zaristische Geheimpolizei von Frauen ermorden lassen.
Die Ochrana kennt keine Scham.
Auch auf dem belebten Droschkenplatz neben dem Eingang zum Berliner Zoologischen Garten versuchte er jede Bewegung, jede Person im Auge zu behalten.
Nicht nachlassen, dachte er wieder und wieder.
Es wurde immer schlimmer. Als er, Sergej und Witalij den Zoo betraten, zuckten seine Blicke so wild hin und her, als sei er von einem Wahn befallen. Und etwas in dieser Art war es ja auch. Ein Wahn eingebildeter Gefahr. Mit dem Blick eines gesunden Menschen hätte er lediglich den alltäglichen Sonntagnachmittag unter einem bedeckten Berliner Himmel gesehen. Frauen und Männer flanierten durch den Zoo. Einige standen in Gruppen herum. Eine Dame stieß ihren Mann an und wies mit der Spitze ihres Sonnenschirms in Richtung des Pavillons, in dem sich gleich ein Blasorchester versammeln würde, um die Zoobesucher zu unterhalten. Zwei kleine Jungen liefen ihren Eltern voraus, in Richtung des Käfigs mit den Braunbären.
»Gerade noch zeitig«, sagte die Frau mit dem Sonnenschirm und zeigte dezent auf einen Mann mit einer Tuba, der gerade den Platz vor dem Pavillon überquerte.
»Gut, dass wir die Droschke genommen haben und nicht die Tram«, antwortete ihr Mann. Dann blickte er kurz nach links, wo eine ausnehmend schöne junge Frau stand, die etwas verloren oder doch wenigstens suchend wirkte. Ihr Kleid war hellblau, mit ganz schmalen muschelgrauen Borten. Und in der Taille so eng geschnürt, dass sich der Gedanke aufdrängte, sie könne darin doch unmöglich atmen. Da er sich darüber freute, dass sie seinen Blick für beinahe drei volle Sekunden erwiderte, korrigierte er den Sitz seines Zylinders ein wenig, indem er ihn, von schräg hinten her drückend, ganz leicht in Schieflage schob.
»Nun komm, Theo«, mahnte seine Frau. »Nicht dass wir am Ende wieder ganz hinten stehen und sich deine Augen ständig verirren.«
Sie mahnte zu Recht zur Eile, denn die Mitglieder der Kapelle, die bereits ausgepackten Instrumente teils geschultert, fanden sich soeben in dem muschelförmigen Musikpavillon ein, wie sie das an jedem Sonntag um exakt diese Uhrzeit taten.
Das alles und noch einiges mehr sah Fjodor und hätte es wohl für alltäglich gehalten, wäre da nicht seine Angst gewesen.
Besser noch mal überprüfen.
Seine Hände bewegten sich, tasteten. Zwei Revolver, beide geladen.
Neben ihm liefen die Genossen Sergej und Witalij. Die Augen der beiden waren ruhig. Ihre Blicke gingen mit natürlicher Neugier in Richtung des Restaurants, des Musikpavillons, der Käfige und natürlich der Damen.
Bären, dachte Fjodor, als er den Käfig sah.
Aber da war noch mehr; der Wind trug ihm gerade einen Geruch zu, den er aus seiner Heimat kannte.
Flieder.
Im Garten seiner Großmutter am Stadtrand von Sankt Petersburg hatte es eine ganze Hecke aus Fliederbüschen gegeben. Im Sommer war dort immer ein vielstimmiges Summen zu hören gewesen, denn sein Großvater hielt Bienen.
»Ach, guckt mal!«, sagte in diesem Moment Sergej und zeigte auf einen Elefanten, der in gut hundert Metern Entfernung auf dem großen Sandplatz stand.
Was für ein Bild! Links Rosen, rechts Rosen, dazwischen der Elefant. Aber war der graue Koloss Fjodor überhaupt aufgefallen? Nein. Er war so ängstlich damit beschäftigt, seine Umgebung im Auge zu behalten, dass ihm das nicht eben kleine Tier vollkommen entgangen war.
Man hatte den Dickhäuter wie jeden Sonntag aus seinem Gehege geholt und vorbei am Vierwaldstätter See und dem Kaskadenteich hierhergeführt. Und das nicht ohne Grund, wie jeder sehen konnte, denn vor dem Elefanten lag ein mannsgroßer Ball, zusammengenäht aus bunten Stoffstreifen.
»Oha!«, sagte Witalij. »Das wird was werden.«
Der junge Russe ahnte, was gleich geschehen würde, denn er war einige Male zusammen mit seinen Kindern im Zirkus gewesen. Nicht in Berlin natürlich, sondern in Sankt Petersburg.
Fjodor hatte kein Auge für all das. Er war ganz gewiss nicht die gefahrvollen zweitausend Kilometer von Sankt Petersburg bis hierher gefahren, um einen Elefanten zu sehen.
Der Wind nahm zu. Er zupfte ein paar Hundert rosafarbene Blütenblätter von den Kamelien, die der zuständige Gärtner angesichts der Wettervorhersage besser im Wintergarten gelassen hätte.
Wieder bewegten sich Fjodors graue Augen.
Wo steckt sie?
Er hielt sich rechts und ging weiter.
Wo steckt sie?
Mehr dachte und empfand Fjodor Judin nicht. Weil die Tiere ihm nicht helfen würden, falls man ihn und seine Kameraden angriff. Er bemerkte also die Löwen, Bären und Beuteltiere gar nicht. Auch nicht die Halbaffen, obwohl die sich ziemlich aufführten, oben in ihrem Geäst. Ja, nicht mal die auffälligen Flamingos stachen ihm ins Auge, weil … Diese Augen suchten unablässig nach zwei Dingen. Erstens: möglichen Angreifern. Zweitens: Anna. Eine Frau, die sich während der Operation als seine Braut ausgeben würde. Sie hatte diesen Ort als Treffpunkt vorgeschlagen. Noch in Sankt Petersburg, vor dem Tor zur Werft.
»Warum im Zoo?«, hatte er sie gefragt.
»Weil du Berlin nicht kennst. Wo der Zoo ist, kann dir jeder sagen. Und das Bassin mit den Seelöwen wirst du schon finden.«
»Und dort werde ich Keegan und Bates treffen?«
»Ja.«
»Und sie werden mich sicher nach England bringen?«
»Man weiß nie, wie es kommt, aber so ist es geplant.«
Gerade mal zehn Tage lag dieses Gespräch zurück. Anna war vor ihnen gefahren. Seitdem war einiges passiert. Er, Sergej und Witalij hatten bereits am Tag ihrer Abreise einen Genossen verloren.
Ist nicht zum Treffpunkt gekommen.
Vermutlich hatten die Schergen des Zaren den treuen und vorsichtigen Pavel gefasst und …
Gefoltert.
Fjodor war wütend.
Fjodor hatte Angst.
Fjodor wurde von einem schlechten Gewissen geplagt.
Er hatte das Vertrauen vieler Menschen missbraucht, um seinem Ziel näherzukommen. »Für eine bessere Zukunft des russischen Volks«, wie Anna es formuliert hatte.
Aber war es nicht auch um Geld gegangen?
Jetzt waren er, Sergej und Witalij ihrem Treffpunkt mit Keegan und Bates sehr nahe.
Und der Gefahr auch. Falls Pawel tatsächlich gefasst wurde und unseren Treffpunkt in Berlin verraten hat.
»Da«, sagte Witalij und zeigte auf die Seelöwen. Die Tiere waren noch immer etwas aufgeregt, denn man hatte sie gerade gefüttert.
Witalij bekam mehr Details mit als seine Genossen, denn er sprach einigermaßen gut Deutsch. Ein kleines Mädchen in einem grünen Samtkleid, das sie ein wenig wie eine Puppe aussehen ließ, fragte eben seine Mutter, was denn mit den Gräten geschehe, wenn die Seelöwen die Fische einfach so runterschlangen.
Witalij spürte einen kleinen Stich im Herzen, als er die beiden sah. Denn die Mutter des Mädchens war sehr schön. Sie lachte über die Frage ihrer Tochter in einer so reizenden und natürlichen Art, als sei sie selbst fast noch ein Kind. Leider gingen die beiden weiter. Das kleine Mädchen wollte die Bären sehen.
Auch Fjodor Judin sah die beiden. Doch sie interessierten ihn nicht für einen halben Heller.
Sie hatten ihren Treffpunkt erreicht, und zwar auf die Minute pünktlich.
Wo ist Anna?
»Da«, sagte Witalij zum zweiten Mal, nachdem er sich vom Anblick der Mutter losgerissen hatte, die nun bereits mit ihrer kleinen Tochter vor dem Bärenkäfig stand. Er zeigte jetzt auf eine kleine Baumgruppe.
Fjodor Judin entdeckte Anna sofort.
Und war alarmiert.
Was macht sie für Zeichen? Und wem überhaupt?
»Da!«, sagte Witalij zum dritten Mal und zeigte auf zwei Männer, die mit gezogenen Revolvern zügig von der anderen Seite eines großen Springbrunnens auf sie zukamen. Es war das Letzte, was von Witalij kam, denn die erste Kugel traf ihn mitten ins Gesicht.
»Нам нужно укрытие!«, schrie Fjodor.
O ja, sie brauchten Deckung. Und sie mussten sich verteidigen. Also zogen Sergej und er ihre Waffen und erwiderten das Feuer, während sie in geduckter Haltung hinter dem Springbrunnen Schutz suchten.
Die beiden Angreifer trugen Bowler und graue Anzüge, wirkten fast vornehm, wenn man von ihren Pistolen...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2023 |
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Reihe/Serie | Die Craemer-und-Vogel-Reihe | Die Craemer-und-Vogel-Reihe |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • 8. Internationaler Sozialistenkongress • Berlin • Dänemark • Deutscher Krimipreisträger • Deutsches Kaiserreich • Dissidenten • eBooks • Europa • Geheimdienst • Heimatkrimi • Historische Kriminalromane • Historischer Kriminalroman • Krimi • Kriminalromane • Krimi neuerscheinung 2023 • Krimis • Neuerscheinung • Rainer Wittkamp • Russische Revolution • Skandinavien • Tiergartenmorde |
ISBN-10 | 3-641-28566-6 / 3641285666 |
ISBN-13 | 978-3-641-28566-1 / 9783641285661 |
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