Biloxi, Mississippi: Die Einwanderersöhne Keith und Hugh wachsen in den Sechzigerjahren gemeinsam auf, verbunden durch eine scheinbar unverbrüchliche Freundschaft. Bis sie sich auf den verschiedenen Seiten des Gesetzes wiederfinden: Keith hat Jura studiert und ist Staatsanwalt geworden. Hugh dagegen arbeitet für seinen Vater, einen Boss der Dixie-Mafia.
Eine tödliche Feindschaft entsteht, die vor Gericht ein dramatisches Finale findet.
John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
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Vor hundert Jahren war Biloxi ein geschäftiger Urlaubs- und Fischerort an der Golfküste. Einige der zwölftausend Einwohner arbeiteten im Schiffbau, andere in den Hotels und Restaurants, doch die meisten verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit den Meeresfrüchten, die dort aus dem Wasser geholt wurden. Es waren Einwanderer aus Osteuropa, meist aus Kroatien, wo ihre Vorfahren seit Jahrhunderten in der Adria gefischt hatten. Die Männer heuerten auf den Schonern und Kuttern an und ernteten die Meeresfrüchte aus dem Golf, während die Frauen und Kinder für zehn Cent die Stunde Austern öffneten und Garnelen verpackten. In einer als Back Bay bekannten Gegend standen dicht an dicht vierzig Konservenfabriken. 1925 verschickte Biloxi zwanzig Millionen Tonnen Meeresfrüchte in den Rest des Landes. Die Nachfrage war so groß, das Angebot so gewaltig, dass die Stadt als »Meeresfrüchte-Hauptstadt der Welt« galt.
Die Einwanderer lebten in Baracken oder kleinen, ärmlichen Häusern auf dem Point Cadet, einer Halbinsel am östlichen Stadtrand von Biloxi, nur ein paar Schritte von den Stränden des Golfs entfernt. Ihre Eltern und Großeltern waren Polen, Ungarn, Tschechen und Kroaten, die sich innerhalb kurzer Zeit an die Gepflogenheiten ihrer neuen Heimat angepasst hatten. Die Kinder lernten Englisch, brachten es ihren Eltern bei und benutzten zu Hause nur noch selten ihre Muttersprache. Die meisten Nachnamen waren für die Beamten der Einwanderungsbehörde unaussprechbar gewesen und im Hafen von New Orleans und auf Ellis Island geändert und amerikanisiert worden. Auf den Friedhöfen in Biloxi gab es Grabsteine mit Namen wie Jurkovich, Horvat, Conovich, Kasich, Rodak, Babbich und Peranich, die verstreut zwischen denen von Smith, Brown, O’Keefe, Mattina und Bellande standen. Am Anfang blieben die Einwanderer für sich und unterstützten sich gegenseitig, doch ab der zweiten Generation heirateten sie in die ansässigen französischen und angloamerikanischen Familien ein.
Es war die Zeit der Prohibition, und im tiefen Süden der Vereinigten Staaten versagten sich die meisten der rechtschaffenen Baptisten und Methodisten den Genuss von Alkohol. Doch die Menschen europäischer Abstammung und katholischen Glaubens an der Küste hielten nicht viel davon, enthaltsam zu leben. Genau genommen war Biloxi nie trocken, trotz des Achtzehnten Zusatzartikels zur Verfassung. Obwohl 1920 Herstellung, Transport und Verkauf von Alkohol landesweit verboten waren, bekam man dort kaum etwas davon mit. Die Bars, Spelunken, Pubs und exklusiven Clubs der Stadt blieben nicht nur offen, sie florierten sogar. Illegale Kneipen waren nicht notwendig, schließlich gab es Bier und Schnaps an jeder Ecke, und niemand, vor allem nicht die Polizei, interessierte sich für das Alkoholverbot. Biloxi entwickelte sich zu einem beliebten Ziel für Südstaatler mit ausgedörrten Kehlen. Dazu kamen noch der Reiz der Strände, delikate Meeresfrüchte, ein gemäßigtes Klima und gute Hotels, und der Tourismus entwickelte sich prächtig. Vor hundert Jahren wurde die Golfküste auch »Riviera des armen Mannes« genannt.
Wie immer erwies sich unkontrolliertes Laster als ansteckend. Zur Trinkerei gesellte sich Glücksspiel. In Bars und Clubs wurden behelfsmäßige Casinos eingerichtet. Poker, Blackjack und Würfel wurden vor aller Augen gespielt und waren überall zu finden. Im Eingangsbereich der schicken Hotels standen lange Reihen von Spielautomaten, die in eklatanter Missachtung des Gesetzes betrieben wurden.
Bordelle hatte es schon immer gegeben, doch sie wurden diskret geführt. In Biloxi war das anders. Dort kamen sie in Massen vor, und zu den Stammgästen zählten auch Polizisten und Politiker. Viele dieser Etablissements waren im selben Gebäude wie Bars und Spielhöllen untergebracht, sodass ein junger Mann, der sich amüsieren wollte, alles unter einem Dach vorfand.
Drogen wie Marihuana und Heroin waren problemlos zu bekommen, vor allem in den Bars und Clubs, wurden allerdings nicht ganz so offen angepriesen wie Sex und Alkohol.
Viele Journalisten konnten kaum glauben, dass man in einem derart konservativen Bundesstaat einfach über diese illegalen Aktivitäten hinwegsah. Sie schrieben Artikel um Artikel über die lockeren Sitten in Biloxi, aber nichts änderte sich. Niemand, der etwas zu sagen hatte, schien sich dafür zu interessieren. »In Biloxi ist das eben so«, hieß es einfach. Politiker begannen Feldzüge und schimpften über das Verbrechen, Prediger wetterten von ihren Kanzeln, doch es gab nie einen ernsthaften Versuch, an der Küste »aufzuräumen«.
Das größte Hindernis für jegliche Versuche zur Eindämmung der kriminellen Geschäfte war die langjährige Korruption unter Polizisten und gewählten Beamten. Cops und Deputys bekamen nur ein dürftiges Gehalt und waren mehr als gewillt, sich bestechen zu lassen und wegzuschauen. Die örtlichen Politiker waren leicht zu kaufen und wurden immer wohlhabender. Alle verdienten gut, alle amüsierten sich prächtig, warum sollte man etwas dagegen unternehmen? Die Leute, die zum Trinken und Spielen nach Biloxi kamen, wurden nicht dazu gezwungen. Wenn einem das lasterhafte Leben dort nicht gefiel, konnte man zu Hause bleiben oder nach New Orleans fahren. Aber wenn sich jemand dafür entschied, sein Geld in Biloxi auszugeben, konnte er sicher sein, nicht von der Polizei behelligt zu werden.
Die Kriminalität stieg erheblich, als 1941 ein großer Militärstützpunkt errichtet wurde, auf Land, das vorher dem Country Club von Biloxi gehört hatte. Er wurde Keesler Army Airfield genannt, nach einem Fliegerhelden aus dem Ersten Weltkrieg, der aus Mississippi stammte, und entwickelte sich bald zu einem Synonym für schlechtes Benehmen von mehreren Zehntausend Soldaten, die sich dort für den Krieg bereitmachten. Immer mehr Bars, Casinos, Bordelle und Stripteaselokale schossen aus dem Boden. Auch das Verbrechen florierte. Die Polizei wurde mit Beschwerden von Soldaten überhäuft: manipulierte Spielautomaten, betrügerische Kartengeber, mit Drogen versetzte Drinks und Prostituierte mit langen Fingern. Die Besitzer der Lokale machten ein Vermögen und beklagten sich nur selten, aber es gab jede Menge Schlägereien, Übergriffe gegen die Mädchen und zerbrochene Fensterscheiben und Whiskeyflaschen. Wie immer beschützte die Polizei diejenigen, von denen sie bezahlt wurde, und in den Gefängnissen wimmelte es von Soldaten. Über eine halbe Million von ihnen durchlief Keesler auf dem Weg nach Europa und in den Pazifikraum, und danach Korea und Vietnam.
Mit illegalen Aktivitäten wurde in Biloxi so viel Geld verdient, dass die übliche Palette an zwielichtigen Charakteren angelockt wurde: Berufsverbrecher, Gesetzlose, Schwarzbrenner, Alkoholschmuggler, Trickbetrüger, Auftragsmörder, Zuhälter, Schläger und die ehrgeizigere Kategorie der Gangsterbosse. Ende der 1950er ließen sich Mitglieder einer lose verbundenen Bande aus gewalttätigen Gangstern in Biloxi nieder, die als »Dixie-Mafia« bekannt war und sich vorgenommen hatte, einen Teil der illegalen Geschäfte an sich zu reißen. Davor hatte es immer wieder kleinere Streitigkeiten zwischen den Clubbesitzern gegeben, doch sie verdienten gutes Geld und führten ein angenehmes Leben. Hin und wieder gab es einen Mord, dazu kamen die üblichen Einschüchterungsversuche, doch niemand versuchte ernsthaft, die Führung zu übernehmen.
Bis auf den Ehrgeiz und die Brutalität hatte die Dixie-Mafia nur wenig mit der amerikanischen Cosa Nostra gemein. Sie war keine Familie, daher gab es wenig Loyalität. Die Mitglieder – das FBI wusste nie so genau, wer Mitglied war und wer nicht und wer nur behauptete, Mitglied zu sein – waren ein zusammengewürfelter Haufen aus Ganoven und gesellschaftlichen Außenseitern, die statt ehrlicher Arbeit das Verbrechen bevorzugten. Eine festgelegte Organisation oder Hierarchie gab es nicht. Kein Don an der Spitze, keine Schläger am unteren Ende, keine Gangster auf der Ebene dazwischen. Mit der Zeit gelang es einem der Clubbesitzer, seinen Anteil am Geschäft zu vergrößern und mehr Einfluss zu gewinnen. Er wurde »der Boss«.
Die Dixie-Mafia hatte einen Hang zur Gewalt, der das FBI oft überraschte. Mit der Zeit wurde sie immer größer, wobei sie eine erstaunliche Anzahl an Leichen hinter sich ließ. So gut wie keiner der Morde wurde je aufgeklärt. Es gab nur eine Regel, einen absolut bindenden, in Stein gemeißelten Blutschwur: »Du sollst niemanden an die Cops verpfeifen.« Wenn es doch einmal vorkam, wurde der Informant entweder im Straßengraben oder überhaupt nicht gefunden. Angeblich gab es Garnelenkutter, die dreißig Kilometer vor der Küste mit Gewichten beschwerte Leichen im tiefen, warmen Wasser des Mississippi Sound versenkten.
Biloxi war zwar für seine Gesetzlosigkeit bekannt, doch das Verbrechen in der Stadt wurde von den Clubbesitzern kontrolliert und mit Argusaugen von der Polizei beobachtet. Mit der Zeit konzentrierten sich die illegalen Geschäfte fast ganz auf einen bestimmten Teil der Stadt, einen knapp zwei Kilometer langen Abschnitt des Highway 90 am Strand. »Der Strip«, wie er genannt wurde, war gesäumt von Casinos, Bars und Bordellen und ließ sich von den gesetzestreuen Bürgern leicht ignorieren. Abseits davon gestaltete sich das Leben normal und sicher. Suchte jemand Ärger, war er problemlos zu finden. Ansonsten konnte man ihm aus dem Weg gehen. Biloxi florierte aufgrund von Meeresfrüchten, Schiffbau, Tourismus, Baumaßnahmen und der beeindruckenden Arbeitsmoral der Einwanderer, die von einer besseren Zukunft träumten. Die Stadt sorgte für Schulen, Krankenhäuser, Kirchen, Highways, Brücken, Uferdämme, Parks, Freizeiteinrichtungen und alles andere, was notwendig war, um der Bevölkerung das...
Erscheint lt. Verlag | 29.3.2023 |
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Übersetzer | Bea Reiter, Imke Walsh-Araya |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Boys from Biloxi |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • Agententhriller • Biloxi • Die Jury • Dixie-Mafia • eBooks • Familienfeindschaft • Justizthriller • Mississippi • Neuerscheinung • New-York-Times-Bestseller • Organisiertes Verbrechen • Politthriller • Spiegel-Bestseller-Autor • Staatsanwalt • Thriller • Thriller Neuerscheinung 2023 |
ISBN-10 | 3-641-30527-6 / 3641305276 |
ISBN-13 | 978-3-641-30527-7 / 9783641305277 |
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