Wo die Störche fliegen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
528 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-27032-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo die Störche fliegen -  Claudia Ley
Systemvoraussetzungen
12,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Gerda und Thomas: Eine Liebe in Westpreußen. Kann sie Hass und Krieg überstehen?
Westpreußen, 1918: Umgeben von weiten Wiesen, Wäldern und Seen wächst Gerda von Westkamm auf Gut Lapienen auf. In den Sommern ihrer Kindheit träumt sie sich gemeinsam mit ihrem besten Freund Thomas in eine Welt aus Märchen und Geschichten. Zehn Jahre später wird aus der Kinderfreundschaft die große Liebe. Doch die Nachbarsfamilien trennt nicht nur der Stand, sondern auch die politische Gesinnung, denn Gerdas preußisch-protestantischer Vater möchte seine Tochter keinesfalls mit einem Polen verheiraten. Als die Situation eskaliert, flüchtet Gerda in die Freie Hansestadt Danzig, um als Schreibkraft bei einem Reeder ihr Glück auf anderen Wegen zu finden. Aber ihre Sehnsucht nach Thomas, die Wirren des Zweiten Weltkrieges und schließlich die Flucht aus Westpreußen ändern alles.
  • Gerda und Thomas: eine Liebe in Westpreußen. Kann sie Hass und Krieg überstehen?
  • Emotional, atmosphärisch und lebendig erzählt: Eine deutsch-polnische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges
  • Für Leser*innen von Katharina Fuchs, Claire Winter und Brigitte Glaser


Claudia Ley ist das Pseudonym einer Spiegel-Bestsellerautorin mit deutsch-italienischen Wurzeln. In Italien hat sie auch studiert und erhält sich dort bis heute ihren zweiten Wohnsitz. Mit ihrer Familie lebt sie im brodelnden Herzen Londons, übt ihren Beruf als Lektorin und Übersetzerin immer noch mit Begeisterung aus und liebt Reisen, italienische Küche samt Rotwein und Juventus Turin.

2


März


Gerda von Westkamm war das jüngste Kind ihrer Familie. »Ein kleines Nachschrapsel an meinem Rockzipfel, den es nun wirklich nicht noch gebraucht hätte«, pflegte die Mutter ihren Freundinnen zu erzählen, wenn sie von den Nachbargütern zum Kaffee kamen. Dabei stöhnte sie leise.

Gerdas Schwestern, Adele und Leonie, mit denen sie sich das Zimmer teilte, waren fünfzehn und siebzehn Jahre alt. Sie spielten nicht mehr mit dem Puppenhaus oder dem Kasperletheater, sie lasen auch keine Märchenbücher, sondern unterhielten sich über erwachsene Dinge: Adele sprach gern über ihre Verehrer, über Frisuren und die Wäsche in ihrem Aussteuerschrank, und Leonie sprach am liebsten über Pferdezucht und die zahlreichen Probleme, die es dabei zu bewältigen galt. Wenn Gerda Adele und Leonie reden hörte, bekam sie ein bisschen Angst vor dem Erwachsenwerden, so ausgemacht langweilig war es, ihnen zuzuhören.

Zumindest für Mädchen.

Das Leben ihrer Brüder fand sie bei Weitem interessanter. Eduard, der zwanzig war, hatte einmal gesagt, er würde gern durchbrennen und zum Theater gehen, und überhaupt sei er für die Ruhe auf dem Land nicht gemacht, sondern liebe den Trubel in der Stadt. Vor dem Krieg, wenn der Vater ihn zu den Getreidemärkten in Stettin und Danzig mitgenommen hatte, war Edi aus dem Schwärmen gar nicht mehr herausgekommen.

Crispin hingegen war ein großer Reiter gewesen, ein Schwimmer und Wagenlenker, der beim alljährlichen Ernte-Rennen der Zweigespanne den Siegerpokal davontrug. Er hatte sich darauf gefreut, auf Lapienen Gutsherr zu werden, war, wie der Vater und sämtliche Nachbarn sagten, für diese Aufgabe wie gemacht. Er war zweiundzwanzig Jahre alt gewesen, achtzehn, als der Krieg begann, und älter würde er nun nicht mehr werden.

Das bedeutete, dass Gerda eines Tages mehr Jahre zählen würde als ihr ältester Bruder, und das war unvorstellbar traurig. Wenn sie daran dachte, wünschte sie sich, sie könnte immer ein Kind bleiben, das sich mit seinem besten Freund in der hintersten Speisekammer verkroch und Märchen las.

Thomas hatte keine Geschwister, keine lebenden und keine toten, und Gerda war nicht viel besser dran, weil sie ein Nachschrapsel war, mit dem die älteren nichts anfangen konnten. Aber sie hatten einander. So wie es im Märchen von der Schneekönigin stand: »Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie hatten sich ebenso lieb, als wenn sie es gewesen wären.«

Thomas schwor Stein und Bein, er habe ihr das Buch gekauft, ohne zu wissen, dass das erste Märchen darin – ihr liebstes – von ihnen handelte. Er hatte nicht gewusst, dass der Junge und das Mädchen in der Geschichte ebenfalls Nachbarskinder waren, dass sich die Zweige der Rosenstöcke genauso um die Fenster ihrer Häuser schlängelten und sie im Sommer mit einem Sprung beieinander waren, während es im Winter mit all dem Schnee viel schwieriger war. Am meisten verblüffte beide, dass das Mädchen aus dem Märchen auch den Namen Gerda trug.

Gerda und Kay, so hießen die zwei.

Kay, fand Gerda, war ein ebenso hübscher Name wie Thomas, beide klangen nach einem Burschen, der klug und mutig, manchmal geradezu leichtsinnig und ein bisschen vorschnell war, aber durch und durch anständig – einfach der beste, den es gab.

Seit Thomas ihr das Buch geschenkt hatte und seit sie zusammen das Märchen von der Schneekönigin gelesen hatten, waren sie beide gefangen im Zauber der Geschichte. Sie hatten sich schon in manche hineingedacht und ihr im Spiel ein neues Ende erfunden, aber jetzt beschäftigten sie sich nur noch mit dieser einen. Mit der Geschichte von Gerda und Kay, die Nachbarskinder waren, gemeinsam am Fenster saßen und durch ein Guckloch in der winterlich beschlagenen Scheibe dem wirbelnden Tanz der Schneeflocken zusahen. Bis Kay eines Tages Gerdas Großmutter fragte: »Die Schneeflocken, die so schwärmen wie Bienen – haben die auch eine Königin?«

Es war eine Frage, wie Gerda und Thomas sie hätten stellen können, obwohl sie gar keine Großmutter hatten. Thomas hatte einen Großvater in Graudenz, der nur selten zu Besuch kam, aber wundervolle Briefe schrieb. Gerda hatte den lustigen Onkel Hutz, ihren Taufpaten, der dem Alter nach ein Großvater hätte sein können, doch ihre wirklichen Großeltern hatte sie nie gekannt. Die Großmutter im Märchen hatte Kay zur Antwort gegeben: »Freilich haben sie eine. Sie ist die größte von ihnen, und nie bleibt sie ruhig auf Erden, sie fliegt weiter in die schwarze Wolke hinauf.«

Als Gerda und Thomas in ihrem Versteck im alten Eishaus diese Zeilen zum ersten Mal gelesen hatten, hatte Gerda gespürt, dass die schwarze Wolke nichts Gutes bedeutete und dass auch um die Schneekönigin etwas war, das nichts Gutes verhieß. Im Märchen hatte der vorwitzige Kay sich nicht einschüchtern lassen.

Gerda aber – die Gerda in der Geschichte und die echte in den Decken – wusste, dass es so einfach nicht war. Die Schneekönigin musste etwas mit dem Spiegel zu tun haben, der im ersten Kapitel des Märchens zersprungen war, und jenen Spiegel hatte der Teufel gemacht. Was er spiegelte, wurde hässlich, so schön es zuvor auch gewesen sein mochte, und irgendwann gab es kein Land und keinen Menschen mehr, den der Teufelsspiegel nicht verzerrt zurückgegeben hätte. Als aber der Spiegel zersprang, da wirbelten die Splitter umher wie Schneeflocken und trafen Menschen ins Auge oder ins Herz. Wer einen solchen Splitter ins Auge bekam, konnte künftig keine Schönheit mehr sehen, sondern nahm alles abscheulich und entstellt wahr wie durch den teuflischen Spiegel.

Einen Splitter ins Herz zu bekommen war jedoch noch weit schlimmer, denn wem das geschah, dem gefror das Herz in der Brust zu Eis.

Manchmal musste Gerda das Buch niederlegen, wenn sie an die Stelle kamen, wo dies mit Kay geschah, weil sie es kaum ertrug. Kay und Gerda aus dem Märchen hatten ein Buch angeschaut, so wie Thomas und sie, und als die Turmuhr fünf schlug, fuhr Kay ein Splitter ins Auge und ein zweiter ins Herz. Nicht lange zuvor hatte er eines Abends geglaubt, die Schneekönigin an seinem Fenster vorüberfliegen zu sehen, ihr Winken, mit dem sie ihn einlud, ihr zu folgen.

An dieser Stelle erfasste Gerda von Zeit zu Zeit eine Furcht, die allzu groß war. Furcht lebte in jedem Zimmer, auf jedem Gang des riesigen Hauses, in dem sie wohnte, und hier unten, wo sie mit Thomas ihren Frieden hatte, wollte sie davor sicher sein.

Aber sie war nicht sicher. Nirgendwo. Je länger der Krieg dauerte, desto unaufhaltsamer kroch die Angst in jede Ritze, und auch heute fühlte sie sich von ihr erfasst. In der Frühe hatte sie geglaubt, der weichere Wind über den Äckern würde schon eine Botschaft vom Frühling in sich tragen. Seit Mittag aber war das Wetter wieder umgeschlagen, der Wind pfiff wie eine Peitsche, und Thomas war bis auf die Haut durchnässt gewesen, als er auf Lapienen ankam. Gerdas Blick fiel auf seinen abgeschabten Mantel. Sie wusste, dass seine Mutter ihm keinen neuen kaufen konnte. Das Geld auf Blaes war noch knapper geworden, und Thomas’ Vater galt nun auch als vermisst. Zu gern hätte sie ihm einige der nicht mehr benötigten Winterkleider ihrer Brüder geschenkt, die für gewöhnlich an die Kinder des Gesindes gegeben wurden, aber Thomas war kein Gesindekind. An die Söhne von Nachbargütern verschenkte man keine abgelegte Kleidung, und als sie es ihm dennoch vorgeschlagen hatte, war Thomas gekränkt gewesen.

Warum war das so? Warum fühlte sich selbst ihr bester Freund in seinem Stolz verletzt, wenn sie ihm etwas Gutes tun wollte, warum tat sich auf einmal eine Wand zwischen ihnen auf? Gerda spürte, wie ihr die Brust eng wurde, als legte sich eine Eisenzwinge darum.

»Ach, meine Gerda.« Thomas legte den Arm um sie und lächelte sie an. »Was macht dir denn schon wieder solche Angst?«

»Das weißt du doch«, sagte Gerda und wies auf die Seite des Märchenbuchs. »Die beiden Glassplitter. Dein Herz, das zu Eis wird, und dein Auge, das in allem nur noch das Hässliche sieht.«

»Nicht mein Herz. Und nicht mein Auge.« Das Lächeln in seiner Stimme tat Gerda so wohl, dass sich die Eisenzwinge ein Stück weit öffnete. »Nur die von Kay. Ich bin ein bisschen wie er, und wir zwei haben uns ganz schön tief in die beiden hineingedacht. Aber ich könnte doch niemals unsere Rosen hässlich finden oder unsere Bücher, und weißt du, was ich am wenigsten könnte?«

»Was?«

»Von dir weggehen.«

Das nämlich tat Kay. Mit dem Splitter im Herzen begann er, Gerda zu verhöhnen, und zum Spielen lief er fortan zu den wilden Jungen. Als die Schneekönigin auf ihrem weißen Schlitten heranglitt, konnte er ihr nicht widerstehen, sondern knotete seinen kleinen Schlitten hinten an ihrem fest und brauste mit ihr davon.

»Wirklich nicht, Thomas?«, fragte Gerda. »Im Augenblick kommt es mir vor, als gingen alle weg. Mein Vater auch. Onkel Hutz meint, er ist zu alt für den Krieg, aber nun ist er doch aufs Amt gegangen, und sie haben ihn genommen. Weil sie jeden Mann brauchen. Weil sonst die Polen unser Land überrollen.«

»Die Polen?« Thomas zog die Brauen über der Nasenwurzel zusammen. »Aber Polen ist doch gar kein eigener Staat, der dem unseren den Krieg erklären könnte. Mein Vater hat mir erklärt, es gibt Polen, die auf unserer Seite kämpfen, und andere, die für Russland kämpfen mussten, aber Russland steht inzwischen ja nicht einmal mehr im Krieg.«

»Aber mein Vater sagt, die Polen wollen unser Land«, beharrte Gerda und hörte, wie ihr Herz dumpf pochte. »Und Barduhn sagt, wenn mein Vater die Polen nicht aus dem Haus wirft,...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 2023 • Brigitte Glaser • Charlotte Roth • Claire Winter • Danzig • eBooks • Epischer historischer Roman • Familiengeschichte • Flucht & Vertreibung • Große Liebesgeschichte • Gutshof • Hans Christian Andersen • Historische Romane • Katharina Fuchs • Neuerscheinung • Nostalgie • Polen • Posen • Regierungsbezirk Westpreußen • starke Heldin • Theresia Graw • Werft
ISBN-10 3-641-27032-4 / 3641270324
ISBN-13 978-3-641-27032-2 / 9783641270322
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 4,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur …

von Gerhard Jaeckel; Günter Grau

eBook Download (2021)
Lehmanns (Verlag)
14,99
Historischer Roman

von Ken Follett

eBook Download (2023)
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
24,99