Der Traum von einem Baum (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
560 Seiten
btb Verlag
978-3-641-22510-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Traum von einem Baum - Maja Lunde
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Das große Finale des Klimaquartetts
Eine Kammer hoch im Norden, gefüllt mit Pflanzensamen aus aller Welt. Drei Brüder und ihre Großmutter, vereint in der Hoffnung, dieses letzte Band zwischen Mensch und Natur zu behüten.

Tommy wächst in der kargen Landschaft Spitzbergens mit zwei Brüdern bei seiner geliebten Großmutter auf. Als wichtigste Lebensweisheit gibt sie ihm mit: In einer großflächig zerstörten Welt ist die Saatgutkammer ein Schatz, der mit allen Mitteln beschützt werden muss. Tommy soll diese Aufgabe später von seiner Großmutter übernehmen. In eindrucksvollen Bildern und mit viel Wärme erzählt Maja Lunde von der Bedeutung des Familienzusammenhalts und von unserem Umgang mit der Natur. Sie beschäftigt sich mit den drängenden Fragen unserer Zeit: Wie wurde der Mensch zu einer Spezies, die alles verändert hat? Und sind wir selbst eine bedrohte Art?

Maja Lunde wurde 1975 in Oslo geboren, wo sie auch heute noch mit ihrer Familie lebt. Sie ist eine bekannte Drehbuch- sowie Kinder- und Jugendbuchautorin. »Die Geschichte der Bienen« war ihr erster Roman für Erwachsene, der zunächst national und schließlich auch international für Furore sorgte. Das Buch stand monatelang auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Es folgten »Die Geschichte des Wassers«, »Die Letzten ihrer Art« und »Der Traum von einem Baum«, mit dem sie 2023 ihr literarisches »Klimaquartett« abschloss. Außerdem veröffentlich sie mit der bekannten Illustratorin Lisa Aisato erfolgreiche All-Age-Bücher wie »Die Schneeschwester« und »Die Sonnenwächterin«.

Longyearbyen


Spitzbergen 2097

Am Tag nach der letzten Mitternachtssonne wurde in Longyearbyen ein Baum an Land gespült. Damals war Tommy fünf Jahre alt und allein im alten Containerhafen unterwegs. Er war eine Weile zwischen den rostigen Metallwänden umhergestreift und hatte sich mit dem Rücken an einen Container gesetzt, auf dem Tollpost Globe stand, wie er mühsam entziffern konnte, und sich in den Strahlen der tief stehenden Sonne aufgewärmt.

Und während er dort saß und mit einem Stock in der sandigen Erde stocherte, entdeckte er die Blätter. Sie ragten ein Stück entfernt am Fjord auf, die grüne Farbe wirkte vollkommen fremd am steinigen schwarzen Ufer.

Er stand auf, behielt seinen Stock in der Hand, der gerade, lang und stabil war, einer der besten Stöcke, die er seit Langem gefunden hatte, und trabte den Strand hinab. Dort lag der Baum auf dem dunklen Grund parallel zur Uferlinie, mit der Krone zum Flussdelta des Adventdalen im Osten und den Wurzeln zum dunklen Isfjord im Westen.

»Ein Baum!«, rief Tommy, als würde es noch wirklicher werden, wenn er es laut aussprach.

Auf Spitzbergen trieben immerzu Bäume ans Ufer, große Stämme von Lärchen, Fichten und Kiefern, von Wind und Strömung bewegt, sie kamen weither, bis aus Sibirien. Weißgespült vom Meer, von Rinde befreit, vollgesogen mit Wasser und nach Jahren in der See von vielen kleinen Tieren erobert, keine richtigen Bäume mehr, sondern nur noch Schatten ihrer selbst.

Aber dieser war anders, er sah aus wie ein lebendiger Baum, mit großer, dichter Krone. Die Blätter waren zwar ein wenig welk und gekräuselt, aber viele saßen immer noch fest, und auch wenn ihre Farbe blass und verwaschen war, hatten sie einen deutlichen grünen Schimmer. Tommy zupfte vorsichtig an einem. Gleichzeitig ließ er den Stock los, den er eben noch so schön gefunden hatte, denn jetzt, angesichts dieses riesigen Baums voller lebender Arme, erschien er ihm trocken und tot.

Das Blatt löste sich sofort. Er strich mit dem Finger über die grüne Oberfläche, drehte es hin und her und erkannte deutlich, dass seine Vorder- und Rückseite verschieden waren, die eine viel grüner als die andere. Er nahm das Blatt zwischen Zeigefinger und Daumen und hielt es gegen die Sonne, kniff das eine Auge zu und sah mit dem anderen, wie die grüne Fläche, die an hauchdünnen Stoff erinnerte, das Licht filterte. Die Blätter saßen parallel an längeren Stängeln, wie kleine Familien. Er brach einen ganzen Stiel ab und zählte sie. Neun Blätter insgesamt.

Dann ging er am Strand ein Stück weiter und hockte sich neben den Stamm. Er legte die Hand auf die gräuliche Rinde, die hart und knorrig war, und strich behutsam an ihr entlang.

»Schöner Baum«, sagte er.

Schließlich drückte er die Nase vorsichtig an den Stamm und sog den Geruch ein.

»Rinde«, sagte er zu sich selbst. »So riecht Rinde.«

Wieder stand er auf. Trat einen Schritt vom Baum zurück, um sich einen Überblick zu verschaffen. Er hatte schon viele Bilder von Wäldern und Bäumen gesehen und wusste, dass es sie in allen Größen gab. Die größten Bäume der Welt waren einst an einem Ort namens Kalifornien gewachsen, hatte seine Großmutter ihm erklärt, Mammutbäume, die über 4000 Jahre alt und über 100 Meter hoch werden konnten.

Tommy wusste, dass zwei seiner Schritte einen Meter lang waren, und deshalb eilte er jetzt bis zum Ende der Krone und begann den Baum zu vermessen.

Es war schwierig, weil er immer wieder vergaß, dass ein Schritt nicht einen Meter maß, sondern nur einen halben. Er zählte laut, um es zu schaffen, geriet aber mit den Zahlen durcheinander und musste mehrmals von vorn anfangen. Am Ende glaubte er trotzdem zu wissen, wie groß der Baum war.

»23 Meter«, sagte er. »Ein 23 Meter langer Baum ist nach Spitzbergen gekommen!«

Ihm brummte der Schädel von der ganzen Zählerei. Er dachte, dass er seine Großmutter holen musste, denn wenn auf Spitzbergen etwas Wichtiges geschah, wusste die Großmutter am besten, was zu tun war. Doch jetzt musste er sich erst ausruhen, und deshalb streckte er sich neben dem Baum aus und legte den linken Arm um den Stamm. Er fand eine halbwegs gemütliche Position auf dem steinigen Boden und spürte, wie der Stamm gegen die Innenseite seines Oberarms drückte. Er hatte keine Vorstellung, wie lange er hier so liegen wollte, die Uhr konnte er noch nicht lesen, und soweit er wusste, wartete auch keiner auf ihn. Außerdem hatte er sowieso noch kein richtiges Verhältnis zur Zeit – für ihn war Zeit etwas, das nur dann verging, wenn er beschäftigt war. Und jetzt machte er ja nichts, er lag einfach nur da, während die Sonne genauso stark schien wie immer um diese Jahreszeit, und dachte an den Baum, den Stamm, die Blätter und daran, dass er erschöpft war.

Und dann schlief er ein.

Ein schmächtiges Kind, die Arme um einen Baum geschlungen, an einem schwarzen Steinstrand. Es ging ein leichter Wind, der das Wasser zu kleinen, steilen Wellen aufpeitschte, die eine zarte Spitzenhaube aus weißen Bläschen trugen. Dunkles Wasser schlug gegen die hohen Berge, in denen Erdrutsche erst kürzlich lange Wunden zwischen die dünnen Schichten der Vegetation gerissen hatten. Im Flachland wuchsen niedrige Büsche, Gräser und Halme, über den Südhängen lag ein Flor aus kleinen rosa und gelben Blumen. Möwen schwebten über ihm vorüber, flogen vom Tal zum Fjord und verschwanden weiter hinaus zum Vogelfelsen. Doch der Junge sah nichts von alldem, er schlief tief und fest.

Eine laute Mädchenstimme riss ihn aus dem Schlaf.

»Tommy?«

Die Stimme klang ängstlich und ratlos.

»Hallo? Schläfst du?«

Er setzte sich auf, wusste im ersten Moment nicht, wo er war. Dann wandte er den Kopf und sah das Gewirr aus Ästen um sich herum. Er spürte, wie steif sein ganzer Körper und vor allem der eine Arm war, den er um den Baum gelegt hatte.

»Tommy, was machst du denn da?«

Er drehte sich um und starrte Rakel an, die in einiger Entfernung stand, die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf schief gelegt und mit verwunderter Miene. Sie war genauso alt wie er, aber einen Kopf größer, dünn und schlaksig, mit knochigen Schultern. Ihre Haare sahen oft fettig aus, besonders seit ihre Eltern vor Kurzem bei einem Erdrutsch ums Leben gekommen waren.

Jetzt rannte sie auf ihn zu. Kohlschwarzer Felsschutt und Steinchen lösten sich unter ihren Füßen, aber sie bemerkte es gar nicht, denn sie bewegte sich geschmeidig, fast lautlos, als hätte sie eigentlich gar keinen Bodenkontakt.

Staunend blieb sie stehen. »Haben wir einen Baum bekommen? Der ist ja riesig!«

Tommy kam auf die Beine und stellte sich schützend vor den Baum. »Den habe ich gefunden.«

»Ja. Aber deshalb gehört er dir ja nicht?«

Sie schubste ihn etwas. Er spürte die Kraft in ihren Händen, aber er stemmte die Füße in den Boden, wollte nicht weichen.

»Ich habe ihn gefunden«, wiederholte er.

Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, die Neugier und die Freude verschwanden daraus.

»Und jetzt ist es einfach dein Baum?«

Er nickte.

»Und du hast ihn umarmt«, sagte sie langsam, und jetzt klang ihre Stimme hart und spöttisch.

»Gar nicht!«

»Doch«, sagte sie lauter. »Tommy hat einen Baum umarmt! Tommy hat einen Baum umarmt!«

Sie begann es zu singen, Tommy hat einen Baum umarmt, in einem Tonfall, als würde sie singen, er hätte jemanden geküsst. Oder sich in die Hose gemacht.

»Nein, habe ich gar nicht«, protestierte er. »Ich habe ihn überhaupt nicht umarmt.«

Doch sie sang einfach weiter: »Tommy hat einen Baum umarmt, Tommy hat einen Baum umarmt!«

Sein Herz hämmerte vor Wut, und die Wut wuchs in seinem Körper wie Zweige.

»Nein«, sagte er, jetzt leiser.

»Aber ich habe gesehen, dass du es gemacht hast«, erwiderte sie. »Ich habe es doch gesehen!«

»Nein!«, sagte Tommy.

Rakel musterte den Baum. »Und es ist nicht mal ein echter Baum, er ist mausetot, das siehst du doch wohl.«

Er drehte sich zu dem Baum um, und wie er dort lag, sah er irgendwie trauriger aus, die grüne Farbe war verblasst, viele der Blätter waren schon abgefallen und weggeweht worden.

Rakel ging näher heran und trat gegen Tommys Baum, es raschelte, als noch mehr Blätter abfielen. »Du weißt, dass du nie einen echten Baum zu sehen bekommen wirst, Tommy. Du bist ein Spitzbergenkind.«

Sie sagte es leise, wie gleichgültig. Und dann kam sie ganz dicht an ihn heran.

»Er lebt nicht«, sagte sie ihm ins Gesicht, so nah, dass er ihren Atem riechen konnte, der überraschend süßlich war. »Das ist bloß eine Leiche. Dein Baum ist genauso tot wie die Leichen, die sie im Ofen verbrennen!«

Seine Füße wollten mit ihm davonlaufen, aber die Hände wollten etwas anderes.

Er hob die eine Hand und schlug sie.

Es war kein guter Schlag, eher ein Klaps.

Aber er hatte sie schlagen wollen, und das verstand sie. Rakel erwiderte den Schlag, oder den Klaps, indem sie ihm auch einen Klaps gab.

Das reichte aus, um sich auf sie zu stürzen. Er schlang die Arme um ihren dünnen Mädchenkörper, als würde er sie umarmen, und holte mit einer Hand aus, um sie am strohigen schwarzen Haar zu packen, während sich ihre ungeschnittenen Fingernägel seinem Gesicht näherten. Sie kratzte so fest über seine Wange, dass er es ratschen hörte.

»Hör auf!«, jaulte er, ließ sie los und fasste sich an die Wange. Seine Fingerspitzen waren...

Erscheint lt. Verlag 20.4.2023
Reihe/Serie Klimaquartett
Klimaquartett
Klima Quartett
Übersetzer Ursel Allenstein
Sprache deutsch
Original-Titel Drømmen om et tre
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • Arche • China • Die Geschichte der Bienen • Dystopie • eBooks • Klimakrise • Klimaquartett • Klimazukunft • Neuerscheinung • Norwegen • Roman • Romane • Saatgutbank • schneeschwester • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Spitzbergen • Welthunger • Zukunftsroman
ISBN-10 3-641-22510-8 / 3641225108
ISBN-13 978-3-641-22510-0 / 9783641225100
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