Wo wir uns trafen (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2023
384 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-28891-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo wir uns trafen -  Sofia Lundberg
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Nur wahre Freundschaft berührt dein Herz ...
Lidingö, Südschweden: Jeden zweiten Samstag sitzt die frisch geschiedene Esther auf einer Bank unter einer alten Eiche und schaut hinaus aufs Meer. Die Wochenenden, die ihr Sohn bei seinem Vater verbringt, sind schwer, und hier kann Esther ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Eines Tages trifft sie dort auf Rut, eine alleinstehende, ältere Dame, die Esther mit ihrer warmherzigen Art tröstet. Zwischen den beiden Frauen entsteht eine tiefe Freundschaft, und die Bank am Meer wird zu ihrem regelmäßigen Treffpunkt. Doch dann verschwindet Rut, und als Esther sich auf die Suche nach ihr macht, kommt sie einer dramatischen Lebensgeschichte auf die Spur ...

Sofia Lundberg wurde 1974 geboren und arbeitete als Journalistin in Stockholm, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Büchern widmete. Mit ihrem Debütroman »Das rote Adressbuch« eroberte sie die schwedische Literatur- und Bloggerszene im Sturm, woraufhin die Rechte in über 30 Länder verkauft wurden.

5.


Es hat vor Kurzem geregnet, die Straße ist voller Pfützen. Esther weicht ihnen so gut es geht aus, aber ihre Schuhe werden trotzdem nass und schmutzig. Es ist mitten am Tag, aber gefühlt könnte die Sonne jeden Augenblick untergehen. Sie hängt tief über den Baumwipfeln und kämpft sich durch eine schleiergraue Wolkenschicht. Die Stunden, die ihr unter der Eiche bleiben, werden immer kürzer werden. Aber angesichts der fallenden Temperaturen und dem nahenden Dezember ist das vielleicht auch gut so.

Ihr Handy klingelt, wie schon den ganzen Morgen. Bisher hat sie keine Lust gehabt ranzugehen. Jetzt gibt sie auf, bleibt stehen und sieht hinaus aufs Wasser, während sie es aus der Jackentasche zieht.

»Hallo, Mama«, sagt sie.

»Endlich bekomme ich dich zu fassen. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Die Stimme von Esthers Mutter klingt vorwurfsvoll.

»Ach was, alles in Ordnung, was soll denn passiert sein? Ich hatte einfach viel um die Ohren.«

»Du arbeitest doch nicht das ganze Wochenende, wenn Adrian nicht da ist? Liebes, denk an deine Gesundheit. Du musst auch mal ausgehen, unter Leute kommen und Spaß haben.«

»Hast du was Bestimmtes auf dem Herzen?«

»Ich wollte fragen, wie wir es an Weihnachten machen? Kommt ihr alle zusammen?«

»Ja, wir kommen. Das habe ich dir doch schon gesagt.«

»Ich freue mich so darauf, dich und Alex und Adrian ein bisschen zu verwöhnen.«

»Ach Mama, Alex kommt nicht mit. Wir sind geschieden, das weißt du doch.«

»Ich dachte nur …«

»Hör auf damit. Adrian und ich kommen. Wir sind ›alle zusammen‹. Ich muss jetzt auflegen, ciao.«

Sie beschleunigt ihre Schritte, keucht vor Anstrengung, ihre Wangen brennen vor Kälte. Sie hat sich eine dicke Wolldecke unter den Arm geklemmt, die Mütze ist tief ins Gesicht gezogen, und um den Hals hat sie sich einen kuscheligen Schal geschlungen. Ihre Augen sind wie jeden zweiten Samstag rot und verquollen. Sie ist müde und ausgelaugt vom vielen Weinen. Erschöpft. Der Abschied gestern war schrecklich gewesen. Adrian war zwei Tage länger bei ihr geblieben, weil er mit Fieber im Bett gelegen hatte und nicht wegwollte. Er saß im Kindersitz auf der Rückbank und streckte ihr seine Arme entgegen. »Mama, Mama!«, rief er mit glühenden Wangen, schweißnass im Gesicht.

Alex fuhr unbeirrt los, obwohl Esther hinter ihm herrannte. »Halt an!«, schrie sie hinter ihm her, obwohl sie genau wusste, dass sie sich beruhigen, sich erwachsen verhalten sollte.

Der Wagen fuhr davon, Adrians Weinen verstummte. Aber nicht in ihrem Inneren. Dort hörte sie es immer noch.

Jemand hat die Bank verschoben. Sie steht nicht mehr am Stamm der Eiche. Mühsam zerrt sie die Bank zurück an ihren Platz unter dem eingeritzten Herzen. Nur dort sind sie noch eine Familie, von Liebe umschlungen.

Alex ist mit Adrian übers Wochenende aufs Land gefahren. Sie besuchen die Eltern seiner neuen Freundin. Zu einer neuen Beziehung gehören auch neue Großeltern. Sie sind selbstverständlich großartig, zumindest wenn Alex über sie spricht. Wohlhabend, erfolgreich, klug und ganz reizend. Sie lachen so viel zusammen. Adrian geht es hervorragend dort. Sie hält den Hörer weit weg vom Ohr, wenn Alex mit seiner Schwärmerei beginnt, damit seine Worte sie nicht zerstören. Seine Superlative, die in ihr nichts als schlechte Gefühle wie Missgunst, Eifersucht, Panik und Schuld auslösen. Sie weiß, dass sie kein Recht dazu hat.

»Bist du jetzt zufrieden? War es das, was du wolltest?«, beendet Alex in der Regel das Telefonat.

Ob sie zufrieden ist? Nein, wie sollte sie?

Sie kriegt keine Ordnung in ihre Gedanken, sosehr sie sich auch bemüht. Stundenlang sitzt sie dort unter der Eiche und grübelt. Sie hätte es früher sehen müssen, alle Zeichen deuteten daraufhin. Aber hätte sie es früher erkannt, gäbe es Adrian vielleicht nicht. Und Adrian ist das Beste, was ihr passieren konnte. Er ist ihr Ein und Alles. Er ist ihr Leben, das, was noch davon übrig ist. Er ist ihre Freude, Liebe und Kraft. Sie kann sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.

Es musste so sein. Ohne Alex keinen Adrian.

Sie wickelt sich in die Decke, stopft den Rest als Schutz gegen die Kälte unter die Beine. Ein sanfter Wind trägt den Duft von Tang heran, der beim letzten Sturm in rauen Mengen ans Ufer gespült wurde. Hier unter der Eiche findet sie endlich Frieden und kann tief und gleichmäßig atmen.

»Es wird bald wieder regnen. Sehen Sie nur die dunklen Wolken. Sieht eigentlich ganz malerisch aus, wie der stahlgraue Himmel und das tiefblaue Meer aufeinandertreffen.«

Esther zuckt zusammen. Rut sitzt am anderen Ende der Bank, den Blick aufs Meer gerichtet. Wo ist sie jetzt plötzlich hergekommen? Esther muss kurz weggenickt sein.

»Es regnet doch schon die ganze Zeit. Meine Güte, ist das dunkel«, jammert Esther.

Rut rutscht näher zu ihr. Sie trägt eine rote, in die Jahre gekommene Daunenjacke, zerschlissen und mit zerfransten Bündchen. Sie zuckt übertrieben mit den Schultern und spreizt ihre Finger ab.

»An solchen Tagen braucht man den Pinguin«, sagt sie. »Garstig ist wohl das richtige Wort dafür.«

»Pinguin? Hier gibt es doch keine Pinguine.«

Rut lacht laut auf, gerät kurz aus dem Gleichgewicht und bringt die Bank zum Wanken. Sie steht auf und baut sich vor Esther auf.

»So, hier«, sagt sie, presst die Arme an ihren Körper, winkelt die Hände nach außen ab und zuckt mit den Schultern. »Sie waren offenbar nie in einer Skischule? Dort lernen die Kinder das, um sich warm zu halten.«

Esther schüttelt den Kopf und lächelt.

»Probieren Sie es, Sie werden sehen, dass es funktioniert.«

Esther wickelt sich die Decke um die Hüfte, presst die Arme an den Körper, spreizt ihre Hände ab und zuckt mit den Schultern.

»Schneller«, feuert Rut sie an.

Esther schüttet sich aus vor Lachen und lässt sich kichernd auf die Bank plumpsen.

»Ich friere gar nicht«, sagt sie, als sie wieder sprechen kann. »Ich habe doch die dicke Decke dabei.«

»Ja, Sie sind bestens für dieses Wetter ausgestattet. Aber so was hier haben Sie nicht dabei, oder?«

Rut grinst verschmitzt, als sie eine kleine Thermoskanne aus der Innentasche ihrer Jacke zieht. Sie schraubt den Deckel ab, gießt etwas von der dampfenden Flüssigkeit hinein und reicht ihn Esther.

»Ich werde doch nicht Ihren Kaffee austrinken. Der ist für Sie.«

Aber Rut besteht darauf, dass Esther den kleinen Becher nimmt und zaubert mit der freien Hand einen zweiten Plastikbecher aus der anderen Jackentasche.

»Ich habe immer einen zweiten Becher dabei, für den Fall, dass jemand mir Gesellschaft leisten will. Ich heiße Rut. Prost!« Sie stößt mit ihrem Becher gegen Esthers.

»Ich weiß, wir haben uns doch vor ein paar Wochen unten am Wasser getroffen. Ich bin Esther. Freut mich, Rut.«

Rut mustert sie durchdringend.

»Das stimmt.«

Schweigend sitzen sie eine Weile nebeneinander auf der Bank und genießen die Wärme, die sich in ihnen ausbreitet. Esther legt Rut ein Ende der Decke über die Beine. Sie lehnen sich an den Stamm der Eiche.

»Es ist so zugewuchert hier, wir sollten ein paar von den Büschen beschneiden, damit sie uns nicht die Sicht versperren«, sagt Rut und zeigt zum Wasser.

»Das können wir doch nicht einfach machen. Das Grundstück gehört doch sicher jemandem. Der Gemeinde, vielleicht?«

Rut lächelt wieder verschmitzt, steht auf und läuft mit schmatzenden Stiefeln über den feuchten Boden. Esther hört, wie sie vor sich hinmurmelt.

»Der muss weg und der da muss weg und der auch.« Sie dreht sich zu Esther um und stemmt ihre Hände in die Hüfte. »Los, komm. Sitz nicht so träge da rum. Wir haben was zu tun!«, ruft Rut.

An einem der jungen Bäume lehnt eine Säge. Rut holt sie und hält sie Esther hin.

»So, bitte sehr. Ich bin alt, das musst du erledigen. Du bist jung und stark. Aber säg sie so weit unten ab, dass wir nicht die hässlichen Stümpfe sehen müssen.«

»Ist das dein Ernst?«

»Wir brauchen freie Sicht aufs Meer. Solange ich mich erinnere, ist es immer so gewesen. Dieses Gestrüpp versperrt den Blick auf das Schöne. Los, sägen!«

Esther zögert, dann setzt sie aber doch die Säge an. Das rostige Sägeblatt ist anfangs etwas widerspenstig und bleibt immer wieder in dem kräftigen Stamm stecken. Sie muss die Säge mit beiden Händen halten. Irgendwann gibt das Holz endlich nach, und der Stamm fällt um. Rut tänzelt zufrieden hin und her und bringt Esther mit ihrem Enthusiasmus zum Lachen.

Gemeinsam schleppen sie die dünnen Stämme weg und stapeln sie auf einen Haufen. Rut reibt sich den Rücken und lässt den Ast fallen, den sie in der Hand hält.

»Hast du Schmerzen?«

»Der Rücken«, klagt sie. »Er mag nicht mehr.«

Esther nimmt den Ast, den Rut fallen lassen hat, und wirft ihn auf den Haufen zu den anderen.

»Ruh dich ein bisschen aus, ich mache das hier. Das geht ja schnell.«

Rut schnaubt und streckt die Arme in die Luft.

»Mein Rücken streikt, aber das gilt nicht für mich!«, sagt sie und bückt sich, greift nach ein paar dünneren Zweigen und schleift sie hinter sich her.

Am Ende ist alles abgesägt und aufgeräumt. Esther hat die körperliche Arbeit gutgetan, ihre Wangen glühen, und ihr Unglück ist für eine Weile im Pausenmodus. Dennoch kann sie gar nicht anders, als an Adrian zu denken.

»Adrian wäre begeistert.«

»Wer ist...

Erscheint lt. Verlag 26.4.2023
Übersetzer Maike Dörries, Kerstin Schöps
Sprache deutsch
Original-Titel Och eken står där än
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2023 • eBooks • Frauenfreundschaft • Freundschaft • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Roman • Romane • Schweden • Skandinavien
ISBN-10 3-641-28891-6 / 3641288916
ISBN-13 978-3-641-28891-4 / 9783641288914
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