Die Affäre (eBook)
512 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-26396-6 (ISBN)
Ist es schlimmer, seinen Mann oder die Polizei anzulügen? Rikke täuscht sie beide. Als ihr Nachbar Jørgen im Obergeschoss tot aufgefunden wird, werden die Bewohner des Hauses von der Polizei verhört. Wie kann Rikke vor Åsmund zugeben, dass Jørgen und sie eine Affäre hatten? Und wie lange kann sie die Affäre vor ihren Nachbarn, ihrem Mann und ihrer Tochter im Teenageralter verheimlichen, während die Ermittlungen in der Nachbarschaft näher rücken? Rikke weiß, dass ihr die Polizei bald zuvorkommen wird. Also trifft sie eine Entscheidung. Eine letzte Gnadenfrist, dann wird sie Åsmund die Affäre beichten. Doch dann wird Rikke von einer erschreckenden Offenbarung getroffen. Jørgen kann nur von jemandem getötet worden sein, der in ihrem kleinen Apartmenthaus lebt.
Helene Flood ist Psychologin und lebt mit ihrer Familie in Oslo. Ihr erster Roman »Die Psychologin«wurde bereits vor Erscheinen in Norwegen in achtundzwanzig Länder verkauft. Er stand monatelang auf der Bestsellerliste, eine Verfilmung ist geplant. Auch »Die Affäre« und »Die Witwe« wurden von Publikum und Presse begeistert aufgenommen.
»Na, jedenfalls finde ich das Ganze wahnsinnig unheimlich«, sagt Leas Mutter zu Sagas Mutter.
»Ja, puh«, erwidert Sagas Mutter und runzelt die Stirn.
Ich lehne mit dem Rücken an einer Säule neben der mit Vorhängen abgehängten Sprossenwand und höre ihnen zu, während ich die Bühne betrachte. Zurzeit ist sie leer. Die Schauspieler, wenn man sie so nennen kann, laufen zwischen der ersten Reihe und der Umkleide hin und her, wo zwei Mütter aus der Kostümgruppe gerade Maß nehmen. Ich war kurz dort, um Emma zu treffen, doch sie stand in einer Gruppe von Freundinnen und ignorierte mich. Eine ihrer Freundinnen wurde gerade vermessen, und eine mit Maßband und Stecknadeln bewaffnete Mutter sagte zu ihr: Lass uns mal sehen, welche Größe hast du denn? Das Mädchen wurde rot und murmelte leise etwas. Emma und die beiden anderen Freundinnen lachten. Ich sah zu meiner Tochter hinüber, sie ist groß und schlank, ohne jede Andeutung weiblicher Formen, aber die Freundin, die vermessen wurde, hatte bereits etwas rundere Brüste und Hüften. So sind sie, die Kinder. Ich ging wieder in den Saal, weil ich mir überflüssig vorkam.
Die Mütter neben mir sind aus der Programmgruppe. Ich kenne sie noch nicht so gut. Saga gehört zu Emmas neuen Freundinnen, und ich weiß, dass ihre Mutter Journalistin bei einer großen Zeitung ist, ab und zu sehe ich ihr Porträtfoto über einem Artikel. Vor nicht allzu langer Zeit schrieb sie einen persönlicheren Text über Schönheitswahn und wie früh die Mädchen inzwischen erwachsen werden. Leas Mutter ist Hausfrau, angeblich freiwillig, denn sie hat wohl an einer englischen Eliteuniversität studiert. Als im August die Schule anfing, luden sie und ihr Mann alle Mädchen aus der Klasse zu sich nach Hause ein. Sie wohnen in einer Villa am oberen Ende von Tåsen. Ich holte Emma dort ab und versuchte, mich nicht zu sehr von dem riesigen Haus und dem sorgfältig gestalteten Vorgarten beeindrucken zu lassen.
»Nach allem, was ich gehört habe, war die arme Katze geradezu ausgeweidet worden«, sagt sie, die Hausfrau mit dem Masterabschluss. »Die Gedärme lagen überall verstreut, und der Rest – also das Fell und die Knochen, nehme ich an – hing an einem schmiedeeisernen Zaun.«
»Wie furchtbar«, sagt die andere.
»Der Junge, der sie gefunden hat, war noch ziemlich jung, der Ärmste. Höchstens zehn oder elf, glaube ich. Und die bedauernswerten Zwillinge, denen die Katze gehörte, sind wohl am Boden zerstört. Sie gehen mit meiner Jüngsten in eine Klasse, und ihre Mutter hat erzählt, sie hätten mehrere Tage lang nicht in die Schule gehen können. Du weißt doch, wie sehr sie in diesem Alter an ihren Haustieren hängen, und es ist ja schon traurig genug, wenn sie von selbst abhauen. Aber auf die Weise abgeschlachtet zu werden …«
»Die armen Mädchen«, sagt Sagas Mutter.
Ich lehne meinen Kopf zurück an die Säule. Denke: Ich will mich nicht in diese Sache hineinziehen lassen. Ich werde einfach nicht darauf eingehen.
Auf der Bühne sind die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler mittlerweile auf ihre Positionen gegangen, bereit anzufangen. Emma und ihre Freundinnen stehen in einem Grüppchen am rechten Rand, und auf einem Sofa in der Mitte sitzt der Neuntklässler, der Mackie Messer spielt, zusammen mit ein paar anderen Jungen in tragenden Rollen. Der Regisseur erklärt ihnen von der ersten Reihe aus, wie er sich die Szene vorstellt. Die Mädchen sind unkonzentriert. Emma sagt etwas, das ich nicht verstehe, weil ich zu weit entfernt bin. Die vier Freundinnen lachen in einem Chor. Irgendetwas an ihrem Lachen ist künstlich, denke ich. Als würden sie auf Kommando lachen, ohne darüber nachzudenken, ob sie es wirklich lustig finden.
»Und du weißt ja, dass es nicht zum ersten Mal passiert«, sagt die Hausfrau jetzt.
»Nein, stimmt«, pflichtet Sagas Mutter bei. »Es gab auch diese Fälle im Frühling.«
»Ja«, sagt die Hausfrau. »Erst die Katze, die im Godalsparken gefunden wurde, und dann die im Garten im unteren Teil von Tåsen. Die in einem Baum aufgehängt war. An einer Schlinge, wie an einem Galgen. Die wurde aber zum Glück von einem Erwachsenen gefunden.«
»Ja, das ist das Schlimmste«, pflichtet Sagas Mutter ihr bei. »Was das mit den Kindern macht.«
Die Hausfrau sagt:
»Sie können traumatisiert werden.«
Sie schweigen einen Moment. Es wirkt fast, als würden sie sich den Ernst auf der Zunge zergehen lassen und darauf warten, wie die Unruhe in ihnen wächst.
Der Regisseur hat sein Gespräch mit den Jungen beendet. Er geht gar nicht erst zu den Mädchen, sondern ruft ihnen nur zu: Denkt dran, die ganze Zeit präsent zu sein, okay? Er ist ein ziemlich junger Mann, groß und dünn, mit vollem dunkelbraunem Haar und einer Hornbrille, wie sie Männer in den Zwanzigern gerne tragen, um zu zeigen, wie innovativ sie sind. Er hat die Stelle kurz vor dem Sommer angetreten. Auf dem Elternabend im August stellte er sich vor, er heiße Gard, sagte er, sei frisch ausgebildet und wolle gerne mit Jugendlichen arbeiten, weil er finde, zu diesem Zeitpunkt im Leben sei man neuen Impulsen gegenüber am ehesten aufgeschlossen. Er wolle sie mit der Weltliteratur vertraut machen.
Das Stück, das er mit ihnen einübte, war Die Dreigroschenoper von Bertolt Brecht. Niemand konnte behaupten, er besäße keinen Ehrgeiz. Eigentlich war Theater ein reines Wahlfach, doch er hatte sich erfolgreich dafür eingesetzt, den Deutsch-, Norwegisch- und Musiklehrern ein paar Stunden abzuringen. Das war gut angekommen, und selbst Emma, die anfangs nicht besonders interessiert gewesen war, hatte sich für die Theatergruppe beworben, als ihr klar wurde, dass sie auch auf der Bühne stehen konnte, anstatt deutsche Verben zu konjugieren.
»Seid ihr bereit?«, ruft er auf die Bühne und fährt sich mit der Hand durch den kräftigen Haarschopf. »Ja, eigentlich sollte jetzt ja die Musik spielen, aber weil Merete heute nicht hier ist, müssen wir ohne sie auskommen. Ich markiere also nur kurz die Melodie. Eins, zwei und ta-ram-tam-tam-tam.«
Für seine schlaksige Gestalt hat er eine beeindruckend tiefe Stimme. Trotzdem ersetzt sein Summen nicht Meretes tiefe, suggestive Klavierakkorde, die diese Szene für gewöhnlich begleiten. Die Hausfrau fragt: »Merete ist gar nicht da?«
»Sie ist wohl mit Filippa zum Zelten gefahren«, sagt Sagas Mutter. »Und du weißt ja, Jørgen ist kein großer Theaterfreund.«
»Zelten«, sagt die Hausfrau und hebt eine Augenbraue. »Obwohl sie heute proben?«
Als hätten wir an einem Samstag nicht auch etwas Besseres vor, besagt diese eine Augenbraue. Als würden wir gerne hier stehen, in dieser Turnhalle, in der es auch dann noch nach Schweiß riecht, wenn die Wände mit Bühnenvorhängen geschmückt sind. Als hätten wir keine Ferienhütten, die winterfest gemacht, Gärten und Häuser, die gepflegt, und Skier, die rechtzeitig vor Saisonbeginn präpariert werden müssten?
Ich sage nichts. Emma wird nach der Probe mit zu Saga gehen, weil ich meine Schwester im Café treffen möchte, in einer Stunde werde ich mich davonschleichen, ich bin auch nicht viel besser.
In der ersten Reihe sitzt Nina Sparre, die stellvertretende Schuldirektorin, die in unserem Haus auf der anderen Seite des Flurs wohnt. Ich sehe ihren kleinen Kopf mit den kurzen Haaren hastig nicken, als wäre ihr Hals eine Sprungfeder. Was macht sie hier, denke ich, warum verbringt sie ihren Samstag damit, diesen Proben beizuwohnen? Vermutlich nimmt sie als Repräsentantin der Schulleitung teil. Vor einiger Zeit hatte es eine Kontroverse um die Aufführung gegeben, ein paar Eltern waren der Meinung gewesen, Brecht hätte unpassend viele Prostituierte in das Stück hineingeschrieben, und es wurden wütende Mails gewechselt. Die Schule konnte die erregten Gemüter beruhigen, indem sie das Stück ein wenig anpasste – aus den Prostituierten wurden Tänzerinnen –, aber vielleicht ist die Leitung dennoch auf der Hut und entsendet Nina, um alle neuen Proteste im Keim zu ersticken. Sie reckt ihren dünnen Vogelhals, und obwohl ich nur ihren Hinterkopf sehe, kann ich mir vorstellen, wie sie ihre Umgebung untersucht, mit eifrig umherspähenden Augen, damit ihr auch ja kein Detail entgeht.
»Ach, ich muss die ganze Zeit an diese Katzen denken«, sagt Sagas Mutter, und dann richtet sie sich an mich: »Wurde unten bei euch nicht auch eine gefunden, Rikke?«
»Nein«, antworte ich schnell, »das war im Hauges vei. Und zwar ziemlich weit am unteren Ende.«
Sie nickt. Die Hausfrauenmutter wirft mir einen skeptischen Blick zu. Meiner Meinung nach hat die Nachbarschaft diesen Fall mit den verschwundenen und getöteten Katzen ein bisschen zu ernst genommen. Natürlich kann es einen gruseln, und ich verstehe auch, dass es die Menschen bewegt, aber diese kollektive Panik erscheint mir doch ein wenig unangemessen. Man wirft mit großen Worten um sich, Bösartigkeit, traumatisierend, Kriminalität. Sogar die Polizei wurde eingeschaltet.
»Aber weißt du«, sagt die Hausfrauenmutter, »das könnte überall in Tåsen passieren. Wenn so ein Psychopath erst einmal damit angefangen hat, ist niemand mehr im Viertel sicher.«
Beide haben ihr Gesicht in tiefe Sorgenfalten gelegt.
»Was geht eigentlich im Kopf eines Menschen vor, der so etwas macht?«, fragt Sagas Mutter leise.
Jetzt kann ich mich nicht mehr zurückhalten.
»Aber wird das alles nicht ein bisschen aufgebauscht?«, frage ich.
Sie sehen mich an.
»Klar bekommen die Leute Angst, wenn so etwas in ihrer näheren Umgebung passiert«, fahre ich fort....
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2023 |
---|---|
Übersetzer | Ursel Allenstein |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Elskeren |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • Bestseller aus Norwegen • eBooks • Geständnis • heimlicher Geliebter • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Lügen • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Norwegen • psychologische Spannung • Psychothriller • Thriller |
ISBN-10 | 3-641-26396-4 / 3641263964 |
ISBN-13 | 978-3-641-26396-6 / 9783641263966 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich