6 Tote (eBook)
368 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-29873-9 (ISBN)
Als Polizistin in Auckland und getrennt lebende Mutter einer Teenie-Tochter, hat Hana Westerman sich angewöhnt, stets nach vorn zu blicken. Doch ihr schwierigster Fall hat gerade erst begonnen: Ein mysteriöser Tippgeber weist ihr den Weg zu einem Toten, aufgehängt in einem geheimen Raum. Zu diesem Zeitpunkt ahnt Hana noch nicht, dass sie es mit dem ersten Serienkiller in der Geschichte Neuseelands zu tun hat. Doch warum hat der Täter ausgerechnet sie auf seine Fährte gelockt? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, muss Hana sich ihrer Vergangenheit stellen - und damit dem dunkelsten Kapitel ihrer Vergangenheit ...
Michael Bennett (Ng?ti Pikiao, Ng?ti Whakaue) arbeitet als preisgekrönter Regisseur, Produzent und Showrunner für Film und Fernsehen in Neuseeland (Aotearoa). »6 Tote« ist der erste Fall für Detective Senior Sergeant Hana Westerman. In seinem Thriller-Debüt verknüpft Michael Bennett seine Leidenschaft für spannende Geschichten mit Fragen von Identität und Herkunft, die eng mit dem kolonialen Erbe seiner Heimat verbunden sind. Mit seiner Partnerin und seinen drei Kindern lebt Michael Bennett in Auckland (T?maki Makaurau).
2
HANA
Einhundertsechzig Jahre später
Hana wühlt mit den Händen in der Erde. So wie sie es mag. Der Boden in ihrem Garten ist unglaublich fruchtbar. Auckland ist die erste größere Stadt seit Pompeji, die auf einem aktiven Vulkanfeld errichtet wurde, und aufgrund der heftigen Eruptionen der vergangenen Jahrtausende sind die Gärten in den innerstädtischen Wohngebieten dicht und üppig bewachsen. Der Nachteil ist, dass sich jederzeit plötzlich ein neuer Riss auftun kann; ganze Viertel könnten unter einem Regen von Lava und Asche begraben werden. Zwar gab es seit tausend Jahren keinen Ausbruch mehr, aber für einen pessimistischen Menschen ist das mehr Anlass zur Sorge als zur Zuversicht. Der Vorteil ist, dass in der Innenstadt von Auckland Pflanzen prächtig gedeihen.
Hanas Garten ist eine Oase, ein Zufluchtsort, in dem alles sehr viel unkomplizierter ist als in der Welt, die ihren Alltag bestimmt. Eigentlich ist es weniger ein Garten, sondern eher ein kleiner Regenwald. Es gibt hier Keulenlilien, Flachspflanzen und einen ehemaligen Goldfischteich mit Seerosen und Brunnenkresse. Außerdem eine einheimische Palme, eine riesige, sieben Meter hohe Nikau-Palme, die am Rand des Grundstücks steht. Die Nachbarn hinterlassen Hana regelmäßig kleine Nachrichten, in denen sie ihrem Ärger über die Palme Luft machen, Nachrichten, die Hana jedes Mal, nachdem sie sie gelesen hat, wieder zusammenfaltet und in der Mülltonne entsorgt. Die Nikau-Palme ist um die achtzig Jahre alt, wahrscheinlich sogar älter. Sie ist in diesem Vorort länger heimisch als sonst irgendjemand. Hana wird sie auf keinen Fall stutzen oder fällen, nur weil die kürzlich eingezogenen Nachbarn – die Steuerberater, Architekten oder wer weiß was sind – eine bessere Aussicht haben wollen.
In diesem Moment vibriert das Telefon in der Tasche der alten Jeans, die sie immer bei der Gartenarbeit trägt. Doch sie ignoriert es und richtet sich auf, streckt ihren Körper und wischt sich die Hände an der Jeans ab.
Hana hat dunkle Augen. Sie sind so dunkel, dass man in einem bestimmten Licht nicht erkennen kann, ob sie braun oder schwarz sind. Die Erde, die sie auf ihrer Hose verschmiert hat, ist fast genauso dunkel wie ihre Augen. Aber nur fast. Eine Schlingpflanze hat sich um die Zweige eines prächtig gedeihenden Kava-Kava-Strauches gewickelt. Hana muss sich darum kümmern. Sie bricht von dem Strauch ein Blatt ab, das mit Löchern übersät ist. Sie kann sich noch erinnern, dass in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, weit weg von Auckland, einer der Ältesten ihres Iwi einmal mit einer Gruppe kleiner Kinder in den Busch ging, um ihnen etwas über die Pflanzen des Waldes beizubringen. »Die Raupen wissen, welche Blätter die besten sind«, sagte er auf Te Reo Māori.
Das ist lange her.
Eine halbe Ewigkeit.
Hana beißt in das von Raupen zerfressene Blatt. Es hat einen pfefferartigen Geschmack, der ihr nur allzu vertraut ist. Es schmeckt gut. Wirklich gut. Sie kaut darauf herum, während sie in ihre Tasche greift, das Telefon herauszieht und die neueste SMS liest.
Hast du die Unterlagen gefunden?
Sie starrt auf die Worte. Hana ist eine Problemlöserin und nimmt normalerweise, ohne zu zögern, die schwierigsten Aufgaben sofort in Angriff. Aber diese Frage will sie nicht beantworten. Also steckt sie das Telefon wieder in die Tasche.
Vor der Hintertür streift Hana ihre schmutzigen Schuhe ab.
Ihr Haus ist zweckmäßig möbliert. Mit seiner schlichten, minimalistischen Einrichtung ist es das Gegenteil ihres dschungelartigen Gartens und entspricht den Bedürfnissen einer Frau von Ende dreißig, die gerne alleine lebt, einer Frau, die Klarheit und Ordnung zu schätzen weiß. Oben im Gästezimmer befindet sich ein Atelier. Der lichtdurchflutete Raum ist der einzige im Haus, der mit Sachen vollgestopft ist. Auf dem Boden liegen zusammengerollte Leinwände, und es stehen Kisten mit Farben und Bleistiften herum.
An den Wänden hängen mehrere Bleistiftzeichnungen. Es handelt sich um fertige Arbeiten. Akribisch, präzise und kunstfertig ausgeführt. Die Serie zeigt ein Mädchen und verfolgt seine Entwicklung vom Kleinkind bis zum Teenageralter. Auf einigen der Bilder ist das Mädchen als Baby zusammen mit einer Frau und einem Mann zu sehen. Die Bilder mit dem Mädchen als Kleinkind und Teenager zeigen dann nur noch das Mädchen oder das Mädchen zusammen mit der Mutter.
In ihrem Schlafzimmer im Erdgeschoss zieht Hana eine Kiste unter ihrem Bett hervor. Sie wühlt sich durch einen Stapel Rechnungen und nimmt das amtliche Dokument heraus, das ganz unten liegt.
Antrag auf Aufhebung einer Ehe oder eingetragenen Lebenspartnerschaft.
Sie hält das Dokument lange in der Hand. Dann legt sie es wieder unter die Stromrechnungen und schiebt die Kiste zurück unters Bett.
Während einer Gerichtsverhandlung versucht Hana, immer an einer bestimmten Stelle zu sitzen. Die Angehörigen und Freunde des Angeklagten belegen stets die Plätze direkt neben ihm. Das ist für einen Polizisten nicht gerade der angenehmste Platz, erst recht nicht, wenn man als leitender Ermittler die Verhaftung vorgenommen hat. Aber es gibt eine perfekte Position, ein paar Meter von den Unterstützern des Angeklagten entfernt; von dort aus kann man sein Gesicht im Profil sehen – es ist wirklich erstaunlich, was Kieferbewegungen, Kopfhaltung und Augen alles verraten. Blicken sie nach vorne, oder sind sie auf den Boden gerichtet? Gleichzeitig kann man von dort aus die Verteidiger und den Richter sehen.
»Ich habe Ihnen den Platz freigehalten, D Senior«, sagt Stan, als Hana sich neben ihn setzt. Sie nimmt sich für den schlaksigen und oft etwas ungeschickten Detective Constable stets jede Menge Zeit. Stan hat als Jahrgangsbester seinen Abschluss gemacht, aber was Hana noch sehr viel mehr beeindruckt: Er weiß, dass die Ausbildung an der Polizeischule nichts mit der tatsächlichen Arbeit zu tun hat und dass die Noten auf dem Abschlusszeugnis völlig bedeutungslos sind. Er ist intelligent und lernt schnell, und er will wirklich etwas lernen.
Man hat den Angeklagten noch nicht zur Anklagebank geführt, aber seine Familie hat bereits Platz genommen. Wie Hana warten die Angehörigen jetzt, während sich der sündhaft teure Anwalt, den sie engagiert haben, leise mit ihnen unterhält. In diesem Moment öffnet sich die Tür zum Zuschauerraum, und eine größere Gruppe von Leuten tritt mit respektvollem Schweigen ein. Unter ihnen ist eine junge Frau namens Ria, die von ihren Eltern begleitet wird, einem Paar mittleren Alters; sie sind alle Māori. Etwa ein Dutzend Verwandte sind ebenfalls zur Unterstützung mitgekommen. Hana wirft Ria und ihren Eltern, die gegenüber der Familie des Angeklagten Platz nehmen, ein freundliches Lächeln zu. Die Klägerin und ihre Eltern haben das Schlimmste jetzt überstanden, und Hana ist froh darüber. Während des Prozesses haben die Eltern die Aussage ihrer Tochter gehört. Tapfer hatte die junge Frau darauf verzichtet, ihre Aussage per Videoschaltung zu machen, weil sie wollte, dass der Angeklagte ihr Gesicht sah, als sie dem Gericht erzählte, was er ihr angetan hat.
Hana hatte den Eltern erklärt, dass das für Ria äußerst belastend sein würde. »Aber es macht einen Unterschied.« Und das tat es.
Ria wirkte im Zeugenstand äußerst gefasst. Und entschlossen. Sie erzählte den Geschworenen, dass sie mit dem jungen Mann über eine Dating-Website Kontakt aufgenommen und zunächst ein gutes Gefühl hatte, als sie gegenseitig Nachrichten austauschten. Er absolvierte das letzte Jahr seines Jurastudiums und spielte für die Rugby-Nationalmannschaft. Aber er wirkte keineswegs arrogant oder wie ein Arschloch; er konnte sogar über sich selbst lachen. Sie traf sich dann mit ihm in der Bar eines schicken Hotels, wo sie eigentlich sicher war. Doch sie wusste sofort, dass sie einen Fehler gemacht hatte, als der angedeutete Begrüßungskuss auf die Wange zu einem unerwünschten Kuss auf ihren Mund führte. Dann setzte er sich direkt neben sie, sodass sich ihre Beine berührten. Er wahrte keinerlei persönlichen Abstand. Und sein Lächeln wirkte weniger freundlich als vielmehr besitzergreifend. Die junge Frau erzählte den Geschworenen, dass er offenbar fest davon ausging, mit ihr Sex zu haben, weil sie auf der Dating-App ihr Interesse bekundet hatte. Aber egal wie unwohl sie sich fühlt – und an diesem Abend fühlte sie sich sehr unwohl –, sie hat eine Regel: Selbst wenn sie jemanden völlig unattraktiv findet, bleibt sie auf einen Höflichkeitsdrink. Das gebietet der Anstand. »Männer haben schließlich auch Gefühle«, erklärte sie dem Gericht. »Man kann wenigstens auf einen Drink bleiben. Nur einen Drink.«
Doch ein Drink genügte. Eine später entnommene Blutprobe wies das schnell wirkende Betäubungsmittel nach, das in ihren Mojito gewandert war. Es sei wie eine außerkörperliche Erfahrung gewesen, sagte Ria, es sei alles ganz schnell gegangen. Sie wollte die Toilette aufsuchen, aber sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Jurastudent half ihr dann zum Fahrstuhl und versprach ihr, unten in der Lobby ein Uber-Taxi zu rufen, das sie ins Krankenhaus bringen sollte. Aber als sich die Aufzugtür schloss, fuhr er nicht nach unten, sondern nach oben. Hinauf zu dem Zimmer, das er bereits gebucht hatte. Als sich die Aufzugtür wieder öffnete, konnte Ria nicht mehr reden und kaum noch gehen. Der Student war gut dreißig Kilo schwerer als sie und hatte die kräftigen Muskeln eines linken Flügelstürmers; er kam nicht mal ins Schwitzen, während er sie vom Fahrstuhl zu seinem Zimmer trug. Selbst wenn sie in der Lage gewesen wäre, sich zur...
Erscheint lt. Verlag | 1.7.2023 |
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Reihe/Serie | Die-Hana-Westerman-Serie | Die-Hana-Westerman-Serie |
Übersetzer | Frank Dabrock, Martin Ruf |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Better the Blood |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • Auckland • Aukland • Aukland-Thriller • Blutrache • Bücher aus Neuseeland • Diskriminierung • Diversity • eBooks • Geschichte • Kolonialismus • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Maori • Māori • Maori-Ermittlerin • Neuerscheinung • Neue Thriller 2023 • neuseeländischer Thriller • non-binär • Postkolonialismus • Rassismus • Ritualmord • Schuld • sensible Sprache • Serienkiller • spannende Bücher 2023 • Thriller • Thriller neu 2023 • Utu • Vorfahren • weibliche Ermittlerin |
ISBN-10 | 3-641-29873-3 / 3641298733 |
ISBN-13 | 978-3-641-29873-9 / 9783641298739 |
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