Die schöne Diva von Saint-Jacques - Fred Vargas

Die schöne Diva von Saint-Jacques (eBook)

Kriminalroman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
336 Seiten
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-641-28948-5 (ISBN)
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Drei arbeitslose Historiker, eine verschwundene Sängerin und zwei Morde ... Der erste Fall für die drei Evangelisten von SPIEGEL-Bestsellerautorin Fred Vargas!
Die drei Evangelisten, so nennen sich die jungen, arbeitslosen Historiker Mathias, Marc und Lucien, die im Pariser Viertel Faubourg Saint-Jacques gemeinsam ein baufälliges Haus gemietet haben. Als ihre Nachbarin, die Sängerin Sophia, spurlos verschwindet, beginnt Marc auf eigene Faust zu ermitteln. Er weiß, dass sich Sophia bedroht fühlte, als in ihrem Garten eines Morgens ein Baum stand, der vorher nicht da war. Ohne es zu ahnen, sticht Marc in ein Wespennest. Zwei Morde sind die Folge, und auch sein Leben gerät in Gefahr. Die Evangelisten brauchen Hilfe. Und die bekommen sie von einem in Ungnade gefallenen Ex-Kommissar ...
Die Romane von Fred Vargas sind einzigartig. Wie kaum eine andere Autorin vereint sie außergewöhnliche Protagonisten, spannende Fälle und humorvolle Dialoge mit ganz viel französischem Flair.

Lesen Sie auch die legendären Kommissar-Adamsberg-Romane!

Fred Vargas, geboren 1957, ist ausgebildete Archäologin und hat Geschichte studiert. Sie ist heute die bedeutendste französische Kriminalautorin mit internationalem Renommee. 2004 erhielt sie für »Fliehe weit und schnell« den Deutschen Krimipreis, 2012 den Europäischen Krimipreis für ihr Gesamtwerk und 2016 den Deutschen Krimipreis in der Kategorie International für »Das barmherzige Fallbeil«.

1


»Pierre, im Garten stimmt was nicht«, sagte Sophia.

Sie öffnete das Fenster und musterte das Fleckchen Erde, auf dem sie jeden Grashalm kannte. Was sie sah, ließ sie frösteln. Pierre las die Zeitung beim Frühstück. Vielleicht sah Sophia deshalb so häufig aus dem Fenster. Um zu sehen, was für Wetter war. Das macht man ja oft, wenn man aufsteht. Und jedes Mal, wenn es draußen hässlich war, musste sie natürlich an Griechenland denken. Bei diesen Betrachtungen stiegen mit den Jahren immer häufiger nostalgische Erinnerungen in ihr hoch, die sich an manchen Morgen bis zu Groll steigerten. Dann war es wieder vorbei. Aber heute Morgen stimmte etwas nicht im Garten.

»Pierre, im Garten steht ein Baum.«

Sie setzte sich neben ihn.

»Pierre, sieh mich an.«

Pierre hob den Kopf und sah seine Frau gelangweilt an. Sophia legte ihren Schal ordentlich um den Hals, eine Gewohnheit, die sie aus ihrer Zeit als Sängerin bewahrt hatte. Die Stimme warm halten. Zwanzig Jahre zuvor hatte Pierre auf den steinernen Sitzreihen des römischen Theaters in Orange ein gewaltiges Gebirge aus Liebesschwüren und Beteuerungen errichtet. Unmittelbar vor einer Vorstellung.

Sophia streckte die Hand aus und zog das freudlose Gesicht des Zeitungslesers zu sich.

»Was ist mit dir, Sophia?«

»Ich habe etwas gesagt.«

»Ja?«

»Ich habe gesagt: ›Im Garten steht ein Baum.‹«

»Das habe ich gehört. Das scheint mir normal, oder?«

»Da steht ein Baum im Garten, der gestern noch nicht da stand.«

»Und weiter? Was geht mich das an?«

Sophia war beunruhigt. Sie wusste nicht, ob es die Zeitung war oder der gelangweilte Blick oder der Baum, aber es war klar, dass irgendetwas nicht stimmte.

»Pierre, erklär mir, wie ein Baum es anstellt, ganz allein in einen Garten zu kommen.«

Pierre zuckte mit den Schultern. Es war ihm vollständig egal.

»Was hat das für eine Bedeutung? Bäume pflanzen sich fort. Ein Samenkorn, ein Trieb, ein Wurzelschössling, und das war’s schon. Später werden in unseren Breiten große Wälder draus. Ich vermute mal, das weißt du.«

»Es ist kein Trieb. Es ist ein Baum! Ein junger, gerader Baum mit Ästen und allem, was dazugehört. Ganz von selbst einen Meter vor die hintere Mauer gepflanzt. Also?«

»Also hat der Gärtner ihn gepflanzt.«

»Der Gärtner ist für zehn Tage in Ferien, und ich habe ihm auch keinen Auftrag gegeben. Es war nicht der Gärtner.«

»Das ist mir egal. Glaub ja nicht, dass ich mich wegen eines kleinen, geraden Baums vor der hinteren Mauer aufregen werde.«

»Willst du nicht wenigstens aufstehen und ihn dir ansehen? Wenigstens das?«

Pierre stand schwerfällig auf. Mit der Lektüre war es sowieso vorbei.

»Siehst du ihn?«

»Natürlich sehe ich ihn. Es ist ein Baum.«

»Gestern stand er noch nicht hier.«

»Vielleicht.«

»Ganz sicher. Was sollen wir tun? Hast du eine Idee?«

»Warum eine Idee?«

»Dieser Baum macht mir Angst.«

Pierre lachte. Er deutete sogar eine zärtliche Geste an. Aber nur flüchtig.

»Es stimmt, Pierre. Er macht mir Angst.«

»Mir nicht«, sagte er und setzte sich wieder. »Ich finde den Besuch dieses Baums eher sympathisch. Man sollte ihn in Ruhe lassen, und Schluss damit. Und du solltest mich damit in Ruhe lassen. Wenn sich jemand im Garten geirrt hat, hat er halt Pech gehabt.«

»Aber er ist nachts gepflanzt worden, Pierre!«

»Umso wahrscheinlicher, dass sich jemand im Garten geirrt hat. Oder es ist ein Geschenk. Hast du das schon in Erwägung gezogen? Einer deiner Bewunderer wollte dich diskret zu deinem fünfzigsten Geburtstag ehren. Bewunderer  neigen zu derlei Skurrilitäten, vor allem die hartnäckigen mausartigen Bewunderer, die nicht erkannt sein wollen. Geh und sieh nach, ob vielleicht eine Nachricht dranhängt.«

Sophia dachte nach. Die Idee war nicht ganz abwegig. Pierre hatte die Bewunderer in zwei große Kategorien unterteilt. Es gab die mausartigen Bewunderer: Sie waren ängstlich, hektisch, stumm und nicht zu vertreiben. Pierre hatte einmal eine Maus erlebt, die im Laufe eines Winters einen kompletten Reisbeutel in einen Gummistiefel befördert hatte. Korn für Korn. Auf die gleiche Weise gingen auch die mausartigen Bewunderer vor. Und es gab die rhinozerosartigen Bewunderer, in ihrer Art ebenfalls furchtbar: lärmig, brüllend und sehr von sich überzeugt. Innerhalb dieser beiden Kategorien hatte Pierre einen Haufen von Unterkategorien aufgestellt. Sophia erinnerte sich nicht mehr genau. Pierre verachtete die Bewunderer, die es vor ihm gegeben hatte, und jene, die nach ihm gekommen waren, mit anderen Worten: alle. Mit dem Baum konnte er aber recht haben. Vielleicht, aber nicht sicher. Sie hörte Pierre, wie er »Auf Wiedersehen – bis heute Abend – mach dir keine Sorgen« sagte, und blieb allein zurück.

Mit dem Baum.

Sie ging zu ihm hin, um ihn sich anzusehen. Aber vorsichtig, als ob er explodieren könnte.

Natürlich hing keine Nachricht dran. Am Fuß des jungen Baums war eine runde Fläche frisch umgegrabener Erde. Was war das eigentlich für ein Baum? Sophia umkreiste ihn mehrmals schmollend und mit feindseligem Blick. Sie tendierte zu einer Buche. Sie tendierte auch dazu, ihn wieder brutal herauszureißen, aber sie war ein bisschen abergläubisch und wagte es nicht, sich an einem lebenden Wesen zu vergreifen, und sei es eine Pflanze. Tatsächlich reißen nur wenige Menschen gerne einen Baum aus, der ihnen nichts getan hat.

Sie brauchte lange, bis sie ein Buch zu diesem Thema gefunden hatte. Neben der Oper, der Beschäftigung mit dem Leben der Esel und den Mythen hatte Sophia nicht die Zeit gehabt, viel zu lernen. Eine Buche? Schwer zu sagen ohne Blätter. Sie durchsuchte das Stichwortverzeichnis des Buches, um zu sehen, ob ein Baum vielleicht Sophia irgendwas hieß. Als eine versteckte Ehrung, genau auf der Linie eines verkrampften mausartigen Bewunderers. Das wäre beruhigend. Nein, es gab nichts über Sophia. Oder eine Art Stelyos irgendwas? Das wäre alles andere als angenehm. Stelyos hatte nichts Mausartiges, auch nichts Rhinozerosartiges. Und er verehrte Bäume. Nachdem Pierre sein Gebirge von Schwüren auf den steinernen Rängen von Orange errichtet hatte, hatte Sophia sich gefragt, auf welche Weise sie Stelyos verlassen sollte, und sie hatte weniger gut gesungen als sonst. Und diesem verrückten Griechen war nichts Besseres eingefallen, als kurzerhand ins Wasser zu gehen. Man hatte ihn, keuchend auf dem Wasser treibend wie ein Idiot, wieder aus dem Mittelmeer gezogen. Als Jugendliche hatten Sophia und Stelyos es geliebt, mit Eseln, Ziegen und all dem Kram Delphi zu verlassen und die Pfade entlangzuziehen. Sie nannten das »die alten Griechen spielen«. Und dieser Idiot wollte sich ertränken. Zum Glück gab es das Gebirge von Pierres Gefühlen. Heute kam es bisweilen vor, dass Sophia unwillkürlich ein paar vereinzelte Brocken davon suchte. Stelyos? Eine Drohung? Würde Stelyos so etwas tun? Ja, dazu wäre er fähig. Das Mittelmeer hatte wie ein Peitschenhieb auf ihn gewirkt. Als er wieder an Land war, hatte er wie ein Verrückter herumgeschrien. Sophias Herz schlug zu schnell, sie musste sich anstrengen, um aufzustehen, ein Glas Wasser zu trinken, einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

Dieser Blick beruhigte sie sofort. Was war nur in sie gefahren? Sie holte tief Luft. Ihre Manie, die sie manchmal überkam, sich aus einem Nichts heraus eine Welt logisch aufeinanderfolgender Schrecken aufzubauen, war belastend. Es war – sie war fast sicher – eine Buche, eine junge Buche ohne jede Bedeutung. Aber wo war der Pflanzer letzte Nacht mit dieser verdammten Buche hergekommen? Sophia zog sich rasch an, verließ das Haus, prüfte das Schloss am Gittertor. Nichts zu bemerken. Allerdings war es ein so einfaches Schloss, dass man es mit einem Schraubenzieher sicherlich in null Komma nichts öffnen konnte, ohne Spuren zu hinterlassen.

Frühlingsanfang. Es war feucht, und sie begann zu frieren, während sie dort stand und misstrauisch der Buche die Stirn bot. Eine Buche. Ein Wesen? Sophia schob diesen Gedanken beiseite. Sie hasste es, wenn ihre griechische Seele mit ihr durchging, und dann gleich zweimal an einem Morgen. Und Pierre würde sich nie für den Baum interessieren. Warum auch? War es normal, dass er derart gleichgültig war?

Sophia hatte keine Lust, den ganzen Tag mit dem Baum allein zu bleiben. Sie nahm ihre Handtasche und verließ das Haus. Auf der schmalen Straße stand ein junger Typ, Anfang dreißig oder älter, und spähte durch den Zaun des Nachbarhauses. »Haus« war ein vornehmes Wort. Pierre sagte immer »die Bruchbude«. Er fand, dass diese Bruchbude, in der seit Jahren niemand mehr wohnte, in ihrer vornehmen Straße mit den gepflegten Häusern einen schmuddeligen Eindruck machte. Bis zu diesem Moment hatte Sophia nie daran gedacht, Pierre könne mit zunehmendem Alter vielleicht zum Kretin werden. Diese Vorstellung setzte sich jetzt in ihr fest. Die erste unselige Wirkung des Baums, dachte sie böswillig. Pierre hatte sogar die Mauer zwischen den Grundstücken höher machen lassen, um sich vor der Bruchbude zu schützen. Jetzt konnte man sie nur noch von den Fenstern des zweiten Stocks aus sehen. Der junge Typ schien die Fassade mit den kaputten Fenstern eher zu bewundern. Er war schlank, hatte schwarze Haare und war schwarz gekleidet, eine Hand starrte vor breiten Silberringen. Er hatte ein eckiges Gesicht, das er zwischen zwei Stäbe des rostigen Zauns klemmte.

Exakt die Sorte Mensch, die...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2023
Reihe/Serie Kommissar Kehlweiler und die Evangelisten ermitteln
Kommissar Kehlweiler und die Evangelisten ermitteln
Übersetzer Tobias Scheffel
Sprache deutsch
Original-Titel Debout les morts
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2023 • Adamsberg • Deutscher Krimipreis • eBooks • Ermittlung • Europäischer Krimipreis • Evangelisten • Frankreich • frankreich-krimi • Historiker • Kommissar • Kommissar Kehlweiler • Krimi • Kriminalromane • Krimi-Reihe • Krimis • Mord • Neuausgabe • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Paris • paris krimi • Spiegel Bestsellerautorin • Thriller • Verschwinden
ISBN-10 3-641-28948-3 / 3641289483
ISBN-13 978-3-641-28948-5 / 9783641289485
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