Bobby Palmer ist freiberuflicher Journalist und schreibt für Publikationen wie »GQ«, »Men's Health«, »Time Out« und »Cosmopolitan«. »Isaac und das Ei« ist sein erster Roman.
Isaacs Gedanken sind so verworren, dass er keine Antworten findet. Auch die Blechdose hat keine. Und ebenso wenig das Ei, das ja ein Ei ist und daher nicht sprechen kann. Dennoch feuert Isaac eine Frage nach der anderen ab, wobei er nicht weiß, ob er sie auch laut ausspricht. Er klopft mit den Handflächen nervös auf das Lenkrad und überprüft dabei immer wieder mit angsterfüllten Blicken den Rückspiegel und die Seitenspiegel, ob sich ein Blaulicht nähert oder das Heulen eines Martinshorns zu hören ist. Möglicherweise enthält das Ei Schmuggelware – Drogen, Waffen oder Schlimmeres. Tatü-tata, tatü-tata. Er würde leise fluchen. Der Polizist würde vielleicht ans Fenster klopfen, und Isaac würde es herunterkurbeln müssen. Der Polizist würde möglicherweise sagen: »So früh schon unterwegs, Sir?« Isaac würde ins Schwitzen geraten, und der Polizist würde vielleicht die Stirn runzeln, mit seinem Stift auf den Beifahrersitz deuten und sagen: »Gibt’s heute Omelett zum Frühstück?« Und Isaac würde ein bisschen zu laut lachen und dadurch verraten, dass er etwas schmuggelt. Er hat noch immer mehr im Blut, als erlaubt ist. Er würde pusten müssen, dann käme es raus, und was dann? Isaac sieht zu dem Ei auf dem Beifahrersitz hinüber. Er will noch eine weitere Frage stellen. Er will wissen, ob er gerade verrückt wird. Aber bevor er die Frage formulieren kann, bemerkt er, dass er zu Hause angekommen ist.
Isaac steigt aus. Das Auto hat er auf dem Gehsteig geparkt. Egal. Die bleiche Wintersonne geht rasch auf, und mit ihr werden bald auch die Vorhänge hinter den Fenstern der Nachbarn zur Seite geschoben. Dass er so nachlässig geparkt hat und noch weitaus vernachlässigter aussieht, werden sie auf all das, was in letzter Zeit passiert ist, zurückführen. Aber das Ei? Sie werden ihm Fragen zu dem Ei stellen, und Isaac hat schon festgestellt, dass er keine Antworten hat. Das Ei ist etwas, das er für sich behalten will. Nehmt mir das nicht auch noch weg, denkt er. Nachdem er sich vergewissert hat, dass sämtliche Vorhänge, die die Straße säumen, noch geschlossen sind, löst er den Gurt, der seinen unkommunikativen Beifahrer sichert, trägt diesen zur Haustür und versucht dabei, ihn zumindest halbwegs unter seinem feuchten Sakko zu verbergen. Wenigstens muss er sich diesmal nicht mit einem Schlüssel herumärgern, ganz einfach, weil er die Tür noch nie abgeschlossen hat. Als er sie aufdrückt, spürt er den Widerstand eines riesigen Haufens aus ungeöffneten Briefen, Rechnungen und Werbeprospekten. Man könnte meinen, das Haus wäre unbewohnt. In gewisser Weise hat Isaac es vor etlichen Wochen verlassen. Er hat hier nicht mehr gelebt, sondern nur noch existiert. Aber das Haus besitzt ein Eigenleben, wie die Post zu Isaacs Füßen beweist, die abgestorbenen Blumen mit den hängenden Köpfen auf der Ablage im Flur und der ekelerregende Geruch nach verdorbenem Essen, der durch die angelehnte Küchentür zieht. Irgendwo tropft ein Wasserhahn. Irgendwo anders summt eine Fliege. Einen Augenblick lang steht Isaac, noch immer leicht betrunken, schwankend und schweigend da, hält das Ei im Arm und lauscht. Als warte er darauf, dass jemand ihn willkommen heißt. Niemand ist zu hören. Seine Kehle schnürt sich zu. Seine Augen werden feucht. Im Flur stehen schlichte, edle Holzmöbel, und Isaac läuft es kalt den Rücken hinab. Das Ei in seinen Armen scheint das zu spüren, die Wärme in seinem Inneren sinkt rapide. Wieder denkt Isaac an die Wärmflasche mit der flauschigen Hülle. Sie hatte sie sich immer vorne in die Schlafanzughose gesteckt, damit ihr warm wurde. Das sah nicht besonders toll aus. Er hatte ein Foto davon auf seinem Handy. Zeig das bloß nicht rum. Sie hatten Tränen gelacht. Kalte Füße, kalte Hände, die im Bett über seine Haut strichen, wie Eiswürfel, die unter die Bettdecke geschmuggelt worden waren. Sie klemmte ihre nackten Füße zwischen seine nackten Beine, um sie zu wärmen, oder ihre nackte Hand unter seinen nackten Rücken. Dann fluchte er und entwand sich ihr.
»Warum ist dir immer so kalt?«, hatte er sie oft gefragt.
Das ist relativ. Warum ist dir immer so warm?
Isaacs Haus ist so kalt wie der Fluss, von dem er sich jetzt wünscht, er hätte sich hineingestürzt. Die Post liegt wie eine Schneewehe über seinen Füßen, sein Atem bildet Wölkchen in der Luft des Flurs. Er schnieft und blickt auf das Ei hinab. Er reißt die Augen auf. Er flucht. Er lässt das Ei fallen, das auf einem Polster aus Kreditkartenrechnungen und Speisekarten von Lieferdiensten landet. Im selben Moment ist er wieder draußen und rennt zu seinem Auto, an dem noch beide Türen offen stehen. Er schnappt sich die Blechdose von der Rückbank, drückt sich das kalte Metall gegen die Stirn und schließt die Augen. Dann macht er die Autotüren zu und geht zurück ins Haus. Als er wieder in der Schneewehe steht, überlegt er, was er jetzt tun kann. Er sieht hinab auf das Ei, das in dem Haufen aus Briefen zu seinen Füßen sitzt, wie in einem Nest. Das Weiß seiner Schale ist abgeklungen, wie ein Licht, das verlöscht ist. Was soll er jetzt machen? Sie hätte es gewusst. Sie hatte immer eine Antwort. Er geht in Gedanken das Archiv ihrer Gespräche durch und sucht nach etwas, das ihm helfen könnte. Einmal hatte sie ihm eine Geschichte von einem verwaisten Lamm erzählt, das sie auf dem Bauernhof gehabt hatten, auf dem sie aufgewachsen war. Wenn ein Lamm keine Mutter mehr hatte, war es ihre Aufgabe gewesen, es mit der Flasche zu füttern. Aber dieses eine fror einfach andauernd. Sie hatten es in Decken gewickelt, in Handtücher, in die Daunendecke aus ihrem Bett. Nichts hatte geholfen. Dann hatte jemand den genialen Einfall mit dem Ofen. Auf das Risiko hin, zum Mittagessen Lammbraten zu haben, steckten sie das zitternde kleine Ding in den alten gusseisernen Ofen, um es zu wärmen. Es funktionierte. Das Lamm war gerettet. Isaac, der schon fast zwanzig war, als er zum ersten Mal einen echten Bauernhof zu Gesicht bekommen hat, hatte gelacht, den Kopf geschüttelt und zu ihr gesagt, sie sei in einer Geschichte von Beatrix Potter aufgewachsen. Kein Mensch hatte noch einen gusseisernen Ofen. Kein Mensch fütterte Lämmer mit der Flasche. Sie hatte mit den Achseln gezuckt und erwidert, er bräuchte nur hinauszugehen und die Augen aufzumachen; dann würde sich ihm eine ganze Welt auftun, die ihm jetzt noch verschlossen sei.
Isaac verriegelt die Haustür. Er geht ins Wohnzimmer und stellt die Keksdose behutsam auf den Kaminsims. Dann holt er das Ei von seinem Ruheplatz auf dem Posthaufen. Das Haus ist klein und beengt, und in der Küche steht kein alter gusseiserner Ofen, aber in so einem hätte das Ei auch gar keinen Platz. Doch die Feuerstelle unter dem Kaminsims ist halbwegs brauchbar, also bringt Isaac das Ei dorthin. Die Sonne dringt erst allmählich durch die Lamellen der Jalousien, aber Isaac hält den Blick gesenkt und schaltet das Licht nicht ein. Mit langsamen, angestrengten Bewegungen macht er sich am Kamin zu schaffen. Aus einer alten Zeitung, ein paar Holzscheiten und Resten von Kienspänen schichtet er ein schlichtes Feuer auf. Er zündet es an und bläst das Streichholz rasch wieder aus, um nicht irgendetwas im Raum zu erhellen, das er nicht sehen will. Aus allen Ecken des Raumes rafft er Kissen und Decken zusammen und baut daraus auf dem Boden vor dem Kamin ein improvisiertes Nest. Er setzt das Ei hinein und facht das Feuer an, das dahinter brennt. Die Flammen lodern auf. Isaac kniet sich hin und betrachtet das Ei. Wie es da so vor dem Feuer auf dem Wohnzimmerboden steht, strahlt seine weiße Schale so hell wie noch nie. Aber da ist noch etwas anderes. Jetzt, wo es nicht mehr auf der kalten, feuchten Lichtung steht, sondern vor einem knisternden Feuer, fängt sein Äußeres endlich an zu trocknen. Und während es trocknet, erblüht es. Einige Stellen, die zuvor flach waren, richten sich jetzt auf und strecken sich in alle Richtungen. Isaac steht der Mund offen. Sein Atem wird langsamer, die Haare auf seinen Armen stellen sich auf, und er erkennt, dass die Schale des Eis überhaupt keine Schale ist. Sondern ein Pelz. Gerade eben noch vom Morgentau geglättet, plustert er sich jetzt auf, wie die Wolle des verwaisten Lamms im wärmenden Ofen. Isaac traut seinen Augen nicht. Das Ei ist von einem zotteligen weißen Fell umhüllt.
»Was bist du?«, flüstert er.
Aber das Ei ist noch immer zu sehr Ei, um zu antworten. Wie gebannt starrt Isaac es an und verliert dabei jedes Zeitgefühl. Das Feuer brennt, das Ei schweigt, und Isaac starrt. Als ihm irgendwann die Knie wehtun und das Feuer nachlässt, werden ihm die Augen schwer. Vielleicht wegen der Wärme des Feuers. Vielleicht weil er seit gestern Morgen nicht geschlafen hat. Gähnend geht er zu dem Sofa am anderen Ende des Raumes. Von dort aus betrachtet er das Ei noch ein paar Minuten lang und breitet sich dann eine der Reservedecken über den Schoß. Er hat nie verstanden, warum man so viele Decken braucht – ihm war warm, ihr war kalt –, aber jetzt ist er dankbar dafür, dass so viele da sind. Schon bald kann er die Augen nicht mehr offen halten, dann streckt er sich aus und fängt an zu schnarchen und gleitet zum ersten Mal seit Anfang Januar in einen ordentlichen Schlaf. Während er wegdämmert, bekommt er nur entfernt mit, wie die Kinder am Haus vorbei zur Schule gehen, wie das Licht der Morgensonne durch die Jalousien hereinfällt, wie sich im Feuer etwas rührt und knackt. Er ist in tiefem Schlaf versunken, als das Ei anfängt, sich zu bewegen.
Es beginnt mit einer Drehung; ein Teil des zotteligen Pelzes löst sich und gleitet zur Seite, wie ein Element eines vertrackten Schlosses. Dann löst sich ein weiterer Teil und gleitet in die andere Richtung. Schließlich ist das gesamte Äußere des Eis in...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2023 |
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Übersetzer | Felix Mayer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Isaac and the Egg |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2023 • Alien • Aufbruch und Hoffnung • eBooks • Lebensmut • Neuerscheinung • Spekulative Literatur • Trauer • übernatürlicher Twist |
ISBN-10 | 3-641-30278-1 / 3641302781 |
ISBN-13 | 978-3-641-30278-8 / 9783641302788 |
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Größe: 2,2 MB
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