Im Ballhaus brennt noch Licht (eBook)

Roman
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2023 | 1. Auflage
480 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-26507-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Im Ballhaus brennt noch Licht -  Stephanie Jana
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Berlin Anfang des 20. Jahrhunderts: Die junge, aus einfachen Verhältnissen stammende Lulu Schneider träumt davon, Tänzerin zu werden. Als sie eines Tages sehnsüchtig durch die Fenster des nahe gelegenen Ballhauses Sternberg das glamouröse Treiben beobachtet, lernt sie David kennen, den Sohn des jüdischen Besitzers. Mit viel Fleiß und der Unterstützung der Sternbergs, die ihr Talent erkennen, steigt Lulu in den rauschenden Goldenen Zwanzigern zur Startänzerin auf. Doch dann kippen die politischen Verhältnisse im Land, und bald sind das Ballhaus und alle, die Lulu liebt, in großer Gefahr ...

Stephanie Jana ist selbstständige Autorin und Lektorin. Sie lebt mit ihrer Familie in Gießen und Frankfurt am Main.

1


Freitag, 21. November 1913


Die Kirchturmuhr schlug fünfmal. Sie musste los. Voller Vorfreude schlich sich die zwölfjährige Lulu auf Zehenspitzen in den Flur. Leise schlüpfte sie in ihren grauen Wollmantel und die Fellstiefel. Dann wickelte sie sich den dicken Schal um den Hals und zog ihre Mütze auf den Kopf, sodass nur noch ihre weißblonden, geflochtenen Zöpfe wie kleine Schlangen hervorlugten. Sie war unglaublich aufgeregt, schnappte sich die warmen Fäustlinge und prüfte, ob sie ihren Schlüssel umhängen hatte. Schnell raus hier.

Es war Ende November und bereits so kalt und stürmisch wie im tiefsten Winter. Ihre Mutter Claire prophezeite gar für morgen den ersten Schnee, man könnte ihn bereits riechen. Lulu spähte durch die offene Tür ins Wohnzimmer, um sich von ihr zu verabschieden. Sie lag schlafend auf der Chaiselongue aus rotem Samt. Obwohl es erst Spätnachmittag war, hatte Mutter bereits zwei Flaschen Wein geleert. Lulu bemerkte es sofort, weil sie neben ihr auf dem kleinen Casa Padrino-Tisch standen. Der Anblick versetzte dem Mädchen einen Stich, doch sie wusste einfach nicht, was sie deswegen unternehmen sollte. Wahrscheinlich war sowieso ihr Vater schuld. Wenn sie an den dachte, zog sich ihr Magen zusammen, und etwas tief in ihr drin wurde schwarz und kalt.

Wenn ihre Eltern abends laut miteinander stritten, lag Lulu oft schlaflos nebenan in ihrem Bett. Streng genommen brüllte und polterte hauptsächlich ihr Vater Ernst wie ein Haudegen herum – »eine echte Kanaille«, schimpfte Mutter gerne. Lulu verstand das Wort zwar nicht, begriff allerdings, dass es nichts Gutes bedeutete.

Auch gestern hatte sie sich voller Unbehagen unter der Decke versteckt und sich an ihre Puppe geklammert. Ihre Zähne hatten geklappert, so zitterte sie. Um sich abzulenken, schloss Lulu dann immer die Augen, ganz fest, und stellte sich vor, sie wäre an einem anderen Ort. Wenn sie sich lange genug auf die Dunkelheit konzentrierte, das wusste sie schon, bekam sie irgendwann nichts mehr von ihren Eltern mit, und andere Bilder erschienen vor ihrem inneren Auge. Die waren bunt, hell und freundlich. Manchmal erschien ein Zirkus oder ein Theater. Oder sie war plötzlich am Meer, auf einem Schiff oder am Strand. Gerne träumte sie auch davon, sie könnte fliegen. Dann schwang sie in ihrer Fantasie die Arme wie ein wilder Vogel seine Flügel und besuchte alle Orte, die sie unbedingt sehen wollte. Oder sie flog mitten durch riesige weiße Wolkenberge in den azurblauen Himmel. Wie hoch sie wohl käme? Und wie weit geht der Himmel überhaupt? Wann hört er auf und fängt das Universum, wo Mond und Sterne wohnen, an? Solche Fragen kamen ihr dann in den Sinn.

Niemand konnte jedoch Vaters Tobsuchtsanfälle verhindern. Meist wehrte sich Mutter nur am Anfang und wurde immer leiser, je lauter er wurde. Doch es nützte auch nichts, dass sie mit der Zeit verstummte. Wenn keiner auf ihn reagierte, brachte ihn das noch mehr aus der Fassung. Seitdem er letztes Jahr bei der Reichsversicherungsanstalt untergekommen war, war es schlimmer mit ihm geworden. Die neue Arbeit machte Vater scheinbar noch unzufriedener, obwohl er mehr verdiente. Man wusste nie, wie er abends gelaunt sein würde, wenn er wieder auftauchte. Oft schlug seine Stimmung auch von einer auf die andere Sekunde ins Gegenteil um, obwohl Lulu fand, dass Mutter und sie wirklich nichts falsch gemacht hatten. Vielleicht war er unglücklicher, als sie dachte. Wie Mutter auch. Das erkannte Lulu wenigstens in ihren Augen.

Am besten war es jedenfalls, wenn Vater nach Feierabend direkt in der Kneipe verschwand und erst heimkam, wenn sie schon schlief. Sie hoffte inständig, das würde heute auch so sein.

Ihre Mutter gab einen kleinen Schnarcher von sich, das holte Lulu wieder in den Augenblick zurück. Sie sollte aufhören, sich Sorgen um ihre Eltern zu machen. Außerdem war sie viel zu spät dran. So geräuschlos wie möglich schloss sie die Tür zum Wohnzimmer und trat auf leisen Sohlen in den Hausflur. Ein mächtiges Glücksgefühl durchströmte ihren Bauch. Gleich würde sie frei sein! Sie rannte die Treppen vom dritten Stock ihrer Wohnung bis ins Erdgeschoss hinunter, nahm die letzten Stufen in einem Sprung auf einmal und stürmte voller Vorfreude hinaus. Ein eisiger Wind schlug ihr draußen ins Gesicht. Stockdunkel war es, als wäre es bereits Nacht, und die Laternen beleuchteten die Auguststraße in warmem Orange. Ein Hund kläffte im Nachbarhof. Im Haus schräg gegenüber bekam der Sohn der Familie Klavierunterricht, konnte Lulu durch das riesige Erdgeschossfenster erkennen.

Sie schaute prüfend nach oben. Vielleicht würde es wirklich bald schneien. Auch wenn ihre Mutter kaum noch das Haus verließ, spürte sie so etwas immer genau. Es war, als hätte sie feinere Sinne für manche Schwingungen des Lebens. Mehr als andere Menschen. Oder auch dunkle Vorahnungen, die sich dann bestätigten. Als ihre Tante zum Beispiel plötzlich durch einen Unfall starb, hatte Claire dies in der Nacht vorher geträumt. Oder sie sagte Sätze wie »Es ist Vollmond, danach ändert sich das Wetter« oder »Streichle nie eine schwarze Katze, das bringt Unglück«. Ein bisschen war das wie bei der russischen Seherin Darja mit den roten Haaren und grünen Augen, die jeden Tag vor der Synagoge anzutreffen war und Passanten ihre Dienste anbot. Auch Lulu las sie ab und zu aus der Hand, weil das Mädchen ihr manchmal ein Stück Brot vorbeibrachte. Das letzte Mal hatte sie die Linien begutachtet, ihre Hand gedrückt und mit bedeutungsschwangerer Stimme gesagt: »Meine Kleine, moja Malen’kaja, du wirrrst mal eine große Känigin werden.«

Lulus Atem bildete kleine Wölkchen in der ungemütlichen Kälte. Schnell zog sie ihre Fäustlinge über die Hände und den Schal höher über ihr Gesicht. Auch wenn sie die Augen etwas zusammenkniff, half das nichts. Die Kälte überfiel sie schonungslos und durchflutete jede Pore ihres zierlichen Körpers. Trotzdem blieb Lulu vergnügt, denn nun konnte das Abenteuer beginnen, auf das sie sich unbändig freute.

Den Weg rannte sie. Das neue Ballhaus in der Auguststraße 24 befand sich nur ein paar Häuser von ihnen entfernt und hatte vor zwei Monaten seine Pforten geöffnet. Sternbergs Ballhaus nannte es sich, nach seinem Besitzer Levi Sternberg. Das war ein in der Stadt angesehener Mann, sagte ihre Mutter. Diese kannte ihn von früher, weil sie als junge Frau einige Zeit in seinem Elternhaus als Dienstmädchen beschäftigt gewesen war, hatte Lulu erfahren.

Als Hauswart Kurt bei ihnen Ende August das Treppengeländer gestrichen hatte, absichtlich langsam, um nichts im Haus zu verpassen und mit der schrulligen Tante Frieda zu plaudern, die bei ihnen im Erdgeschoss lebte, hatte Lulu im Hausflur Wortfetzen wie »neues Ballhaus« und »Tanzen« aufgeschnappt. Neugierig war sie oben auf der Treppe stehen geblieben. So bekam sie mit, dass der jüdische Kaufmann und Kunstförderer Levi Sternberg in ein paar Tagen ein echtes Ballhaus in der Nummer 24 eröffnen würde. Man munkelte, dass er zusätzlich zu den Tanzabenden ein kleines Showprogramm plante, was ihn von anderen Ballhäusern abheben und ein wenig »Varieté« in das Viertel bringen würde.

Was für eine Nachricht!

Lulu erinnerte sich daran, wie sie schließlich am Eröffnungstag im September, als der Spätsommer in Berlin schon die ersten herbstlichen Anzeichen gezeigt hatte, zu Sternbergs Ballhaus gelaufen war. Wie konnte sie einen Blick hinein erhaschen, ohne aufzufallen? Sicher war Kindern der Zutritt nicht gestattet. Sie ging suchend im Hof, vor dem hohen Gebäude und wieder auf der Straße herum. Aber hier war nichts zu machen. Also versuchte sie, eine andere Möglichkeit zu finden. In diesem Moment trat jemand aus dem rechten Nachbarhaus, und ihr kam eine Idee. Als die Luft rein war, öffnete sie schnell die Eingangstür der Nummer 23 und folgte der Zufahrt Richtung Innenhof. Sie wusste, hier hinten gab es auch eine Wäscherei, und man sah von hier aus die Rückseite des Ballhauses. Vielleicht, ja vielleicht gab es irgendeinen kleinen Weg nach nebenan. Gegenüber erkannte sie die Remise mit dem blauen Tor, wo allerlei Krimskrams und Geräte abgestellt waren. Sie schlich sich auf leisen Sohlen daran vorbei, schaute nach, ob in der alten Scheune daneben eine Öffnung zur anderen Seite zu finden war, und passte auf, dass sie keiner entdeckte. Im Innenhof war zum Glück niemand. Nur eine Katze schreckte Lulu auf, die laut miauend von einer Kiste sprang und abhaute. Stockdunkel war es hier überall, aber sie verspürte keinerlei Angst. Ohne groß zu überlegen, drückte sie die Klinke der Tür des Vorbaus neben der Scheune hinunter. Sie war unverschlossen! Lulu ging hinein und wagte sich weiter vor. Hier war offensichtlich ein Lagerplatz für Nahrungsmittel, Wein, Kerzen und andere Dinge wie Geschirr und Besteck, die zu einem Ballhaus passen könnten. Das war gut. Sie war auf der richtigen Fährte. Das Herz klopfte Lulu bis zum Hals, als sich auch die nächste Tür am Ende des Raums problemlos öffnen ließ. Sie lugte mit dem Kopf vorneweg, was sich wohl dahinter verbarg, und staunte nicht schlecht: Vor ihr lag tatsächlich die hintere Seite des Ballhauses mit einer Art Terrasse und einem kleinen Wintergarten, der zum Tanzsaal führte. Sie hatte es geschafft! Lulu betrat atemlos den Kiesboden, der unter jedem ihrer Schritte knirschte, und versteckte sich schnell in einer Ecke hinter einem Lorbeerbusch. Dort hatte sie eine gute Sicht durch die hohen Glastüren ins Innere. Was sie in diesem Augenblick zum ersten Mal gesehen hatte, würde sie niemals wieder vergessen: Schick gekleidete Menschen, die zu wundervollen Klängen der Kapelle tanzten, tanzten, tanzten. Alle waren...

Erscheint lt. Verlag 20.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 2023 • Berlin • Berlin-Roman • Charlotte Roth • eBooks • Frauenromane • Frauenunterhaltung • Goldene Zwanziger • Goldmann • Heidi Rehn • Historische Liebesromane • Historische Romane • Judentum • Judenverfolgung • Liebesroman • Liebesromane • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Roaring Twenties • Romane für Frauen • Zwanziger Jahre
ISBN-10 3-641-26507-X / 364126507X
ISBN-13 978-3-641-26507-6 / 9783641265076
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